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MarcoL
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Füssen

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Insgesamt 228 Bewertungen
Bewertung vom 19.04.2024
Zonen der Zeit
Müller, Michaela Maria

Zonen der Zeit


ausgezeichnet

Ein wunderbarer, kluger, unaufdringlicher Roman.

Jan ist Historiker, arbeitet Akten des Auswärtigen Amtes durch. Das Jahr 1991 lässt ihn stocken, innehalten. Die Vergangenheit wird aus der Verdrängung hervor gespült, bremst alles.
Er war damals zehn Jahre jung, die DDR am Verschwinden. Wie auch sein Vater, der in den Osten ging. Im neuen Westen hielt ihn nicht mal seine Familie. Jan und seine Mutter „flohen“ in einen Bahnhofskiosk in Berlin und betreiben diesen. Für Jan begann eine Zeit der Verdrängung, und wurde zu einem unscheinbaren Mann, der sich lieber hinter Akten vergrub.
Trotzdem gründet er eine Familie mit Katja, und lebt am Rand von München, in der Nähe des Flüsschens Wurm. Dieses Gewässer ist Namensgeber für die letzte Eiszeit, welche vor 10000 Jahren endete, und unsere Landschaft formte, wie wir sie heute kennen. Eine markante Zeitzone.
Jan pendelt berufsbedingt immer wieder nach Berlin, wo er eine kleine Wohnung unterhält.
Enni ist Notrufdisponentin bei der Feuerwehr in München. Sie ist das Gegenteil von Jan. Quirlig, braucht Menschen um sich. Ein Zufall bringt beide zusammen. Sie spricht Jan vor einer Tankstelle an, als dieser etwas verloren wirkt. Er hat seine Schlüssel verlegt, wohl in seiner Wohnung eingesperrt. Seine Frau mit seinen beiden Söhnen ist bei ihren Eltern, ein heimkommen also nicht möglich. Enni „knackt“ das Schloss, und ein wenig die schleichende Lethargie von Jan. Es entwickelt sich eine leichte Freundschaft, sie treffen sich hin und wieder.
Im Laufe der Zeit (ohne jetzt Einzelheiten zu verraten) zieht es beide nach Berlin – es gibt ein neues Ankommen, und gewissen Endstationen in deren Leben.
Die Autorin lässt abwechselnd Enni und Jan erzählen. Sie berichten von ihrem Alltag, von ihren Jobs und Begegnungen. Beide scheinen eigenwillig zu sein, und doch stechen sie wahrscheinlich nicht besonders aus der Masse heraus. Michaela Maria Müller zeichnet sie liebevoll, detailreich, aber nie langweilig.
Ihre Leben verknüpft sie gekonnt mit brennenden Alltagsthemen genauso wie mit der großen weltweiten Politik oder der Geschichte im Allgemeinen mit all ihren Auswirkungen.
Es ist ein sehr feiner, kluger Roman. Ruhig, unaufdringlich, und dennoch lässt er einen nicht mehr los. Ihre beiden handelnden Personen entwickeln sich, finden neue Perspektiven und machen das beste aus ihren Situationen. Ohne Schnörkel, Pathos oder Kitsch.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman. Es sind tatsächlich immer wieder Zonen der Zeit, die unser aller Leben bestimmen und verändern.

Bewertung vom 16.04.2024
Am See
Barbal, Maria

Am See


ausgezeichnet

Ein Nachmittag am See – tiefgründig, leise und wundervoll erzählt.

