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Bücherbummler

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Insgesamt 117 Bewertungen
Bewertung vom 23.03.2022
Ditlevsen, Tove

Gesichter


ausgezeichnet

Lise Mundus ist eine erfolgreiche preisgekrönte Kinderbuchautorin mit drei Kindern, einem Mann, einem Haus, einer Haushaltshilfe, die bei ihnen lebt – also einer von den Menschen, über die man gerne sagt, dass sie alles haben. Aber wie so oft sieht es hinter der Fassade anders aus, die Ehe läuft nicht gut, ihr Mann geht fremd und Lise verliert nicht nur die Motivation, zu schreiben, sondern auch den Bezug zur Realität. Die Gesichter der Menschen um sie herum verformen und vertauschen sich, sie hört Stimmen, fühlt sich von ihrer eigenen Familie bedroht. Der beste Ausweg, so scheint ihr, ist, sich in eine Klinik einweisen zu lassen, wo sie sich vor den bösartigen Absichten ihrer Familie sicher fühlt.
Aber die Stimmen und Halluzinationen verfolgen sie auch dort, schallen aus Luftschächten, Rohren und Kopfkissen und verwandeln die Pfleger und Ärzte in Feinde, die ihr nach dem Leben trachten. Doch im Laufe des Aufenthalts in der Psychiatrie muss sich Lise auch der Frage stellen, inwieweit nicht gerade ihre Krankheit ihr auch die Zuflucht und Sicherheit bietet, die ihr im Leben draußen zu fehlen scheint.

„Gesichter“ war mein erster Roman von Tove Ditlevsen. Die „Kopenhagen-Trilogie“ war mir zwar ein Begriff, aber gewusst habe ich weder über die Autorin noch über ihr Werk irgendetwas, auch nicht, dass die Geschichte auf ihren eigenen Erfahrungen beruht. Und so habe ich mich anfangs ein wenig schwergetan, nicht gewusst, womit ich gerade konfrontiert werde, kafkaeskem Surrealismus, Metaphern, einem Alptraum? Mitten rein wird man als Leser geworfen in die psychotische Welt der Lise Mundus und bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe. Trotzdem war der Sog von Anfang an unglaublich stark, schnell sind die Grenzen zwischen Realität und Wahn auch für mich als Leser verschwommen, wurde ich unsicher, was ich glauben kann und soll, und was nicht. Die Atmosphäre, die Ditlevesen dabei schafft, ist dicht und erdrückend, macht einem das Atmen schwer und das Grauen, das Lise empfinden muss, spürbar. Und paradoxerweise ist es genau dieses Unwohlsein, dass einen in und durch den Roman trägt. Es ist kein ganz passender Vergleich, weil beide Werke so unterschiedlich sind, aber ich habe mich an „Ein wenig Leben“ von Hanna Yanagihara erinnert gefühlt, den einzigen anderen Roman, der mir einfällt, der mich auf ähnliche Weise gefesselt hat, obwohl er teilweise auf eine mir unerklärlich großartige Weise schwer zu ertragen war.

Es ist schwer, diesem Buch in einer Rezension gerecht zu werden. Die Lektüre ist ein geradezu physisches Erlebnis, das man erfahren, aber schlecht beschreiben kann. Ein Buch, das sicher nicht für jeden geeignet ist, fast möchte ich eine der derzeit so beliebten Trigger-Warnungen aussprechen. Aber noch lieber eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 18.03.2022
Liesemer, Andrea;Liesemer, Dirk

Tage in Sorrent


sehr gut

1876. Nietzsche hat eine Professur an der Universität in Basel inne, aber seine Gesundheit macht ihm schwer zu schaffen. Immer wieder quälen ihn starke Migräneanfälle, bei denen er tagelang das Bett hüten muss, und seine Sehkraft hat bereits in einem Maß nachgelassen, das ihm das Lesen immer unmöglicher macht. Wie ein Segen erreicht ihn da die Einladung seiner mütterlichen Freundin Malwida von Meysenbug, die ihm anbietet, mit ihr auf unbestimmte Zeit ein Haus im italienischen Sorrent zu beziehen. Nietzsches Assistent Alfred Brenner, der an Schwindsucht leidet, und sein guter Freund Paul Rée erhalten ebenfalls eine Einladung, und darüber hinaus soll sich noch Richard Wagner mit seiner Frau Cosima in der Bucht von Neapel aufhalten.Wagner, den Nietzsche vor einigen Jahren schon kennen lernte und sehr verehrt.
Aber die Reise beginnt alles andere als vielversprechend. Nietzsche hat unterwegs einen schweren Migräneanfall und auch das Treffen mit Meister Wagner ist eine Enttäuschung, die schließlich zum Bruch der Freundschaft und Wagners Abreise führt.
Ohne die Gegenwart des Komponisten kann Nietzsche endlich frei durchatmen. Er fühlt, wie gut ihm der Ortswechsel und die südliche Sonne tut, hat sogar das Gefühl, den Flecken Erde gefunden zu haben, an dem er glücklich und gesund leben und arbeiten könnte. Pläne entstehen, gemeinsam mit Brenner, Rée und von Meysenbug eine Schule für freiheitliches Denken zu gründen. Aber werden die Zukunftsträume der Realität standhalten?

