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luisa_loves_literature
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Insgesamt 124 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2020
Beales, Finn

The Photography Storytelling Workshop (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

I thoroughly enjoyed this photography workshop and I’ve learned so much. Finn Beales takes you on a trip through the art of photography, sharing the secrets of the trade and behind-the-scenes insights. Even though there is of course an abundance of technical terms and technicalities, the book constantly kept me interested, which is mostly due to the great pictures that illustrate the points the author makes as well as the many small projects and exercises that are included in the workshop. I especially appreciate that the tasks are very precise, hands-on and easy to follow and try, so that you can really benefit from the attempt and the different techniques and improve your own photography. My favourite part are the explanations about colour theory and the moods and effects that can be created by complementing certain colours. The structure of the whole workshop is remarkably clear and definitely doable for beginners as well as, I believe, more advanced photographers. I highly recommend the workshop to everyone who wants to take and create better pictures.

Bewertung vom 17.11.2020
Blazon, Nina

Das Wörterbuch des Windes


sehr gut

Nina Blazons Roman über die Selbstfindung einer Frau Anfang 40 ist eine gelungene Beschreibung eines späten coming of age – unterhaltend, aber nicht seicht, manchmal allerdings zu lang.

Auf den ersten Blick bestand bei Sweas Geschichte sicherlich die Gefahr, dass hier auf allen Ebenen die Klischees einer „Inga Lindström“-Story bedient werden könnten – dies ist jedoch glücklicherweise nicht der Fall. Stattdessen präsentiert Nina Blazon eine sich äußerst zeitgemäß und modern anfühlende Geschichte einer Frau, die im mittleren Lebensabschnitt noch einmal einen Neustart wagt, Vernunft und Bravsein über Bord wirft und sich mit allen Sinnen, Gefühlen und auch Verzweiflung in ihr Leben stürzt. Die Darstellung des Lernprozesses und der damit einhergehenden Unsicherheiten ist authentisch und häufig frech genug, um den Leser auch über die zugegebenermaßen vorhandenen Längen zu tragen – manche Erfahrungen sind schlichtweg redundant, ein wenig Verschlankung hätte dem Roman gut angestanden.

Die Figuren, die den Roman bevölkern, sind gut konzipiert – teils verrückt, teils unbequem –
und alle mit einer Backstory versehen, die nicht nur den jeweiligen Charakter umfassend erläutert, sondern auch den Anreiz zur persönlichen Weiterentwicklung setzt. Obwohl alle Figuren einiges an Schwere und Konflikten erfahren haben, bleibt der Roman stets realistisch-optimistisch ohne allzu verschwenderisch mit Happy Ends umzugehen. Selbst die Anklänge an das Übernatürliche, das in Romanen oftmals eher merkwürdig und wenig sinnvoll erscheint, erhält hier einen durchaus überzeugenden Platz.

Island ist als Handlungsort so prägend und präsent, dass man es eigentlich ebenfalls als eigenständige Figur bezeichnen muss. Der Roman weist so viel Islandgefühl und Islandwirkung auf, dass man sich fast nach Reykjavik transportiert fühlt, und vor allem auch die Besonderheiten der Isländer gut verstehen kann. Das Wechselspiel zwischen dieser einzigartigen Insel und der besonderen Mentalität und Lebensart kommt bei Nina Blazon sehr gut zur Geltung.

Das Wörterbuch des Windes ist ein unterhaltender Roman mit ernsten Untertönen für Islandträumer, der leider zu lang geraten ist. Dies macht sich besonders auch in den letzten Kapiteln bemerkbar. Hier gab es so manchen Satz am Ende eines Kapitels, der sich ebenso gut als Schlusssatz des Romans geeignet hätte, und dem Leser dabei noch Raum zum eigenständigen Weiterdenken gelassen hätte. Stattdessen wird hier zu viel ausformuliert und das Ende immer wieder aufgeschoben, sodass es gerade zum Schluss etwas zäh wirkt.

Bewertung vom 15.11.2020
Harmel, Kristin

Das letzte Licht des Tages


weniger gut

Champagne in den 1940er Jahren: Inès ist die unfassbar naive und eifersüchtige Gattin eines Champagner-Unternehmers, die mit einer zugegeben nicht einfachen Situation so gar nicht gut umgeht. Im Jahr 2019 benimmt sich Olivia, Anfang 40, auch nicht gerade reif für ihr Alter. Am Ende werden die ab Seite 50 erwarteten Verwicklungen genau wie antizipiert aufgelöst.

