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Sophie

Bewertungen

Insgesamt 169 Bewertungen
Bewertung vom 13.02.2022
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


ausgezeichnet

Eine epische Odyssee der Moderne

Hanya Yanagiharas monumentaler Amerika-Roman „Zum Paradies“ ist ein Buch, das seinesgleichen sucht. Auf 900 Seiten werden drei Jahrhunderte amerikanischer (teils fiktiver) Geschichte erzählt und die Schicksale von Menschen ausgebreitet, die alle nur nach einem suchen: ihrem persönlichen Paradies.

Das wohl hervorstechendste Merkmal von „Zum Paradies“ ist seine Dreiteilung. Der fast 900 Seiten schwere Roman besteht im Grunde aus drei separaten Romanen, die nur lose miteinander zusammenhängen. Gemein ist ihnen der Schauplatz (ein Haus am Washington Square, New York), Familiennamen und ein scheinbar zufällig verteiltes immer wieder verwendetes Namens-Repertoire. Die Geschichte eines jungen Mannes, der in einem alternativen Amerika des 19. Jahrhunderts eine arrangierte Ehe mit einem älteren Mann eingehen soll; die Geschichte eines jungen Mannes, der während der AIDS-Epidemie im 20. Jahrhundert versucht, sein hawaiianisches Erbe mit seiner Beziehung zu einem älteren, reichen weißen Mann unter einen Hut zu bringen; die Geschichte einer jungen Frau am Ende des 21. Jahrhunderts, die in einem von Pandemien geschüttelten totalitären Staat lebt und eine arrangierte Ehe führt. All diese Geschichten werden von wenigen zentralen Themen zusammengehalten: Selbstbestimmung und Freiheit, Krankheit, Homosexualität und (kulturelle) Identität.

Yanagiharas Figuren sind so lebendig, dass sie förmlich aus den Buchseiten zu steigen scheinen. Mit einer atemberaubenden Sprachgewalt erzählt sie Profanes und Essenzielles gleichermaßen. Ihre Charaktere sind zugleich dreidimensionale, runde Charaktere mit einem tiefen Seelenleben und Platzhalter für das allgemein menschliche Streben nach einem Sinn, der tiefen Sehnsucht nach etwas Unbestimmten, das sie alle „das Paradies“ nennen. In dieser Sehnsucht sind sie miteinander verbunden, und zugleich auch mit uns Lesenden, die wir diesen Wunsch nach Mehr und die Hilflosigkeit beim Erreichen dieses unbestimmten Ziels nur allzu gut nachvollziehen können.

Trotz ähnlicher Themenwahl fühlen sich die drei Teile des Romans auch unterschiedlichen Genres zugehörig, was die „Allgemeingültigkeit“ der menschlichen Existenz, wie sie hier dargestellt wird, weiter unterstreicht. Teil 1 erinnert an einen Jane-Austen-Roman unter umgekehrten Vorzeichen mit einer klassischen romantischen Heldin in Gestalt eines Mannes. Teil 2 ist in vielerlei Hinsicht eine Tragödie, ein Roman, der wenig Raum für Hoffnung lässt. Das Buch endet fulminant in einer waschechten Dystopie im dritten Teil, die vielleicht (auch aufgrund ihrer verhältnismäßig größeren Länge) den Höhepunkt des Buches darstellt.

„Zum Paradies“ ist sicher keine leichte Kost, zugleich aber ein Roman, der einen unwiderstehlichen Sog aufbaut, dem man sich nicht entziehen kann, der es schafft, seine Figuren zum Leben zu erwecken und uns Lesenden ganz nah zu bringen. Ein echtes Meisterwerk!