Leise, relativ unspektakulär, erscheint uns ein kleines Ereignis, welches sich eines Sonntagnachmittags am See ereignet. Nichts großartiges, könnte man meinen, und dennoch verändert es die Welt der zwölfjährigen Nora grundlegend. Es ist ihr Abschied aus der Kindheit, ein Eintauchen in die Welt der Erwachsenen, mit all ihren kleinen und nicht ganz so kleinen Problemen.
Nora freut sich immer auf die Sonntage, denn dann fährt sie mit der Bahn zum großen Stausee in den Pyrenäen, zusammen mit ein paar Erwachsenen, und dem fünfjährigen Quim, der sich als notorischer Quälgeist entpuppt. Die Erwachsenen sind untereinander verwandt, oder verbindet sonstige alltägliche Begegnungen. Sie werden uns vorgestellt in Kapiteln, kommen uns näher, stehen und leben vor unserem geistigen Auge wie reale Personen. Jedes Kapitel beginnt mit einer kleinen Ich-Erzähung von Nora. Meistens geht es um jenen Nachmittag, der so viel Grund gibt, die kleine Gesellschaft vor uns zu entblättern.
Der See ist tief, von Pappeln gesäumt, welche Schatten bieten, Sitzgelegenheiten, oder Halt im Wasser am Ufer. Jeden Sonntag, sobald es die Witterung erlaubt, zieht es die Gruppe Menschen an den See – ein Stausee, einst der größte von Europa, mit gefluteten Ruinen in seinen Tiefen.
Maria Barbal zeichnet ein intensives Bild dieser wenigen Personen. Wie im See, schlummern in den Tiefen der Seelen Ängste, Sorgen, Hoffnungen. Meist ist die Oberfläche ruhig, nur gekräuselt. Manchmal rumort es in den Herzen wie im See.
Lídia, Tonis Frau, ist mit dabei. Und Toni, der nicht schwimmen kann, kommt jedes mal mit seinem roten Seat nach, verweilt zum Mittagessen am See, verschwindet wieder, nimmt kaum aktiv Teil. Außer an jenem Nachmittag. Er betreibt einen Schuhgeschäft, ist dabei nicht sehr glücklich. Das Knien vor der Kundschaft beim Anprobieren der Schuhe empfindet er demütigend. Am liebsten wäre er Bauer am Hof seiner verstorbenen Eltern, aber das Zerwürfnis mit seiner Schwester … und seine Unstimmigkeiten mit Senor Joaquim, ein Verkäufer in seinem Laden, der immer mit am See ist.
Vieles geschieht aus dem Blickwinkel von Nora, die die Sicht der Welt aus drei Generationen erfährt. Ihre Eltern, welche niemals mit an den See kommen, treten in den Hintergrund, und haben dennoch ein wachendes Auge auf ihre Tochter.
Die Autorin versteht es sehr gekonnt, mit wenigen Worten großartige Bilder zu malen. Sie nimmt uns mit an das Ufer, lässt uns an den Gedanken ihrer Protagonist:innen teilhaben, erlaubt uns, sie näher kennenzulernen. Man könnte fast meinen, immer schon mit ihnen die Sonntage am See verbracht zu haben. Eindrücklich, sanft! Und dennoch bleibt viel Ungesagtes zwischen den Zeilen hängen, wie die Blätter der Pappeln am See.
S.132: „Die Pappeln scheinen dann im Sonnenlicht zu träumen, das Wasser ist wärmer als am Morgen und es herrscht eine tiefe Stille.“

Ganz große Erzählkunst und absolute Leseempfehlung für diesen wundervollen Roman, er reiht sich ein in die All-time Favorites.
Einziges Kritikpunkt meinerseits: das Cover passt nicht so recht zum Inhalt.