„Tage in Sorrent“ von Andrea und Dirk Liesemer ist eine Fiktion, aber eine Fiktion, die sich auf die erhaltenen Erinnerungen und Briefe seiner Protagonisten stützt und damit ein hohes Niveau an Authentizität erreichen dürfte. Nah dran habe ich mich jedenfalls gefühlt bei der Lektüre, besonders was die italienische Umgebung betraf. Licht, Duft, Klima, Konsistenzen... das alles verstehen die Autoren ohne große Ausschweifungen heraufzubeschwören, bringen einem das südliche Italien so nah, dass man die Sonne auf der Haut zu spüren meint.

Für die Protagonisten gilt dieses Lob der gelungenen Skizzierung weniger. Es ist mir durchaus passiert, dass ich, wenn ich kurz unaufmerksam war, nicht mehr wusste, von wem gerade die Rede ist, zu ähnlich blieben sich die Figuren in den Schilderungen ihrer Gedanken und Handlungen. Das mag teilweise auch am Stil des Buches gelegen haben, der auf mich hölzern und angestaubt wirkte und dem Buch viel seiner möglichen Wirkung genommen hat. Vielleicht haben die Autoren, bewusst oder unbewusst, zu sehr den Ton der Briefe und Lebenserinnerungen zu kopieren versucht.

Am Ende war „Tage in Sorrent“ ein Roman, der mir nach der Lektüre mehr Freude gemacht hat, als währenddessen. Besonders im mittleren Teil habe ich mich öfters gefragt, warum diese Zeit Nietzsches in Sorrent ein ganzes Buch wert sein soll. Vieles schien nicht der Erwähnung wert, brachte keinen Fortschritt in die dramaturgische Entwicklung oder ließ an der Existenz einer solchen zweifeln. Erst nachdem es einige Tage auf mich gewirkt hatte, setzte sich für mich ein Gesamtbild zusammen, das Sinn ergab, eine tiefer gehende Schilderung unseres Lebens zwischen Hoffnung und Rückschlägen, die Fähigkeit des Menschen, immer wieder Auswege und Ziele zu suchen, erneut aufzustehen und weiter zu machen.

Bewertung vom 09.03.2022
Yaffa, Joshua

Die Überlebenskünstler


ausgezeichnet

Russland ist dieser Tage aus traurigem Anlass auf allen Kanälen rund um die Uhr präsent. Der schreckliche Krieg gegen die Ukraine hat bei den meisten die Gefühle und Ansichten über Putin und seinen Staat geändert oder gefestigt. Ich habe „Die Überlebenskünstler“ gelesen, bevor von einem Angriff überhaupt die Rede war, und bin froh darüber, denn sicher hätte dieses Wissen meinen Blickwinkel verändert. Heute würde ich es bestimmt mit anderen Augen lesen, aber die Rezension soll weitestgehend das wiedergeben, was ich mir damals in Friedenszeiten in Stichwörtern notiert habe.

Ich sage es gleich, ich bin gewöhnlich kein Leser von Sachliteratur. Meine Leidenschaft gehört der Belletristik. Wenn ich mich über ein Thema tiefer informieren möchte, schaue ich mir eine Dokumentation an. Das liegt zum einen daran, dass mir die lebendigen Bilder helfen, genauer zu verstehen, zum anderen aber auch, dass Sachbücher früher in der Regel entweder knochentrocken oder wenig hilfreich und oberflächlich waren. Der Markt hat sich geändert, mein Vorurteil noch nicht ganz. Aber als ich „Die Überlebenskünstler – Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen“ von Joshua Yaffa sah, konnte ich nicht widerstehen. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für dieses riesige Land, dass sich mit seiner Vielzahl an Kulturen und Jahrtausenden an bewegter Geschichte so gar nicht greifen lässt. Darum freue ich mich über jedes neue Puzzleteil, das mir begegnet.

Und Yaffa hat mit seinem Buch ein Puzzleteil vorgelegt, dass mir so noch ganz neu war. Er thematisiert den Spagat zwischen eigenen Ambitionen und ausreichender Konformität mit dem Putin-Regime. Die (nicht nur Russland betreffende) spannende Frage, was bin ich bereit zu zahlen, um meine Vorstellungen umzusetzen? Wie viele Kompromisse kann ich eingehen, ohne mein Gewissen zu verkaufen? Wie viel Kooperation rechtfertigt das höhere Ziel? Oder auch andersrum, ist es richtig, sein höheres Ziel aufzugeben, um seine Ideale nicht verraten zu müssen?