Bewertung vom 13.02.2022
Carrisi, Donato

Ich bin der Abgrund


sehr gut

Betroffen machend und extrem spannend

„Ich bin der Abgrund“ von Donato Carrisi ist ein Psycho-Thriller im wahrsten Sinne des Wortes: Im Vordergrund steht nicht nur eine geschundene Psyche, sondern mehrere. Sie alle reagieren unterschiedlich auf ihr Trauma. Die Spannung kommt bei diesem Psychogramm nie zu kurz, wenngleich der ein oder andere Zufall etwas unglaubwürdig daherkommt.

Der Müllmann, der namenlose Protagonist des Buchs (Namenlosigkeit herrscht im Buch übrigens prominent vor und verleiht ihm damit einen fast parabelhaften Anstrich), tötet Menschen. Aber nicht aus Lust, sondern aus einem Zwang heraus, der aus einem extremen Kindheitstrauma entstanden ist. Als er eines Tages mehr oder minder aus Versehen das Leben einer jungen Frau rettet, beginnt er eine Verbindung zu spüren, wie er sie zuvor nie erlebt hat. Diese Aktion weckt aber die Aufmerksamkeit der „Fliegenjägerin“, die sich auf seine Fersen heftet – eine Frau mit ihren ganz eigenen Dämonen, die sich der Ausrottung häuslicher Gewalt verschrieben hat. Eine spannende Jagd beginnt.

Das vorherrschende Thema im Buch ist Missbrauch – schonungslos wird geschildert, was jungen Menschen widerfährt und sie zu älteren, grausameren, resignierteren Menschen macht. Das macht diesen Thriller zu einem Buch, das nicht einfach auf billige Art schockieren und seinen Lesenden einen kalten Schauer über den Rücken jagen will, sondern betroffen machen, das Leid greifbar machen. „Ich bin der Abgrund“ präsentiert uns keine Monster, sondern vielschichtige, komplexe Charaktere mit echten Biographien, was ihm im Thriller-Genre eine gewisse Sonderstellung einräumt.

Diese Komplexität überträgt sich leider nicht immer auf den Handlungsablauf, der doch häufiger zu recht unglaubwürdigen Zufällen greift, um die Geschichte voranzutreiben. Das sorgt für so manches Stirnrunzeln, tut aber dem deutlich erkennbaren Spannungsbogen nur wenig Abbruch.

„Ich bin der Abgrund“ ist ein Psycho-Thriller, der den Menschen und seine Psyche an sich in den Vordergrund stellt, was ihm – trotz kleiner Schwächen auf Handlungsebene – meisterhaft gelingt.

Bewertung vom 29.01.2022
Geschke, Linus

Das Loft


sehr gut

Ein spannender, unter die Haut gehender Thriller mit enttäuschender Auflösung

An „Das Loft“, dem ersten für sich allein stehenden Thriller von Bestseller-Autor Linus Geschke, stimmt zunächst einmal eigentlich alles: Figuren, Atmosphäre und Erzählperspektiven vermischen sich zu einem dichten psychologischen Roman, der eine toxische Beziehung auf schonungslose Art seziert und eine spannende Mordermittlung in Gang setzt, bei der man niemandem trauen kann. Leider bleibt die Auflösung hinter den bis zum großen Finale aufgebauten Erwartungen etwas zurück.

„Das Loft“ schildert aus den Perspektiven eines jungen Paars, Sarah und Marc, und einer Mordkommissarin die Ermittlungen im Fall des Verschwindens von Henning, dem Mitbewohner der beiden. Schnell ist klar, dass er wohl einem Mord zum Opfer fiel, und beinahe ebenso schnell sind Sarah und Marc in den Fokus der Ermittlungen gerückt. Nach und nach wird aufgedeckt, was für eine Art Beziehung sie miteinander führten und wie sie zu Henning standen – es dauert nicht lange, bis sich Zweifel regen, wie aufrichtig die beiden sind und was sie in ihren jeweiligen Beziehungen zu Henning zu verbergen suchen.