Bewertung vom 14.04.2024
Die Kompromisse
Dietmaier, Florian

Die Kompromisse


ausgezeichnet

Weltgeschichte und Belletristik gekonnt vereint, hervorragend recherchiert

Die Weltgeschichte von 1960 bis 2020, komprimiert auf neunzehn Geschichten und Erlebnissen des Diplomaten Peter. Es sind Episoden, kleine Stationen (Stationenroman nennt es der Autor), die das ganze Leben von Peter (*1929) prägen. Und nicht nur ihn, sondern auch viele Teile der Weltpolitik, welche sich aus so manchen kleinen Konstellationen gestalten. Das Leben von Peter verläuft nach der klassischen Diplomatenstruktur. Viele politische Ämter, vom Gesandten bis zum Botschafter, dazu eben so viele bereiste Länder und Wohnorte. Dazwischen das Private, das eigentliche Leben, welches selbst immer wieder ein kleiner Prüfstein an die eigene Flexibilität darstellt. Beruf und Familie lassen sich so nur mit vielen Kompromissen unter ein Dach bringen. Pflichtbewusstsein ist hierbei ein Schlagwort – eben Diplomatie im Kleinen wie im Großen, um alles am Laufen zu halten.
Dietmaier greift hier auf eher unbekannte politische Ereignisse zurück, viele davon spielen sich in Klein- und Kleinststaaten ab, haben aber dennoch einen Einfluss auf das große Weltgeschehen.
Er schafft es zum Beispiel, einen Bogen vom Inselstaat Nauru zu Österreich zu schlagen. In weiterer Folge kommt auch das Dilemma um Kurt Waldheim zur Sprache. Einst UN-Generalsekretär, später österreichischer Bundespräsident mit NS-Hintergrund und anschließender politischen Isolation. In wenigen Zeilen, auch mittels Dialogtechnik, wird diese Episode plastisch dargestellt.
Der Roman selbst ist ein Meisterwerk an Recherche. Und zuletzt auch ein mehr als gekonnter Versuch, weniger bekannte Begebenheiten der Weltgeschichte spannend und unterhaltsam in eine Erzählung mit privatem Hintergrund einzubetten. Das Leben des Diplomaten Peter entwirrt ein Kaleidoskop aus mannigfaltigen, politischen Bildern rund um den Globus zu einem Ganzen.
Der Sprachstil ist direkt, nüchtern, und kommt ohne großen Umschweifen zum Kern.
Eine wunderbar gestaltete Symbiose aus „Leben“ und Politik und eine klare #Leseempfehlung für alle, die gerne mal etwas „anderes“ lesen möchten.

Bewertung vom 10.04.2024
Ein schönes Ausländerkind
Toxische Pommes

Ein schönes Ausländerkind


ausgezeichnet

Wunderbare autofiktionale Erzählung über Integration, lakonisch, humorvoll

Die Ich-Erzählerin berichtet von ihrem Aufwachsen in Österreich – genauer gesagt in Wiener Neustadt, was so gar nichts mit dem Wien zu tun hat, wie es sich ihre Eltern wohl vorgestellt hatten. Aber sie hatten dennoch so etwas wie Glück, bei Renate samt Mann und seltsamen Spross untergekommen zu sein, nachdem sie aus Ex-Jugoslawien zu Beginn des Balkankrieges geflohen waren. Die Mutter versorgte den Haushalt von Renate, versuchte sich zu integrieren, und schaffte es im Laufe der Zeit die Approbation ihres akademischen Grades, den sie in Montenegro erworben hatte und in Österreich nichts galt. Ihr Vater, ein Serbe, half hie und da aus, verlor sich im Putzfimmel, hatte nie einen richtigen Job. Und das mit der deutschen Sprache … aber Sonderangebote konnte er shoppen, en masse.
Die Erzählerin glänzte in der Schule mit lauter Einsern, ging zum Schwimmtraining, und unterstütze ihren Vater im Aufpeppen seiner spärlichen Deutschkenntnisse.
Und dazwischen: Alltagsrassismus, das Ausgenütztwerden durch Renate, und der harte Versuch der absoluten Integration. Der weibliche Teil der Familie hatte es geschafft, mit viel Entbehrungen und Fleiß.
Die Autorin berichtet leicht, locker, in einer lakonischen Sprache von ihren Erfahrungen, ihrem Leben als Ausländerkind. Es ist sehr authentisch, mit der nötigen Prise Humor. Und schockierend ehrlich. Es dreht sich hauptsächlich um die Vater-Tochter-Beziehung, warum diese immer wieder auf einen sehr harten Prüfstand gestellt wurde, und schließlich zu einer Entfremdung führte.
„Ein schönes Ausländerkind“ wurde das Mädchen genannt.
S. 70: „Immer und immer wieder wurde mir versichert, ich sei ein schönes Ausländerkind. Nicht nur Renate, auch unsere Nachbarn und die Familien meiner Freunde betonten regelmäßig, wir seien nicht wie die anderen."
Im Prinzip ist es der Alltag einer Familie, welche eine zweite Heimat sucht, findet, und von den Schatten der Vergangenheit dennoch immer wieder eingeholt wird. Wunderbar autofiktional erzählt und somit eine ganz große Leseempfehlung für diesen Roman, der noch lange nachhallt.