Ich wollte diesen Roman unheimlich gern lesen, denn eigentlich liebe ich solche Geschichten: ich mag historische Romane, Verwicklungen, Liebe in Zeiten des Krieges etc. All das habe ich hier irgendwie nicht bekommen. Der Roman ist weder sonderlich gut gemacht, noch überzeugt er durch einen starken historischen Kontext oder gelungene Figurenzeichnung, insgesamt ist er eher enervierend, oberflächlich und vor allem unglaublich vorhersehbar. Sicherlich gehört er in die Kategorie der sogenannten "Unterhaltungsliteratur" (übrigens eigentlich ein Unwort, denn eigentlich darf Literatur ja immer irgendwie unterhalten), aber in der Sparte gibt es dann doch einige Bücher, die die Korken besser knallen lassen, mehr Esprit und Verve an den Tag legen, als dieser.

Der Aufbau der Geschichte sollte eigentlich Spannung bieten, aber die verschiedenen Perspektiven dienen hauptsächlich dazu, durch angezeigtes Wechseln der Fokalisierungsinstanz die Nickeligkeiten der beiden Protagonistinnen in Szene zu setzen, ihre gegenseitige Ablehnung, Minderwertigkeitskomplexe und Rivalitäten.

Inès ist ein unglaublich dummes und einfältiges Wesen, die prompt auch in die Fänge eines Nazi-Kollaborateurs gerät, während Céline die mutige, aufrichtige und überlegene Widerstandskämpferin gibt, die den Widerstand aber eher nebenbei betreibt, da dieser sie auch ihrem Herzensmann näher bringt. Olivia genannt Liv, ist im Jahr 2019 mit einer gescheiterten Ehe und einer neuen Amour befasst, ist aber so mit ihrem aufrechten Gewissen und pubertärem Verhalten ihrer Großmutter gegenüber beschäftigt, dass das obligatorische Happy End für fünf Seiten in Gefahr gerät. Die Figurenkonzeption hat mich so manches Mal an den Rand der Verzweiflung gebracht. Die geschilderten Gefühle wiederholen sich, sind nicht intensiv und komplex genug und versäumen es dadurch, den Leser zu berühren. Die Frauen sind allesamt so einfach gestrickt, dass man einfach erleichtert ist, dass es sich hier nur um Fiktion handelt.

Der historische Kontext bildet eigentlich nur den dramatisch-aufgeladenen Rahmen für diese Geschichte und genauso wird er auch abgehandelt: äußerst konventionell, stereotyp mit Allgemeinplätzen und name dropping - auch da kann und muss einfach mehr sein.

Hinzu kommt noch eine gehörige Note Kitsch zum Ende, die das ganze Drama mit Zuckerrand versieht - für mich leider nur sehr schwer zu verdauen. Gefallen haben mir eigentlich nur die Infos zur Champagnerherstellung...

Bewertung vom 07.11.2020
Scrivner Love, Melissa

Capitana / Lola Vasquez Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Eine Frau ist die Herrscherin über ein Drogen-Kartell in L.A. – diese, allen typischen Geschlechter-Stereotypen zuwiderlaufende, Ausgangssituation beherrscht den als Thriller eingestuften Roman Capitana von Melissa Scrivner Love. Die Hauptfigur Lola Vasquez ist dabei nicht nur Drogenboss, harte Geschäftsfrau, Killer und Ermittlerin, sondern auch Mutter, Tochter, Schwester, Freundin, Geliebte und eben Frau.

Der Roman ist eine positive Überraschung, denn statt einer einseitig harten und brutalen Thrillerhandlung, die einen mit atemloser Bedrohlichkeit und der ständigen Aussicht auf Gewalt bei der Stange hält (diese Elemente sind natürlich auch vorhanden), wartet der Roman vor allem mit der Studie einer jungen Frau in einer ungewöhnlichen Position auf, gefangen im Spannungsfeld von sozialen Erwartungen, gesellschaftlichen Geschlechternormen, kulturellen Traditionen und den Ansprüchen ihres kriminellen Tagwerks. So gerät der Text über weite Strecken zu einer Persönlichkeits- und Gesellschaftsstudie, die ein Licht auf die Situation der Latino-Gemeinde in Los Angeles und das belastete Verhältnis zwischen dem weißen Amerika und den US-Bürgern mit mexikanischen Wurzeln wirft und dabei besonderes Augenmerk auf die stereotype Wahrnehmung der Frauen richtet. Das ist sehr gut gemacht und gesellschaftskritisch aussagekräftig, allerdings werden zur Entlarvung der Klischees leider auch immer wieder Klischees bedient, so dass sich Roman quasi selbst auch wieder seine Kraft nimmt. Hier wäre eine deutlichere Ablösung von erwartbaren Mustern sehr wünschenswert gewesen.