Der Thriller ist eher langsam erzählt und geprägt von den vielen Rückblenden, die Episoden aus Sarahs und Marcs gemeinsamer Geschichte erzählen. Dabei schwebt immer die Vermutung über dem Geschehen, dass sie ein Geheimnis hüten, und der Wunsch, diesem Geheimnis auf die Schliche zu kommen, gepaart mit der Erwartung, dass es der Schlüssel zur Auflösung des Mordfalls ist, wird im Laufe des Romans nahezu übermächtig. Es wird eine bedrohliche Atmosphäre aufgebaut, die weniger durch Action, sondern eher durch psychologische Spannung besticht. Leider sorgt die Auflösung zum Schluss für einen jähen Abfall dieser Spannung – was sicher für einige Lesende eine Enttäuschung bedeuten wird. Andererseits wird es für viele als Überraschung kommen.

Linus Geschke ist mit „Das Loft“ trotz dieser leichten Schwächen im Plot ein psychologischer Thriller gelungen, der die Menschlichkeit seiner Figuren in den Vordergrund stellt und dabei sehr gründlich vorgeht. Das wahre Kunststück ist, dass dabei stets auch eine hohe Grundspannung vorhanden bleibt. Lesenswert!

Bewertung vom 12.01.2022
Persson Winter, Fredrik

Der Gräber


ausgezeichnet

Thriller trifft Horror – ein gelungener Genremix mit Gruselgarantie

„Der Gräber“ von Fredrik P. Winter ist eins dieser Bücher, das einen nach dem ersten Eindruck noch überraschen kann. Denn was anfängt wie ein typischer Serienkiller-Thriller, entwickelt sich bald zu einem langsam voranschreitenden psychologischen Spannungsroman mit deutlichen Horrorelementen, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Eine erfrischende Kombination!

Ein Serienmörder treibt ein besonders ausgeklügeltes Spiel in Göteborg: Jedes Jahr am 6. November tunnelt er sich durch den Keller einer wohlhabenden Person und verschleppt sie in den Untergrund. Seine Opfer werden nie gefunden, und die Polizei tappt seit Jahren im Dunkeln. Während Kommissarin Cecilia Wreede verzweifelt nach verwertbaren Spuren sucht, erhält Lektorin Annika Granlund ein geheimnisvolles Romanmanuskript, das die Morde aus der Sicht des Täters schildert – eines Täters, der behauptet, mysteriöse Erdwesen trieben ihn zu seinem Handeln. Was Annika zunächst als Fiktion abtut, scheint nach und nach in die Realität überzugehen, während ihr eigenes Leben immer mehr aus den Fugen gerät, als Hauskauf, Kinderwunsch und Existenzängste sie zu begraben drohen.

Über dem ganzen Roman schwebt stets die Frage: Was ist real? Können wir den Erzählstimmen wirklich trauen, insbesondere Annika? „Der Gräber“ ist kein klassischer „Whodunit“, bei dem das Aufdecken der Identität des Täters am Ende steht, vielmehr geht es darum, wie und warum der Täter handelt, wie er handelt. Und wir Lesenden wissen stets mehr als die Protagonistinnen. Das schürt ein Gefühl ängstlicher Ohnmacht, den Wunsch, ihnen zuzurufen, wie es wirklich sein muss – und sorgt für echte Gänsehautmomente beim Lesen. Das eher langsame Erzähltempo trägt sein Übriges dazu bei, eine bedrohliche Grundstimmung zu inszenieren, statt auf den schnellen Thrill zu setzen. So erstreckt sich die Romanhandlung mit einigen Zeitsprüngen über ein Jahr hinweg und schafft es somit, etwas Größeres als nur einen Mordfall und seine Auflösung zu inszenieren.

Ohne Effekthascherei und ermüdende Action-Sequenzen ist Fredrik P. Winter hier ein Thriller gelungen, der gekonnt Elemente von (Psycho-)Thriller, Kriminalroman und Horror zu einem schauerlichen Ganzen verwebt, das nicht nur mit einer originellen Prämisse aufwartet, sondern auch mit einigen bewusst gesetzten Leerstellen zu eigener Interpretation einlädt.