Bewertung vom 02.04.2024
Eskalationsstufen
Rieger, Barbara

Eskalationsstufen


ausgezeichnet

Das Portrait einer toxischen Beziehung, geschickt in Szene gesetzt.

„Eine Liebesgeschichte und das Gegenteil davon“ - so lautet der erste Satz des Klappentextes. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Dieser simple Satz schraubt die Erwartung hoch, baut eine Spannung auf, obwohl der Roman noch gar nicht begonnen hat.
Und der Satz hält, was er verspricht. Es fühlt sich anfänglich an wie eine Romanze, ja beinahe wie ein Match „Made in Heaven“. Eine Beziehung entwickelt sich, baut sich auf, bettet sich in Watte wie in einem gemütlichen Nest. Und dennoch wartet man beim Lesen auf die Dornen, die durch diese flauschige Zweisamkeit stechen. Aber werden sie überhaupt stechen? Passiert denn was?
„Es wird eskalieren“ verspricht eine weitere Ankündigung.
Ohne jetzt viel zu spoilern: der Himmel wird dunkler, kurzes Donnergrollen, wieder lichte Momente, ein Nachgeben. Dabei glaubt man, dass manche Zeichen von außen gesehen offensichtlich sind. Oder doch nicht. Situationen, türmen sich auf …
Julia malt Baumfiguren, hat mit Ausstellungen aber noch mäßige Erfolge. Sie trifft auf Joe, der schon mit mehr Ausstellungen und Erfahrung punkten kann. Er malt Portraits von toten Frauen, und suhlt sich im Schmerz, dass seine Frau verschwunden (und mittlerweile für tot erklärt) ist. Er zeigt sich empfindsam, tritt als Gönner und Förderer von Julia auf. Irgendwann wird mehr daraus, eine Beziehung wächst. Julia, obwohl noch in einer festen, aber offenen Beziehung mit David (der selten zu Hause ist), beginnt sich in Joe zu verlieben. Zuerst dachte sie, es sei nur körperlich, doch das Herz sagt ihr eines Tages etwas anderes.
Bald schlittert Julia, vorerst äußeren Einflüssen geschuldet, in eine Art Abhängigkeit von Joe. Von David verlassen, aus der gemeinsamen Wohnung gedrängt, zieht sie bei Joe ein. Die erhofften Freiräume gestalten sich bald als gläserne Tresore. Joes narzisstische Eigenarten, sein toxischer Drang Julia besitzen zu wollen, tragen ihr nötiges dazu bei. Als dann auch noch die Pandemie beginnt … mehr möchte ich nicht verraten: LESEN!
Der Titel ist sehr geschickt gewählt. Die Autorin erklärt im Nachwort an welche Kriterien sie sich gehalten hat, um den Plot aufzubauen. Damit komponiert Barbara Rieger einen hervorragenden Roman, der von seinen Zuspitzungen (Eskalationen) und deren Abschwächungen lebt, Wellen gleich, die stetig höher schlagen.
Der Satzbau ist knapp, prägnant. Oft lässt Rieger die Sätze mit einem kurzen „ ,aber“ abbrechen. Der Verdacht, welchen man beim Lesen hat, wird so geschickt bestätigt. Auf der anderen Seite wirft dieses geniale Textkonstrukt Fragen auf, ob es tatsächlich so ist, wie man es vermutet und sich hineinversetzt. Und dann möchte man immer wieder in Zeilen hineingreifen, die Handlung aufhalten, das Offensichtliche abwehren. Ganz große Erzählkunst!
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen herausragenden Roman.