Yaffa deckt ein weites Gebiet ab, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, behandelt in jedem Kapitel einen anderen Bereich von Kultur, Religion oder Wirtschaft mit je einem wichtigen Vertreter dieses Bereiches im Mittelpunkt. So begegnen wir einem Leiter eines regierungsfreundlichen großen Fernsehkanals, einer Menschenrechtlerin in Tschteschenien, einem Priester, einem Tierparkbesitzer auf der Krim, dem Leiter der Gedenkstätte bzw. des Museeums Perm-36, einem ehemaligen Arbeitslager unter Stalin, einer Ärztin, die sich um Sterbende und Obdachlose kümmert, und kranke Kinder aus Kriegsgebieten holt und schließlich einem Regisseur, der die Balance auf dem schmalen Grat zwischen regimekonform und freier künstlerischen Entfaltung kaum halten kann. Und jedem dieser Szenarien nährt sich Yaffa mit viel Respekt und Offenheit, beleuchtet verschiedene Perspektiven, tritt weit zurück, um den geschichtlichen Kontext verständlich zu machen, und kommt ganz nah an die Menschen heran, schafft ein Bild aus diversen Hintergründen.

Es lässt sich schwer sagen, ob das Interesse an Büchern über Russland in diesen Zeiten eher wachsen oder abnehmen wird. Ich denke jedenfalls, dass es seine Leser gerade jetzt verdient. Natürlich erklärt „Die Überlebenskünstler“ nicht den Krieg, aber wir kriegen einen Einblick, wie der Staat und seine Einwohner durch Manipulationen und Repressionen beeinflusst und gelenkt werden. Ein kleiner Schritt zu mehr Verständnis, und Verständnis ist immer ein wichtiger Bestandteil von Frieden.

Bewertung vom 23.02.2022
Pilgaard, Stine

Meter pro Sekunde


weniger gut

Mit Mann und Kind zieht die namenlose Ich-Erzählerin nach Westjütland, den Teil Dänemarks, den man vielleicht am besten mit unserem Ostfriesland vergleichen kann, Natur, Meer, bodenständige Menschen, die nicht viele Worte machen. Ihr Mann ist Lehrer an einer Internatsschule, sie selbst hat es eigentlich nicht so eilig, eine Arbeit zu finden, aber da das für die Partner der ortsansässigen Lehrer nicht üblich ist, wird ihr schnell der Posten einer Kummerkastentante für die lokale Zeitung zugewiesen. Und so beginnt sie ihr neues Leben zwischen Kleinkind, Führerschein und Briefen, eckt mit ihrer direkten, auch mal Tabu überschreitenden und chaotischen Art immer wieder an, erhält aber auch viel Unterstützung und Rückendeckung von den pragmatischen Dorfbewohnern.

Und das ist eigentlich schon alles, was man über den Inhalt von „Meter pro Sekunde“ von Stine Pilgaard sagen kann, eine richtige Geschichte mit dramaturgischen Spannungsbogen gibt es nicht. Wir folgen der Protagonistin durch ihre alltäglichen Probleme wie das Zahnen ihres Sohnes, Schlafprobleme und die x. Fahrstunde, und haben Teil an ihrer Kummerkastenkorrespondenz. Auch diese beinhalten Allerweltssorgen, die vermutlich jeder von uns kennt. Und die Ich-Erzählerin beantwortet sie konsequent mit Anekdoten aus ihrem eigenen Leben, die nicht zwangsläufig etwas mit dem eigentlichen Problem zu tun zu haben scheinen, um am Ende dann in einer hübsch verpackten Moral zu enden. Zusätzlich werden uns noch selbstverfasste Liedtexte geboten, gesungen auf bekannte Melodien (der Übersetzer hat sich hier bemüht, dem deutschen Leser bekannte Stücke zu finden, damit einem munteren Mitsingen nichts im Weg steht).

Und das alles ist nett. Die Ich-Erzählerin ist nett, ihr Freund ist nett, ihre Freunde sind nett, alle Dorfbewohner sind nett, die Natur ist nett, die Begebenheiten sind nett, der Schreibstil ist nett. So nett, dass mich nach gut einem Drittel des Buches Gleichgültigkeit und nach einem weiteren eine lähmende Langeweile überfiel. Ich bin mir bewusst (weil es dick auf dem Cover steht), dass dieser Roman der erfolgreichste der letzten Jahre in Dänemark ist. Und ich denke, ich verstehe, warum. Er bietet pures Identifikationsmaterial, fast jeder von uns wird sich irgendwo wiederfinden (junge Mütter noch eher, als andere), und sicher ist es schön, den Stress des eigenen Alltags in amüsanter Verpackung wiederzufinden, an die humorvolle Seite des Lebens erinnert zu werden. Pilgaard schreibt auch nicht schlecht, man kann über das, was sie sagt, nachdenken. Oder es auch einfach schön finden, wie sie es formuliert. Nett sozusagen.