Bewertung vom 12.01.2022
Frennstedt, Tina

Das gebrannte Kind / Cold Case Bd.3


gut

Ein solider Skandi-Krimi, aber nicht der beste aus der Reihe

Der dritte Band der Cold-Case-Reihe um Kommissarin Tess Hjalmarsson dreht sich um ein Reihe von Brandstiftungen, die auffällige Parallelen mit einem alten, nie gelösten Fall aufweisen, der Tess auch persönlich stark berührt hat. Autorin Tina Frennstedt baut routiniert einen spannenden Kriminalfall auf, der jedoch in seiner Komplexität etwas hinter den Vorgängerbänden zurückbleibt.

Typisch für die Cold-Case-Reihe ist die Verbindung alter mit aktuellen Kriminalfällen, so auch in diesem Band. Zugleich hat Tess hier aber noch mit einer Reihe anderer Schwierigkeiten zu kämpfen: dem eifersüchtigen Ex ihrer Lebensgefährtin und einem weiteren alten Fall, der internationale Aufmerksamkeit auf sie zu lenken droht. Zudem ist sie bei den Ermittlungen persönlich stärker involviert, als gut für sie ist. Diese Vielzahl an Baustellen sorgt dafür, dass „Das gebrannte Kind“ weniger in die Tiefe geht als die anderen Bände der Reihe. Der Hauptverdächtige ist schnell ausgemacht, und ab diesem Punkt ist es nur noch eine Jagd auf Mister X, was der Handlung etwas den Wind aus den Segeln nimmt.

Trotz dieser leichten Schwächen ist „Das gebrannte Kind“ ein solider Kriminalroman, der wie gewohnt das persönliche Leben der Figuren und das gesellschaftliche Geschehen um sie herum geschickt einbindet, ohne dabei zu weit von der eigentlichen Handlung abzuweichen. Mit Tess Hjalmarsson hat Tina Frennstedt eine sympathische und interessante Ermittlerin erschaffen, die im Laufe der Reihe immer mehr an Tiefe gewinnt. Die Andeutungen auf ihren nächsten Fall, die das Buch reichlich enthält, versprechen deutlich mehr Action und Brisanz und machen neugierig auf die Fortsetzung.

Ein Muss für alle Fans von Tess Hjalmarsson, auch wenn der Band nicht ganz so stark ist wie seine Vorgänger. Ebenfalls geeignet für Neueinsteiger in die Reihe.

Bewertung vom 07.01.2022
Hayashida, Q

Dorohedoro Bd. 1


ausgezeichnet

Ein skurriles Meisterwerk voll Humor, Action, Phantasie und einer guten Prise Horror

Der erste Band der Sammelausgabe von „Dorohedoro“, dem Kult-Manga von Q-Hayashida, entführt in eine bizarre Welt, in der Magier Menschen für grausame Experimente missbrauchen, welche sie mutieren lassen. In diesem sogenannten Loch, das durch Portale von der Magierwelt getrennt ist, lebt Caiman, der sympathische Antiheld der Geschichte.

Caiman ist selbst ein Opfer missglückter Magie, trägt seinen Echsenkopf jedoch mit Fassung. Er ist auf der Suche nach dem, der ihm das angetan hat, und trägt so einige Rätsel (wortwörtlich) in sich, die nach Aufklärung schreien. Begleitet wird er von der schlagfertigen Nikaido, die ihn mit Essen und liebevoll-grober Unterstützung versorgt. Meist sind die Begegnungen mit der Magierwelt blutig, aber Caiman ist immun gegen Magie und sieht eine Chance, zu seinem alten Selbst zurückzukehren. Das macht auch die Magier etwas nervös, die hektisch versuchen, ihm auf die Schliche zu kommen und gleichzeitig auch mit ganz persönlichen Problemen zu kämpfen haben.