Die eigentliche Thrillerhandlung wartet mit einigen Überraschungsmomenten auf, aber der Thrill bleibt in Capitana eher Unterfütterung und Nebenhandlung für die Charakterdarstellung und Entwicklung Lolas. So wirken die Überfallszenen, Schießereien und Entführungen meist recht bemüht und künstlich, wenn nicht gar sehr unrealistisch – so als ob das Herz der Autorin eigentlich für die anderen Passagen schlägt, in denen Lola mit ihrer Rolle als Mutter, Schwester und Freundin hadert. Lolas leichte Orientierungslosigkeit in ihren sozialen Funktionen wird sehr gut durch den dosierten und zurückhaltenden Schreibstil gestützt, der allerdings etwas zu deutlich dazu neigt, Lolas Überforderung mit und vielleicht sogar Abneigung gegenüber ihren Positionen zu unterstreichen.

Da der Roman aber gerade in diesen Teilen einen sehr guten Spannungsaufbau hat und hier sehr interessante Einblicke in ein zutiefst geteiltes L.A. offenbart, lohnt sich der Roman. Er bietet ein unterhaltsames, interessantes und fesselndes Leseerlebnis für alle, die eher eine komplexere Figurenentwicklung als rasanter und packender Nervenkitzel reizt.

Bewertung vom 05.11.2020
Bailey, Catherine

Bis wir uns wiedersehen


ausgezeichnet

Der etwas kitschig klingende Titel lässt kaum vermuten, dass sich hinter dem Cover ein unglaublich erschütterndes, spannendes, nervenaufreibendes und sehr gut recherchiertes Sachbuch mit hoher Lesbarkeit verbirgt. Bis wir uns wiedersehen erzählt die Geschichte Fey von Hassels, Tochter eines der Widerstandskämpfer des 20. Juli, und ihre Odyssee durch die Grausamkeiten des zerfallenden Deutschen Reichs.

Die Tatsache, dass Fey ihre beiden sehr kleinen Söhne weggenommen werden, ist zwar der vermeintliche Ausgangspunkt dieses Buches, gerät aber schnell zu einer Nebenhandlung, denn den eigentlichen Mittelpunkt bildet Feys Überleben, ihr ständiges Bangen um ihre Familie und ihr von Gefangenschaft, KZ-Verlegungen, Solidarität unter den anderen Sippenhäftlingen und Ungewissheit geprägtes Leben von der Verhaftung bis zum Kriegsende.

Catherine Baileys recht rationaler (leider an einigen Stellen etwas ungelenk übersetzter) Stil, entfaltet gerade aufgrund seiner Nüchternheit einen Reiz. Dieses Buch ist ein Sachbuch und will auch kein Roman sein - muss es auch nicht, denn die Dinge, die hier von der Autorin beschrieben werden, sind so unfassbar, dass man sie sich kaum besser bzw. schrecklicher ausdenken könnte. Das Leseerlebnis ist gerade deshalb und in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um Fakten, Augenzeugenberichte und Erinnerungen verschiedenster Personen handelt, die zu einem sehr komplexen Teppich verwoben wurden, außergewöhnlich intensiv. Die detailreichen Schilderungen, die Exkurse über Dinge, die Feys Schicksal nicht unmittelbar betreffen (wie z.B. das Vorgehen der Roten Armee in den Städten Ostpreußens, die perfide KZ-Organisation, die Vorgeschichte des Wiesenhof), aber unglaublich interessant sind, entwerfen ein sehr umfassendes Bild der Geschichte und der Zeit. Der Leser bekommt den Eindruck, dass hier nichts vergessen, nichts ausgelassen wurde. Jede noch so kleine Ecke Wissen wird ausgeleuchtet, sodass eine nachhaltige Wirkung entsteht. Das Buch ist in jeder Hinsicht außerordentlich lehrreich.