Also, ja, ich verstehe, dass man dieses Buch lieben kann, aber für mich blieb es zu oberflächlich. Denn auch unter dem eigenen Alltag liegen mehr Schichten, und gerade die sind es, die das Leben interessant machen. Oder eben einen guten Roman.

Bewertung vom 11.01.2022
Dostojewskaja, Anna

Mein Leben mit Fjodor Dostojewski


sehr gut

1866. Anna Grigorjewna Snitkina ist eine moderne 20jährige, die in einer Zeit, wo es für eine Frau in erster Linie vorgesehen ist zu heiraten, und sich um Heim und Kinder zu kümmern, andere Pläne hat. Sie will selbstständig sein, ihr eigenes Geld verdienen, und belegt daher einen Kurs in Stenografie. Sie ist so erfolgreich, dass ihr Lehrer sie dem bekannten Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski als Assistentin für seinen Roman „Der Spieler“ vorschlägt. Dostojewski ist durch den Tod seines Bruders in Geldnot geraten, und muss sein Werk dem Verlag innerhalb von nur vier Wochen vorlegen.
Während der Zusammenarbeit entwickelt sich eine starke Bindung zwischen Anna Grigorjewna und Fjodor Michailowitsch, die die junge Frau nicht zögern lässt, Dostojewskis Heiratsantrag trotz des Altersunterschieds, der Geldnöte und seiner Krankheit (Dostojewski leidet an Epilepsie und, damit verbunden, an Phasen von Schwermut und Gereiztheit) anzunehmen.

Vierzehn Jahre bis zu Dostojewskis Tod dauert diese Ehe, von der Anna Dostojewskaja in ihrem Buch „Mein Leben mit Fjodor Dostojewski“ berichtet. Natürlich muss man sich fragen, ob eine liebende Ehefrau, die ihren Mann (auch nach eigenen Angaben) geradezu vergöttert, die richtige Person ist, ein naturgetreues Bild dieses Menschen abzubilden. Denn tatsächlich ist das ganze Werk eine einzige Hymne, in der Dostojewski nicht nur als genialer Schriftsteller, sondern auch als großzügiger, mitfühlender Mensch und liebevoller Vater und Gatte geradezu in den Himmel gehoben wird. Seine weniger angenehmen Seiten, der Jähzorn, die Spielsucht, die unbändige Eifersucht, mit der er seine Frau einige Male in aller Öffentlichkeit in peinliche Situationen bringt, werden zwar erwähnt, aber eher als liebenswerte Marotten abgetan. Das ganze Buch strahlt Annas Zuneigung und Ergebenheit zu dem Mann aus, um den sich ihr ganzes Leben dreht.

Anna Dostojewskaja hat ihren Mann um 38 Jahre überlebt und ihre Erinnerungen erst kurz vor ihrem eigenen Tod abgeschlossen. Literarisch betrachtet ist die Lektüre kein großartiges Erlebnis. Für jemanden, der nicht nur Jahre an der Seite einer der größten russischen Schriftsteller verbracht, sondern dessen Werk auch wieder und wieder abgeschrieben und später auch verlegt hat, ist ihr Stil erstaunlich laienhaft. Aber das spielt keine Rolle. Was das Buch so liebenswert und lesenswert macht, ist die Nähe zu Dostojewski, die kein anderer Biograf erreichen könnte. Es sind die kleinen Anekdoten, die Beschreibungen von Eigenheiten in Gestik und Mimik, die Erwähnung von Gegenständen des Alltags, die einen ganz nahe heranbringen an Zeit und Geschehen.

Anna Grigorjewna ist die sprichwörtliche starke Frau hinter dem erfolgreichen Mann. Sie ist intelligent, hat einen hervorragenden Geschäftssinn und Mut für neue Wege. Sie hält ihrem Mann nicht nur den Rücken frei, sie bereitet ihm auch den Weg. Es ist diese Mischung aus treuer Hausfrau und beinahe schon Managerin des Erfolgsautors, der sie zu einem interessanten Charakter macht.