Die Welt von „Dorohedoro“ ist so schrill und skurril, dass es schwerfällt, die passenden Worte dafür zu finden. Gewalt steht an der Tagesordnung, jedoch bewahren die Protagonisten stets einen kühlen Kopf, haben immer einen frechen Spruch auf den Lippen, und auch die Gegenseite in Gestalt der leicht desillusionierten Magier kann durchaus Sympathiepunkte sammeln. Dieser Manga ist wild und bizarr, lustig und schockierend zugleich, und vor allem eines: originell! Von der Story bis zum World-Building, von den Charakteren bis zu den Zeichnungen ist „Dorohedoro“ eine einzige kreative Achterbahnfahrt, die keine Sekunde langweilig wird, immer wieder überrascht und eine vollkommen unverwechselbare Unterschrift trägt.

Der Auftakt einer großartigen Reihe, wie es sie sicher kein zweites Mal gibt. Unbedingte Leseempfehlung!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2022
Oku, Hiroya;Müller, Jan-Christoph

GANTZ:E Bd.1


gut

Blutige und ästhetische Action ohne viel Handlung

Der erste Band der Manga-Reihe „GANTZ:E“ von Autor Hiroya Oku und Zeichner Jin Kagetsu besticht vor allem durch seine detaillierten Zeichnungen und die liebevolle Darstellung der Edo-Zeit in der der Manga spielt. Die Handlung bleibt dabei leider zunächst oberflächlich und relativ simpel.

Was in Band 1 passiert, ist schnell zusammengefasst: Zwei junge Männer ertrinken im Kampf in einem Fluss und geraten in eine Zwischenwelt, wo sie von einer mysteriösen schwarzen Kugel und einer Reihe irritierter Menschen erwartet werden, die ebenfalls nicht so genau wissen, wie sie hierhergekommen sind. Schnell stellt sich heraus, dass sie alle um ihr Leben kämpfen müssen … und das tun sie dann auch.

Nahezu die gesamte zweite Hälfte des Bandes widmet sich bildgewaltiger, oft großformatiger Kampfszenen gegen unheimliche Wesen, die in atemberaubender Ästhetik ausgeführt werden. Für Fans von Action und düsterer Ästhetik ist der Manga also ein echter Augenschmaus, wer sich darüber hinaus aber auch noch eine einfallsreiche Story wünscht, bleibt (zumindest nach Band 1) etwas ratlos zurück. Die Motivation der Charaktere bleibt meist undurchsichtig, die Handlung entwickelt sich teils sprunghaft und ohne rechte Logik. Dieser Manga lässt sich also eher als Kunst- denn als Literaturprodukt genießen, was ein wenig schade ist, denn die Prämisse hätte durchaus das Potenzial für eine vielschichtigere Handlung gehabt.

„GANTZ:E“ ist also hauptsächlich ein Manga für Menschen, die sich für ausdrucksstarke Bilder begeistern können und der Story weniger Gewicht beimessen. In dieser Hinsicht ist er jedoch wirklich eindrucksvoll und lohnenswert.

Bewertung vom 07.01.2022
Rodham Clinton, Hillary;Penny, Louise

State of Terror


gut

Spannende Insider-Einblicke mit einer gehörigen Portion Selbstinszenierung

„State of Terror“ von Hillary Rodham Clinton und Louise Penny zieht sicher zunächst aufgrund des prominenten Autorinnennamens die Aufmerksamkeit auf sich. Und das macht der Roman sich auch deutlich zunutze. Denn neben spannenden Einblicken in Bereiche, die Normalsterbliche sicher sonst nicht zu Gesicht bekommen, wird ein guter Teil des Buchs anscheinend von Hillary Clintons Ego dominiert.