Bewertung vom 31.03.2024
Ein Film (3000 Meter)
Català (Pseudonym) Albert i Paradís, Víctor (Pseudonym) Caterina

Ein Film (3000 Meter)


ausgezeichnet

Eine fulminante, epochale Geschichte von 1926 aus Katalonien, in deutscher Erstübersetzung

Hinter dem Namen Victor Catala verbirgt sich die katalanische Autorin Caterine Alberti i Paradis. Damit ihre Romane überhaupt veröffentlicht wurden, musste sie ein männliches Pseudonym annehmen. Der vorliegende Roman erschien 1926, und liegt nun in der deutschen Erstübersetzung vor. Der Titel resultiert aus verwendeten Filmtechniken, um diesen sehr spannenden Roman zu erzählen.
Nonat wächst in einem Waisenhaus auf. Er möchte unbedingt adoptiert werden, ausbrechen aus seiner eingrenzenden Welt. Irgendwann wird sein Wunsch Wirklichkeit. Ein Schlossermeister nimmt ihn auf, behandelt ihn wie einen Sohn, lehrt ihm das Handwerk. Schon bald entpuppt sich Nonat als sehr geschickter Schlosser, und auch sein organisatorisches Talent lässt keine Zweifel offen, dass er einen Betrieb führen könnte.
Doch das war ihm alles zu wenig. Er wollte mehr über seine Eltern wissen, und warum er im Waisenhaus landete. Auch bildete er sich ein, dass sein leiblicher Vater sehr vermögend sein muss. Seine Suche nach seinem richtigen Vater birgt immer wieder Rückschläge.
S. 69: „Doch als er sich nach den langen strapaziösen Stunden wieder nach Hause zurückzog, wie ein Irrlicht, das kalt glimmend zwischen Grabsteinen getanzt hatte, brachte er eine neue Enttäuschung mit, eine weitere zerplatzte Illusion.“
Aber er gibt nicht auf, auch wenn seine Suche in seinem Leben nicht immer die höchste Priorität hat. Nonat, sehr eitel, gibt für die Mode und sein äußeres Erscheinungsbild all sein Geld aus. Doch irgendwann muss er erkennen, dass nur das Äußere nicht alles ist. Ihm fehlt es an gewissen Umgangsformen, und vor allem auch an Bildung.
S.365: „Er begriff, dass seine Macht heutzutage keine Grenzen kennen würde, hätte er auf die Nahrung und Pflege seines Geistes ebenso viel Wert gelegt wie auf sein Äußeres, …“
Er wird wohl immer ein Schlosser bleiben, bis er eines Tages eine schicksalhafte Begegnung macht, die sein ganzes Leben auf eine neue Schiene setzt.
In diesem wirklich äußerst gut geschriebenen Roman geht es nicht nur um Nonat. Er ist die Leitfigur, der straffe Faden durch die Handlung. Die Autorin schuf mit diesem Werk ein kleines Epos mit vielen handelnden Personen, die alle mit Nonat in einer bestimmten Art und Weise in Verbindung stehen. Sie zeichnete auch ein gesellschaftliches Abbild Kataloniens, insbesondere von Barcelona und Girona der damaligen Zeit, mit tiefen Kenntnissen der unteren Schicht.
Die Sprache ist äußerst flüssig gesetzt, teils poetisch mit wunderbaren Sätzen, und wirklich spannendem Flow. Es gibt zwar, wenn neue Personen auftreten, immer wieder kleine Abschweifungen zu deren Herkunft und Leben, aber es fügt sich dann zusammen, was zusammen gehört, zu einem großen, einheitlichen Ganzen. So gesehen, mit all den Einflechtungen, kann man wirklich von einem Film sprechen, der in seinen Handlungen Grundelemente der klassischen Tragödie beinhaltet, und mit den ganz großen Enthüllungen wirklich bis zum Schluss wartet.
Dieser Roman, diese fulminante Erzählung und ein Meilenstein des Werkes der Autorin, verdient ein großes Publikum. Ganz große Leseempfehlung und Riesenkompliment an die Übersetzerin Petra Zickmann.