„Mein Leben mit Fjodor Dostojewski“ ist sicher kein Buch, das, für sich alleine genommen, dem Leser einen kompletten Überblick über das Leben des großen russischen Schriftsteller vermitteln kann. Dazu ist die Autorin nicht nur zu parteiisch, sondern setzt auch einiges an Vorwissen voraus. Aber als Ergänzung, als berührendes Detail, kann ich diese Erinnerungen jedem Interessierten ans Herz legen.

Bewertung vom 22.12.2021
Ali, Anar

Nacht der Bestimmung


sehr gut

Als Lailat al-Qadr (arabisch [ ]‚ „die Nacht der Bestimmung, die Nacht der Allmacht‘) wird im Islam die Nacht im Monat Ramadan bezeichnet, in der der Koran gemäß islamischem Glauben erstmals offenbart wurde.
- Wikipedia

Es ist das Jahr 1972, als Präsident Idi Amin alle Asiaten aus Uganda ausweisen lässt. Dieses Dekret betrifft auch Mansoor Visram, seine Frau Layla und ihren kleinen Sohn Ashif. Alle drei sind zwar in Afrika geboren, als Nachkommen indischer Vorfahren aber unerwünscht. So sieht sich die Familie gezwungen, ihre gesamte alte Existenz zurückzulassen, und sich in Kanada eine neue aufzubauen.
Mansoor fällt die Umstellung nicht allzu schwer. Er ist seiner neuen Heimat dankbar für die Aufnahme und generell ein ehrgeiziger Mann. Schnell spart er sich genug Geld zusammen, um eine Tankstelle zu übernehmen, und lässt sich auch nicht unterkriegen, als ihm diese während einer Wirtschaftskrise verloren geht. Er arbeitet hart, er hält das Geld zusammen, er nimmt Kredite auf, und versucht, sich weiter nach oben zu arbeiten. Dabei gerät ihm allerdings das Wohl seiner Familie aus dem Blick. Er lässt Layla jeden Penny umdrehen und als Köchin ein Zubrot verdienen, Ashif ist ganz klar dazu bestimmt, sein Nachfolger zu werden, nachdem er Schule und Studium durchlaufen hat. Dass seine Frau darunter leidet, kaum Zeit mit ihrem Mann verbringen zu können, und das Kind fast alleine aufzuziehen, dass sein Sohn andere Veranlagungen und Interessen hat, als das Geschäft, eine künstlerische Seele in ihm wohnt, das sieht Mansoor nicht, will er nicht sehen. Nicht mal, als Ashif zwar BWL studiert, aber so schnell wie möglich die Stadt verlässt, und sich bei einer anderen Firma eine Stelle sucht. Auch nicht, als Layla immer stiller und zurückhaltender wird. Mansoor plant weiter, will sein Unternehmen ganz groß gemeinsam mit dem Sohn ausbauen, lässt sich weder von seiner Familie noch von anderen Hindernissen bremsen. Doch dann kommt Lailat al-Quadr, die Nacht der Bestimmung, in der sich alles verändern wird.

Das Romandebüt „Nacht der Bestimmung“ der kanadischen Drehbuchautorin Anar Ali war für mich eine ambivalente Lektüre. Der klare, aber teilweise auch durchaus poetische Stil und die gekonnt herausgearbeiteten Figuren haben auf mich einen Sog entwickelt, der mich von der ersten bis zur letzten Seite getragen hat. Trotzdem hat etwas gefehlt, es wurde nicht ganz klar, was Ali erzählen möchte, was ihr Anliegen, ihre Aussage sein soll. So hatte ich, was selten vorkommt, nach der Beendigung des Buches, das Gefühl, in der Schwebe zu hängen, und das, obwohl die Geschichte in sich durchaus rund ist.

Jetzt, mit einigem Abstand, ist vor allem ein tiefes Gefühl des Mitgefühls mit den Figuren geblieben, mit dieser Familie, die eigentlich eine Einheit bildet, die zusammen eine Menge durchgemacht hat, in der letztendlich aber trotzdem jeder in seiner eigenen Welt lebt, und kaum in der Lage ist, die des anderen auch nur wahrzunehmen. Die Tiefe, in die sich die Visrams bei mir eingegraben haben, hat mich überrascht und beeindruckt. Und letztendlich auch meine Leseempfehlung geändert. Wo ich direkt nach der Lektüre noch gezögert hätte, würde ich jetzt nicken. Anar Alis Roman ist reich, reich an Geschichte, reich an Schicksal, reich an Menschlichem. Ich wünsche ihr viele Leser und bin gespannt, wie sie sich in eventuell weiteren Romanen entwickeln wird.