Die Prämisse des Buchs ist denkbar amerikanisch, denn es geht um nichts Geringeres als die Rettung der Welt vor Terroristen aus dem mittleren Osten. Im Zentrum steht dabei die amerikanische Außenministerin, eine toughe Frau, die keinen leichten Stand in einer Regierung hat, die das Chaos der Vorgängerregierung zunächst aufräumen muss. In dieser Hinsicht nimmt der Roman kein Blatt vor den Mund und rechnet auf erfrischend offene Art (kaum verfremdet) mit den aktuellen und gerade abgetretenen politischen Größen der Weltpolitik ab. Das Umfeld, das das Autorinnen-Duo kreiert, ist somit ein authentisches und ausgesprochen interessantes. In diesen Insider-Einblicken und der Beschreibung der politischen Weltbühne liegt die große Stärke des Romans.

Die Handlung kann dabei leider nicht ganz mithalten: Spannung, Intrigen und auch Action sind zwar reichlich vorhanden, vermischen sich aber zu einem irgendwie unoriginellen Einheitsbrei, wie man ihn aus vielen Hollywood-Produktionen bereits kennt. Ein steter Wettlauf gegen die Zeit, der Kampf gegen Terroristen und Verräter in den eigenen Reihen – und zu allem Überfluss ist die Familie der Außenministerin natürlich auch noch persönlich involviert. All das macht es schwierig, wirklich mit der Handlung und den eher blassen Charakteren mitzufiebern, und so bleibt vom Buch am meisten hängen, was es über politische Winkelzüge, internationale Beziehungen und innenpolitische Schwierigkeiten aussagt – denn das findet einen deutlichen Widerhall in der realen Welt.

Alles in allem ist „State of Terror“ ein Buch, das interessante Einblicke in ein sehr restriktives Milieu bietet, auf der Handlungsebene aber nicht so ganz zu überzeugen vermag. Für Fans von Polit-Thrillern und Hollywood-Kino kann es jedoch trotzdem ein unterhaltsames Leseerlebnis bieten.

Bewertung vom 07.01.2022
Billingham, Mark

Was dich nicht umbringt


ausgezeichnet

Ein richtig guter Ermittlerkrimi!

Mark Billingham ist mittlerweile synonym mit dem britischen Polizeiermittler-Krimi. Auch mit dem Vorgängerband zu seiner erfolgreichen Reihe um Detective Tom Thorne, „Was dich nicht umbringt“, trifft er voll ins Schwarze und stellt einmal mehr unter Beweis, dass ein guter Krimi weder besonders brutal noch actiongeladen sein muss.

Es ist das Jahr 1996, und somit ein fast historisches Setting – das Ermitteln ohne Smartphones und Social Media ist uns modernen Lesenden ja schon ganz fremd geworden. Es gelingt Mark Billingham jedoch meisterhaft, diese Periode authentisch zurückzuholen und mit Leben zu füllen. Ein Junge wird am hellichten Tag auf einem Spielplatz entführt. Weder sein Freund noch die Mütter der beiden haben etwas gesehen, und Tom Thorne macht sich auf die Suche nach dem verschwundenen Kind – und dem Täter. Denn als zwei mit dem Fall in Verbindung stehende Menschen ermordet aufgefunden werden, ist sonnenklar, dass die Lage ernst ist. Ins Fadenkreuz der Ermittlungen rückt sofort die Familie und das direkte Umfeld des Jungen, und dort schlummert so einiges im Verborgenen …

Tom Thorne kämpft in „Was dich nicht umbringt“ nicht nur gegen die Zeit, sondern auch gegen die Schuldgefühle, die ihn seit einem früheren Fall plagen, und den Spott, den seine Kollegen ihm wegen seiner Vergangenheit entgegenbringen. Er ist nicht unbedingt ein sympathischer Protagonist, aber definitiv ein vielschichtiger. Sein mitfühlender Umgang mit den Angehörigen überrascht positiv, wobei er sonst nicht der sentimentale Typ ist. Immer wieder zweifelt er an seinem eigenen Ermittlungsgeschick, was ihn zutiefst menschlich macht.