Bewertung vom 26.03.2024
Der falsche Vermeer
Odijk, Patrick van

Der falsche Vermeer


ausgezeichnet

Perfekt recherchierter historischer Roman um einen gewieften Kunstfälscher.

Was für ein wunderbarer, fein herausgearbeiteter historischer Roman das doch ist. Spannende Unterhaltung pur, sehr gut recherchiert, und genug Raum, um neben all den Fakten Fiktion einfließen zu lassen.
Es geht um den Niederländischen Fälscher Han von Meegeren (1898 – 1947), einer der genialsten Kunstfälscher des 20. Jahrhunderts, im Roman heißt er Jan van Aelst.
Als Jugendlicher wollte er Kunst studieren, was ihm sein Vater verbot. Ein Architekturstudium sollte es sein, und heimlich besuchte er die Kunstakademie. Als Maler blieb er zeitlebens unbedeutend, aber er schaffte es, mit seinen Vermeer-Fälschungen, höchst angesehene Kunsthistoriker an der Nase herum zu führen. Und nicht nur das, auch Obernazi Göring betrog er und erleichterte ihn um sehr viel Geld.
Im Zuge des Aufbruchs nach 1945 gerät der Fälscher in den Fokus der Polizei und wird eingesperrt. Im wird Kollaboration mit den Nazis vorgeworfen.
Die sehr spannende Aufarbeitung des Lebens von van Aelst ist eingebettet in die Geschichte der Reporterin Meg van Hettema. Sie heftet sich gekonnt und mit Beharrlichkeit an die Fersen von Aelst, war den anderen Zeitungen, und auch der Polizei meistens eine Spur voraus, und konnte exklusiv von den Enthüllungen berichten.
Van Odijk lässt beide Hauptprotagonist:Innen geschickt miteinander interagieren. Beinahe spielerisch, und dennoch mit viel Geschick, verwebt er so die Lebensgeschichte des Fälschers mit der Politik der damaligen Zeit. Die Recherchen der Reporterin sind wie ein führendes Licht, welches nicht nur stur geradeaus leuchtet, sondern viel Raum links und rechts der Haupthandlung erhellt, ohne dass auf den über 500 Seiten auch nur ein Satz zu viel gewesen wäre.
Nebenbei schafft es der Autor, wunderbare Psychogramme von die handelnden Personen zu zeichnen. Das macht diese sehr plastisch, lebensecht – und man reist mit ihnen durch die Gassen und entlang den Grachten von Amsterdam oder Straßen von Den Haag.
Für mich hat hier der Autor einen herrlichen historischen Roman geschaffen, der mit seiner Detailtreue und Lebendigkeit bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Ganz große Leseempfehlung.

Bewertung vom 23.03.2024
Dorf ohne Franz
Dolovai, Verena

Dorf ohne Franz


ausgezeichnet

Ungeschönte Bilder vom dörflich geprägten Leben. Wunderbar erzählt!