Bewertung vom 13.12.2021
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

Die Kinder von Kosawa sterben. Vor einiger Zeit hat sich der amerikanische Ölkonzern Pexton auf dem Land des afrikanischen Dorfes niedergelassen, um nach Öl zu graben. Seitdem vergiften Gase aus den Fabrikschloten Regen und Trinkwasser, Lecks in den Pipelines zerstören die Ernten.
Als wieder ein Kind seinen Vergiftungen erliegt, beschließen die Männer von Kosawa, etwas zu tun. Fünf von ihnen fahren in die nächste Stadt, um die Regierung um Hilfe zu bitten. Keiner von ihnen kehrt zurück. Einem Suchtrupp wird erklärt, niemand hätte die fünf je gesehen.
Als das Überleben schwieriger und schwieriger wird, kippt eines Tages die Stimmung im Dorf, die Einwohner greifen zur Gegenwehr. Eine Gegenwehr, die in einem schrecklichen Massaker enden wird. Und das ist erst der Anfang eines langen Kampfes um Gerechtigkeit, der den Dorfbewohnern noch bevorstehen wird.

Imbolo Mbues Roman „Wie schön wir waren“ erschüttert vor allem durch seine ewige Aktualität und Realität. Eine Realität, vor der wir, die davon profitieren, gerne die Augen verschließen. Erzählt wird Kosawas Geschichte in alternierenden Kapiteln, in denen abwechselnd „die Kinder“ zu Wort kommen, womit jene Generation gemeint ist, die mit der Zerstörung ihrer Heimat und dem Tod als ständigen Begleiter aufwächst, und von denen sich einige später radikalisieren werden, und die Mitglieder von Thulas Familie. Thula, deren Vater zu den fünf Verschwundenen gehört. Thula, die von einer Hilfsorganisation ein Stipendium für einen Schulbesuch in den Staaten bekommt, dort den Marxismus und Ideen der zivilen Gegenwehr kennen lernt, und diese in langen Briefen mit ihren in der Heimat gebliebenen Altersgenossen teilt.

Mbue schreibt dabei wenig sentimental. Ihre Sprache bleibt unaufgeregt und klar, auch wenn sie auf selbstverständliche Weise mystische Elemente, die ein nicht angezweifelter Teil des Dorflebens darstellen, einarbeitet. Dabei mangelt es ihren Stimmen aber leider an Individualität. Hätte ich das Buch an irgendeiner Stelle aufgeschlagen, ich hätte nicht sagen können, wer gerade das Wort hat. Ob das Absicht ist, um die Einheit der Dorfbewohner zu betonen, vermag ich nicht zu sagen. Mir hätte etwas mehr eigene Charakteristik besser gefallen.

Trotzdem fand ich das Buch ausgesprochen lesenswert und habe es nur selten aus der Hand gelegt. Mbues erster Roman, „Das geträumte Land“, für den sie 2017 den PEN/Faulkner Award gewann, liegt deswegen schon auf meinem Bücherstapel bereit.

Bewertung vom 28.11.2021
Mengiste, Maaza

Der Schattenkönig


sehr gut

Äthiopien 1935. Italien greift unter Mussolini Äthiopien an, um das Land als Kolonie zu besetzen. Die feindlichen Soldaten dringen so weit vor, dass Kaiser Haile Selassie sich gezwungen sieht, Land und Bevölkerung im Stich zu lassen, und nach Großbritannien zu fliehen. Doch niemand hat mit dem Stolz und dem Kampfeswillen der Äthiopier gerechnet. Besonders die Landbevölkerung steht auf und formiert sich spontan, und auch Frauen greifen, trotz der patriarchischen Struktur, zu den Waffen.
Zu diesen Frauen gehört auch Hirut. Sie ist Teil der kleinen Einheit Kidanes, dessen Magd sie in Friedenszeiten war. Kidanes Frau Aster ist diejenige, die, gegen den Willen und Widerstand ihres Mannes, Waffen besorgt und darauf beharrt, dass auch Frauen kämpfen und nicht nur als Nachhut die Verwundeten versorgen können. Aber es ist Hirut, die letztendlich die Idee mit dem Schattenkönig hat, einem Doppelgänger Selassies, durch dessen Anblick das Volk wieder neuen Mut fassen soll. Der Plan geht auf, aber die Kämpfe sind hart und grausam. Und, wie in jedem Krieg, zahlen alle Seiten einen viel zu hohen Preis.

Fotographien spielen in „Der Schattenkönig“ von Maaza Mengiste eine große Rolle. Sie halten das Geschehen fest, frieren das Grauen ein, sind potentielle Zeugen. Mengistes Stil fühlte sich für mich aber noch detaillierter noch weiter runtergebrochen an, als ein Foto. Ihre Art zu erzählen hat mir mehr Eindrücke vermittelt, als eine geschlossene Geschichte. Ich fühlte mich an den Pointillismus in der Malerei erinnert, in dem die Gemälde aus einzelnen Farbpunkten bestehen, die erst mit Abstand ein Bild ergeben. Auch mit Gegensätzen arbeitet Mengiste viel, hell und dunkel, gut und böse, alles ist sehr visuell und kompakt, verliert in dieser Kompaktheit aber auch ein wenig an Individualität.