Hinzu kommt, dass die Geschichte (obwohl real) ungeheuer spannend ist. Oftmals kann man das Buch kaum weglegen und tut es nur, weil das Furchtbare nicht mehr zu ertragen ist. So etwas muss ein Sachbuch erst einmal schaffen! Ich bin davon so begeistert, dass ich auf jeden Fall sehr gern noch weitere Bücher von Catherine Bailey lesen werde.

Bewertung vom 02.11.2020
Eich, Eva

Escape Room Adventskalender. Die drei unheimlichen Geschenke


sehr gut

Auch wenn die titelgebenden "drei Geschenke" eher mysteriös als "unheimlich" sind, so macht dieses Adventskalender-Escape-Room-Abenteuer dennoch richtig Spaß.

Als die zwei Geschwister Toni und Luka ein Hilferuf des Weihnachtsmanns erreicht, zögern die beiden nicht lang und stürzen sich in die Mission. Der Leser darf die beiden bei ihrer Aufgabe begleiten, wobei die Geschichtenhäppchen jeden Tag eine gute Länge haben, die zum Selbst- aber auch gemeinsamen Lesen gut geeignet ist. Die Story hat für Kinder einen guten Spannungsgrad und enthält auch zusätzlich auch noch den einen oder anderen pädagogischen Subtext, wie z.B. die "wahren" Weihnachtsgeschenke. Die Rätsel sind sehr abwechslungsreich, haben oft einen schönen weihnachtlichen Bezug und sind vom Schwierigkeitsgrad für acht- bis neunjährige Kinder sehr passend, einige sind dabei sogar recht knifflig, da braucht es dann schon mal erwachsene Unterstützung.

Was mir persönlich nicht ganz so gut gefallen hat, waren die etwas lieblosen Zeichnungen, die sehr viel von einer Computergrafik hatten. Vielleicht geht es bei einem Escape-Room-Abenteuer nicht anders, aber da hätte ich mir etwas mehr Wärme und Weihnachtstouch gewünscht.

Alles in allem aber ein sehr gelungener, interessanter, unterhaltsamer und abwechslungsreicher Adventsspaß zum (gemeinsamen) Rätseln!

Bewertung vom 29.10.2020
Kolakowski, Nick

Love & Bullets


weniger gut

Fiona und Bill sind ein kriminelles Paar. Warum sie zusammen sind, erfährt man nicht wirklich, wer sie sind eigentlich auch nicht, und was der Roman soll, erschließt sich ebenfalls nicht.

Nach einer herrlich ironischen, mit zahlreichen Perspektivenwechseln gespickten, Leseprobe und mit der Aussicht auf einen Wackel-Elvis auf dem Cover, bin ich sehr neugierig und erwartungsfroh in den Thriller gestartet. Und ja, einen Thriller habe ich bekommen: ein „Crash, Boom, Bang“ jagt das nächste, eine Leiche folgt der anderen, ein Blutrausch schlägt die nächste Gräueltat. Dieser Roman liefert Thrill der einfachsten Sorte und wäre sicherlich als Vorlage für ein B- oder gar C-Action-Movie bestens geeignet gewesen – als Roman funktioniert es leider nicht. Ich fühlte mich die ganze Zeit in einen Roman zu dem Film Irgendwann in Mexico versetzt, so sehr liegt der Fokus hier auf Schauwerten, Action, Verfolgungsjagden und Schießereien – und was das angeht, ist der Text sogar begrenzt unterhaltsam. Einen tatsächlichen Plot sucht man dabei allerdings vergeblich: hier wird allenfalls fröhlich eine Spur der Verwüstung durch die Karibik und die USA gezogen und geprügelt und geklaut, was das Zeug hält, ohne dass eine wirkliche Sinnhaftigkeit erkennbar wäre – sicher, Fiona und Bill sind auf der Flucht vor einem Gangsterboss, aber als Leitmotiv für über 400 Seiten ist das schon etwas wenig. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Figurenzeichnung ebenfalls äußerst dünne ist – da nützen mir auch Bills und Fionas kurz eingestreute Vorgeschichten nichts. Der cool-lässige Erzähler des ersten Drittels, der skurrile Killer, der Elvis liebt und eine vielversprechende Erzählerstimme hat, verschwindet bereits auf S. 119 wieder, dafür taucht auf einmal aus dem völligen Nichts Fionas Vater im letzten Drittel auf. Bei so viel rabiater Handlungs- und Figurenführung kann man dann als Leser schon mal genervt aufseufzen. Darüber hinaus fehlte mir die titelgebende „Love“ fast völlig, die auf der vorletzten Seite eingestreute „Gangster-Romantik“ rettet das vermeintliche Liebes-Thema auch nicht mehr.