Mit einer guten Mischung aus Intuition, Fleißarbeit und Verhören nähert sich Tom nach und nach des Rätsels Lösung. Mark Billingham lässt uns viel Freiraum zum Rätseln und Mitermitteln. Gekonnt streut er Hinweise und häppchenweises Wissen ein, das immer wieder davon fort, ultimativ aber geradewegs auf die Auflösung hinführt und am Ende noch ein bisschen überraschen kann. Genau so, wie man sich das von einem richtig guten Krimi wünscht! Perfekt für Fans von Tom Thorne und alle, die es noch werden wollen.

Bewertung vom 08.12.2021
Gesthuysen, Anne

Wir sind schließlich wer


gut

Unterhaltsam, aber mit weniger Tiefgang als erwartet

„Wir sind schließlich wer“ von Anne Gesthuysen brilliert mit einer überaus ungewöhnlichen und dadurch hochinteressanten Protagonistin: Anna von Betteray entstammt einer katholischen Adelsfamilie, hat sich aber für eine Laufbahn als evangelische Pfarrerin entschieden und mischt nun das kleine Dörfchen Alpen auf, in dem das Wort „Privatleben“ ein Fremdwort zu sein scheint. Was zunächst wie eine klassische Familienkomödie klingt, bekommt bald ernstere Züge, ist darin aber nicht konsequent und bleibt dadurch eher mittelmäßig.

Anna hat keine leichte Stellung an ihrem neuen Arbeitsplatz, denn im Dorf zerreißt man sich das Maul über sie und hätte lieber den alten Herrn Pfarrer zurück. Auch ihre Familie lässt sie gehörig spüren, dass sie die Erwartungen (einen Adligen heiraten und die Füße stillhalten) nicht erfüllt. Und dann ist da noch ein dunkles Trauma in Annas Vergangenheit, das ihr Leben gewaltig aus der Bahn geworfen hat. Einzig ihr Neffe Sascha ist ein echter Lichtblick für sie – bis er eines Tages spurlos verschwindet und sie bei der Suche nach ihm den unliebsamen Kontakt mit ihrer Familie intensivieren muss. Dabei kommt so einige schmutzige Wäsche ans Tageslicht …

In „Wir sind schließlich wer“ geht es viel um Status, gesellschaftliche und familiäre Erwartungen, Verpflichtungen und Vorurteile. Der Ansatz zur Diskussion dieser Themen ist klug gewählt, denn Anna sitzt irgendwie zwischen allen Stühlen und ist dadurch eine ausgesprochen interessante Figur. Jedoch wird das leider ein wenig dadurch zunichte gemacht, dass das Buch viel mit flachem Humor und stereotypen Figuren arbeitet. Da sind die Klatschbasen aus dem Dorf, die Anna auf völlig überzogene Weise ständig irgendwelche Affären unterstellen, die adlige Mutter, die die Nase unfassbar weit oben trägt, der unsympathische Graf von und zu, der natürlich auch Steuern hinterzieht, und die rigorose, aber herzensgute alte Tante, die alle Fäden in der Hand hält. Dieses Figureninventar sorgt, zusammen mit einigen eher unglaubwürdigen Entwicklungen und der ständigen Präsenz eines möglichen Love Interest, dafür, dass das Buch vor allem gegen Ende doch stark in Richtung Familienkomödie abgleitet.

Das ist ein wenig schade, denn die Autorin hat einen sehr angenehm lesbaren Stil und hat mit Anna eine wirklich vielschichtige und nahbare Protagonistin mit viel Potenzial erschaffen. „Wir sind schließlich wer“ ist ein durchaus unterhaltsames Buch, bleibt aber deutlich hinter den Erwartungen zurück, die es zu Beginn geschürt hat.