Interessant ist der Aufbau des Romans. Zwischen den Kapiteln sind immer wieder Zwischenspiele, in denen wir Haile Selassie in, natürliche fiktiver, Privatheit begegnen, und Chöre, die an antike griechische Dramen erinnern, eingeschoben. Diese Anlehnung an das Theater hat für mich den Abstand zum Geschehen noch mal vergrößert, es wurde künstlicher, weniger real und berührend.

Mengiste versucht, in ihrem Roman viele Themen unterzubringen. Die Geschichte Äthiopiens 1935/36, die Rolle der äthiopischen Bevölkerung und vor allem der Frauen in diesem Kampf, die charismatische Gestalt Kaiser Haile Selassies, aber auch der wachsende Antisemitismus Italiens unter Mussolini, vertreten durch das Schicksal des Kriegsfotografens, der im Laufe des Romans erleben muss, dass er für ein Heimatland kämpft, das sich immer mehr gegen ihn wendet. Das ist ehrgeizig und ging für mich leider nicht ganz auf, denn durch diese vielen wichtigen Schwerpunkte, hat mich keiner wirklich erreicht. Eine Fokussierung hätte dem Roman womöglich gut getan.

Aber trotz all dieser Kritik bleibt Mengistes „Schattenkönig“ lesenswert. Ihr Roman ist eine Art Naturgewalt, die mich zwar mit dem Gefühl zurückgelassen hat, ihn nicht wirklich in seinem ganzen Ausmaß begriffen zu haben, aber Mengiste hat eine beeindruckende Stimme, und kann sicher für viele ein großes Leseereignis und eine Bereicherung der Literaturwelt sein.

Bewertung vom 02.11.2021
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Schottland in den 1980ern, die Zeit Margaret Thatchers, der Schließungen der Kohlegruben, Arbeitslosigkeit und Armut. Auch Shuggie Bains Kindheit könnte schöner sein. Seine Mutter Agnes hat ihren ersten Mann mit den beiden gemeinsamen Kindern für den weniger zuverlässigen und eher umtriebigen Taxifahrer und Vater von Shuggie, Hugh „Shug“ Bain. verlassen, und lebt nun mit ihm und den drei Kindern bei ihren Eltern. Als dieses Arrangement immer enger und belastender wird, überredet Hugh Agnes, in ein eigenes Haus umzuziehen. Aber kaum dort angekommen, stellt er fest, dass er so doch nicht leben kann, und verlässt Frau und Kinder. Agnes kommt mit der neuen Situation nicht zurecht und rutscht in den Alkoholismus ab. Ihre beiden Älteren, überfordert von der Situation, verlassen ihr Zuhause und sie so schnell wie möglich, so dass schließlich Shuggie alleine mit der Mutter zurück bleibt.

Douglas Stuarts Debütroman „Shuggie Bain“ ist tatsächlich vor allem auf meiner Leseliste gelandet, weil er den Booker Prize 2020 gewonnen hat und in den Medien so präsent war. Ich habe ein etwas zwiespältiges Verhältnis zum Booker Prize, manche der nominierten Bücher finde ich großartig, bei anderen habe ich Probleme, sie überhaupt auszulesen… zwischen diesen beiden Polen liegt selten etwas. Auch mit „Shuggie Bain“ hatte ich Startschwierigkeiten. Da war zum einen die Übersetzung des Glasgower Dialekts, der gerade zu Beginn als Berlinerisch wiedergegeben wird. Eigentlich eine Kleinigkeit, aber mich hat das irritiert und meinen Lesestrom unterbrochen. Doch im Laufe der Geschichte verwandelt sich dieser Dialekt in ein nicht mehr so leicht zuzuordnendes hingerotztes Deutsch, das viel besser passt und einen schon eher glauben lässt, dass man sich in der Hauptstadt Schottlands befindet.
Dann dreht sich die Handlung über eine sehr lange Strecke vor allem um Agnes. Im Prinzip kein Problem, aber da meine Erwartung durch den Titel eine andere war, sah ich meine Erwartungen für den Moment enttäuscht.
Am meisten hat mich aber die Stimmung des Romans gestört, eine runter ziehende Hoffnungslosigkeit, die mir sinnfrei und selbstgemacht vorkam, und die ich vor allem als anstrengend und unproduktiv empfunden habe.