Maria erzählt von ihrem Leben. Sie wächst auf einem Hof auf, Dorf und Land prägen ihr Leben. Bereits einer der ersten Sätze beschreibt allumfassend ihr Schicksal:
S.10: „..., in der Nacht, hielt mir Papa schließlich einen Zettel unter die Nase. Unterschreib! Hinter ihm Mama, Josef, Franz und der Herr Notar. Ich sag auf das Papier. Durchlesen musst du das nicht, meinte Papa. So ein Theater wegen einer Unterschrift, dachte ich und kritzelte meinen Namen auf die punktierte Linie. Erbverzicht stand oben drüber.“
Damit ist ihre Zukunft besiegelt als Magd in der eigenen Familie. Eine Ausbildung oder Lehre wird Maria von den Eltern untersagt. Sie bleibt eine billige Arbeitskraft am Hof, später wird sie wie selbstverständlich zur Pflege der gebrechlichen Alten abgestempelt. Ihr Bruder Josef bekommt alles. Sie und Franz nichts.
Franz ist das Nesthäkchen, von seiner Mutter verwöhnt, während an Maria all die Arbeit hängen bleibt. Eines Tages beschließt Franz, sich die Welt anzusehen, und geht. Das ist der Startpunkt des geistigen Verfalls seiner Mutter. Eine Mutter, die Maria gegenüber immer abweisend und böse war.
Von ihrer Heirat mit Toni, von dem sie dachte, er würde eines Tages die Wirtschaft seines Vaters erben, verspricht sie sich eine besser Zukunft. Doch es kommt anders. Auf Toni, mit einem starken Alkoholproblem, ist nicht verlass, sein jüngerer Bruder Ferdinand, mit dem Maria zuerst zusammen war, bekommt das Gasthaus. Für Maria bleibt nur ein Leben mit Gelegenheitsjobs, Arbeit am Hof, und Pflege über. Sie hilft wo sie kann und muss. Kleine und größere Katastrophen, die das Leben zwangsläufig anschwemmt, bleiben an ihr hängen wie Treibholz am Ufer. Sie erträgt es auf eine stoische Weise.
Eines Tages sieht sie die Chance, all dem zu entschwinden …
In düsteren Bildern, so wie das Leben auf dem Land nun mal spielt, erzählt uns die Autorin sprachlich gekonnt vom patriarchal geprägtem Dorfleben. Einmal gefangen in diesen Strukturen, scheint es kein Ausbrechen zu geben.
Verena Dolovai zeichnet ein ungeschöntes Bild vom Land, die (viel gepriesene) Idylle gibt es nicht. Und wenn doch, dann ist sie eine Seifenblase, die jäh zerplatzt. Das Leben wird als hart und entbehrungsreich angenommen und gelebt, eine andere Möglichkeit wird von vorn herein ausgeschlossen. Außer man macht es wie Franz, und bricht aus.
Ganz große Leseempfehlung für diesen Roman von Verena Dolovai . Ihr Sprachstil ist fesselnd, direkt, auch nüchtern. Inhaltlich möchte ich gerne Vergleiche zu Helena Adler (Die Infantin trägt den Scheitel links) oder auch Monika Helfer (Die Bagage) ziehen, allerdings mit dem kleinen Einwand, dass hier das persönliche Pathos zur Seite gestellt wird. Trotz der Ich-Erzählung besteht eine gewisse Distanz, die ihre volle Berechtigung hat. Also: kauft und lest das Buch! Es lohnt sich!