Aber im Laufe der Seiten hat Stuart es geschafft, einen Sog zu entwickeln, und ich habe mich immer mehr in seine Protagonisten und die Situation hineinfühlen und Aspekte aus neuen Perspektiven betrachten können. Gerade der Anschein von Sinnlosigkeit, der am Anfang mein größter Kritikpunkt war, wurde jetzt zur überzeugenden Stärke. Selten habe ich die Realität von vielen Millionen Menschen - in Teilaspekten wohl von uns allen - so realistisch abgebildet erlebt. Ohne Pomp und Melodrama wird dem Leser das Herz gebrochen…

Was schließlich großartig gerät, ist die Entwicklung Shuggies. Gerade das, was mir am Anfang zu sehr in den Hintergrund geriet, gelingt Stuart in überzeugender Subtilität. Shuggie ist und bleibt Shuggie, ein besonders sensibles Kind, das nicht in die Welt zu passen scheint, in die es hineingeboren wurde. Ein Junge, der von seiner Umwelt geprägt und verwundet wird, keine Wunder erlebt, keine unglaubliche Metamorphose durchmacht. Aber ein Kind, dass seinen Weg findet, letztendlich, weil ihm nicht viel anderes übrig bleibt. Das seine Lage annimmt, daraus Konsequenzen zieht und schließlich Entscheidungen trifft, die weit über sein Alter hinausgehen.

Vorgelesen wird die deutsche Version von Mark Waschke. Waschke ist keiner der ganz Großen, wie Hans Paetsch oder Gert Westphal, aber er macht seine Sache gut, besonders, wenn er den Bewohnern der Siedlung ihre eigenen Nuancen gibt, stattet er diese mit einer wunderbaren Lebendig- und Greifbarkeit aus, die mich oft zum Lachen gebracht hat.

Mit „Shuggie Bain“ wurde mir also ein Booker Prize Gewinner geschenkt, für den ich mich, wenn auch anfangs zögerlich, begeistern konnte. Ein Roman über ein Stück Zeitgeschichte Großbritanniens, aber gleichzeitig über die universellen und zeitlose

Bewertung vom 01.11.2021
Ahrens, Henning

Mitgift


ausgezeichnet

1962. Seid Jahrzehnten ist Gerda Derking für die Verstorbenen in ihrem Dorf zuständig, hat sie gewaschen und zurecht gemacht, sich Kummer, Zorn und Verzweiflung der Hinterbliebenen angehört. Jetzt ist sie über 60 und hat genug. Zu viel hat sie gesehen, die Belastung wiegt schwer. Doch dann steht ihr Nachbar Wilhelm Leeb Senior vor der Tür. Auf seinem Hof ist etwas schreckliches passiert und er bittet Gerda im Namen ihrer Freundschaft und gemeinsamen Vergangenheit, ein letztes Mal ihrer Aufgabe nachzukommen.

In „Mitgift“ führt uns Henning Ahrens, angelehnt an seine eigene Familiengeschichte, durch sieben Generationen der Familie Leeb und ihres Hofes in der Nähe von Peine. Dabei folgt er keiner chronologischen Ordnung, sondern springt durch die Jahrhunderte, gewährt uns oft nur kurze Einblicke, gerade genug, um zu begreifen, was sich wie ein roter Faden durch die Familiengeschichte zieht. Natürlich bringt jede Generation seine eigenen Individuen hervor, die ihre Träume und Wünsche und auch Talente mit sich tragen. Da ist August Wilhelm, der sich zu einem geistlichen Leben berufen fühlt, Carl Wilhelm, in dem eher ein wissenschaftlicher Geist lebt, Wilhelm, der sich vom Nationalsozialismus und von Gerda angezogen fühlt. Aber am Ende werden es immer das Wohl des Hofes und die Tradition sein, die siegen, hinter denen man seine eigenen Ansprüche zurückstellt. Man wird Bauer, wie die Vorfahren, man heiratet die Frau, die Land mitbringt, nicht die, die man liebt. Die Bande sind zu stark, um sie zu brechen.

Henning Ahrens schreibt einfach und nüchtern, passend zu dem norddeutschen Wesen seiner Figuren. Und trotzdem schafft er es, im Leser starke Bilder und Gefühle zu erzeugen. Natürlich weiß man nicht, wie viel Realität und wie viel dramaturgische Freiheit seinen Roman ausmachen, aber seine Zeilen strahlen eine schonungslose Ehrlichkeit aus, die beeindruckt.

Meinem ganz persönlichen Lesegeschmack hätte es besser gefallen, wenn Ahrens die Geschichte chronologisch erzählt und weiter ausgeholt hätte. Aber seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2021 freut mich, ich habe das Buch nicht nur sehr gerne gelesen, sondern auch schon weiterempfohlen. Sicher werde ich noch mehr von diesem Autor lesen und die Bilder aus „Mitgift“ lange in mir tragen.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.