Bewertung vom 21.03.2024
Von Geistern und Schatten
Gay, Roxane

Von Geistern und Schatten


ausgezeichnet

Ein Buch voller Schicksale aus Haiti, eingepackt in 15 faszinierenden Stories

Die Autorin beglückt uns in diesem Buch mit fünfzehn Stories, einige gerade mal nur eine Seite lang. Es sind allesamt Erzählungen über Schicksale aus Haiti. Es geht so gut wie immer um das Thema der haitianischen Volksseele, um Identität, das Zurechtfinden in der eigenen und fremden Welt.
Wortgewandt, mit Espit, manchmal mit Humor, dann wieder mit der bittersten Härte des Lebens, bringen uns die Geschichten die Leben von verschiedenen Menschen näher. Meistens geht es um Auswander:Innen, die ein besseres Leben suchen.
Die Träume sind vielfältig, die Wünsche groß, und nicht selten fallen die Suchenden in die naive Blase von einer besseren Welt. Die bittere Enttäuschung, dass im gelobten Land Amerika auch keine gebratenen Tauben vom Himmel fallen, folgt auf dem Fuß. Und dennoch: aufgeben ist keine Option.
S.91: „Er trinkt langsam, so langsam, dass kein Eis mehr im Becher ist, wenn er endlich wieder aufsteht. Die eine Hot Pocket isst er, die andere hält er einfach nur fest. Er spürt die wohltuende Wärme und meint, die ganze Welt in den Händen zu halten.“
Trotz Arbeit in den USA (oftmals illegal), bleibt die Armut allgegenwärtig. Die großen Versprechen den zurückgelassenen Ehefrauen und Kindern gegenüber, diese binnen ein paar Monaten, sobald sich der Reichtum eingestellt hat, nachzuholen, zerplatzen wie Seifenblasen.
Sie wähnten sich trotz ihrer miserablen Lage in einer heileren Welt angekommen:
S. 18:“Viele Jahre lang hatten wir gar nicht bemerkt, dass unsere Eltern mit Akzent sprachen und ihre Stimmen für feindselige amerikanische Ohren anders klangen. Wir hingegen hörten nichts als Heimat.“
Die Texte reißen einen alle mit, ausnahmslos. Sprachlich gekonnt, wunderbar übersetzt von Eva Bonné, werden verschiedenste Bereiche angesprochen, seien sie politischer Art, queere Themen, Gewalt gegen Frauen, Hoffnungslosigkeit oder all die Vorurteile, welche Haitianer:Innen entgegengebracht werden. Nur weil ein Mädchen aus Haiti stammt, wird impliziert, dass dieses Voodoo praktiziert – eine wunderbar erzählte Geschichte, kurz und prägnant.
Absolute Leseempfehlung für dieses wunderbare Buch, welches trotz der brisanten Themen leicht und flüssig zu lesen ist. Am besten genießt man dieses Buch in Raten – Story für Story, um sie noch besser wirken zu lassen.

Bewertung vom 20.03.2024
Buchhaim / Die Stadt der Träumenden Bücher Bd.1
Moers, Walter

Buchhaim / Die Stadt der Träumenden Bücher Bd.1


ausgezeichnet

Eine wunderbare Adaption des Klassikers „Die Stadt der Träumenden Bücher“ als Graphic Novel.

Wie toll bitte ist diese Graphic Novel
Auf der Grundlage des Buches „Die Stadt der Träumenden Bücher“ von Walter Moers – eines meiner Lieblingsbücher für immer – erschuf hier Florian Biege eine sensationelle Graphic Novel. Dies ist der erste Teil „Buchhaim“. Im zweiten Teil geht es mit unserem lieben Protagonisten in die äußerst gefährlichen Katakomben.
Hildegunst von Mythenmetz trauert in der Lindwurmfeste um seinen Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler. Auf dem Sterbebett vermachte dieser Hildegunst ein Manuskript eines unbekannten Autors. Dieses Manuskript ist perfekt, einzigartig. Und so macht sich Hildegunst, der zu dieser Zeit noch kein Dichter ist, in die legendäre Bücherstadt Buchhaim. Dort möchte er nicht nur das Orm, jene Kraft, die einen beflügelt, die richtigen Worte aufs Papier zu bringen, finden, sondern auch den Verfasser jenes perfekten Manuskriptes. Dabei begibt er sich in allerhöchste Gefahr …
Die Aufmachung dieses Bandes ist einfach nur wunderbar. Die Zeichnungen sind voller Phantasie und Details, beinahe schon in 3D. Man wird regelrecht in diese zamonische Welt hinein gesogen. Und es bleibt auch nicht beim einmaligen Schmökern. Immer wieder gibt es in den Bildern etwas Neues zu entdecken. - Ganz große Kunst!
Moers hat den Text für diese Graphic Novel meisterhaft adaptiert. Ich bin erstaunt, wie es ihm gelang, mit wenigen Worten die Handlung derart treffend und spannend wiederzugeben. Ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen rundet den Band perfekt ab.
Absolute Leseempfehlung für dieses herrliche Werk. Es hätte eigentlich 10 Sterne verdien