Bewertung vom 24.10.2020
Harvey, Samantha

Westwind


sehr gut

Samantha Harveys Roman Westwind ist ein Roman, der nicht ganz einfach zu rezensieren ist, da man mit jedem Satz Gefahr läuft, etwas preis zu geben, was lieber ungesagt bleiben sollte. Hierin ähnelt man als Rezensent auf unheimliche Art der Erzählinstanz des Romans: John Reve, Pater, Beichtvater und geistliches Oberhaupt von Oakham, der sich nach dem Verschwinden des reichen und beliebten, aber auch reformgeistigen, Bürgers Thomas Newman (die Bedeutung des Nachnamens kommt nicht von ungefähr – dies gilt auch für den Namen des Großgrundbesitzers Townshend) der Herausforderung stellen muss, das Verschwinden aufzuklären und seine Schäfchen zu beschützen.

Das herausragende und außergewöhnlich gut umgesetzte Merkmal dieses Romans ist seine Erzählstruktur. John Reve, der sich allmählich als unzuverlässiger Erzähler entpuppt, berichtet chronologisch rückwärts von den Umständen um Newmans Verschwinden. Er beginnt also an Tag 4 und endet mit dem Tag, an dem Newman das letzte Mal gesehen wurde . Die Art, wie es Harvey gelingt, den Leser trotz dieser anspruchsvollen Erzähltechnik nicht vollends zu verwirren, graduell immer mehr und vor allem Tag für Tag sich ergänzende Informationen zu enthüllen und im Grunde schon auf Seite 111 von 350 die passende Endnote des Romans zu setzen (keine Sorge, man erfährt hier dennoch nichts, was die Auflösung vorwegnähme) ist bravourös. Ebenso exzellent gelingt es ihr, John Reves Perspektive zu nutzen. Er ist der Dreh- und Angelpunkt unserer eigenen Wahrnehmung – wir erleben und sehen die Geschehnisse und alle weiteren Figuren nur durch ihn, gefärbt durch sein Urteil und seine Absichten, seine eigene Position gegenüber seinem Selbst.

Erstklassig eingefangen ist auch die noch mittelalterlich geprägte, düstere und provinzielle Atmosphäre eines Dorfes am Ende des 15. Jahrhunderts mit seiner tiefen Gottesfurcht, Frömmigkeit und dem allgegenwärtigen Aberglauben und alten Bräuchen. Harvey macht mit leichter Hand sehr deutlich, wie beschwerlich, karg und begrenzt das Leben der Menschen war. Es gelingt ihr so ausgezeichnet, einen geeigneten Kontext für die wesentlichen Probleme und Zweifel ihres Romans zu schaffen, der sich mit den Grundfragen von Moral und Religiosität, menschlicher Einmischung und Bedürfnissen befasst und so bei aller zeitlichen Distanz durchaus auch deutliche Bezüge zur heutigen Gesellschaft und Kirche ermöglicht.

Trotz all dieser positiven Aspekte hat mich der Roman dennoch nicht vollends begeistert. Er ist zwar ein wunderbares, anspruchsvolles und viele Interpretationsmöglichkeiten anbietendes Schmuckstück von Literatur, aber ich konnte keine Nähe zu John Reve aufbauen und war an der Handlung meist nur mäßig interessiert , was mit den manchmal recht langen und langatmigen Ausführungen zur Religion zusammenhing. Wer darüber hinwegsehen kann, wird mit einem innovativen Erzählaufbau und sehr viel Stoff zum Nachdenken belohnt.

Bewertung vom 22.10.2020
Orriols, Marta

Der Moment zwischen den Zeiten


sehr gut

Paulas Lebensgefährte möchte nicht mehr mit ihr leben und verliert nur Stunden nach dieser Mitteilung sein Leben. Fortan ist Paula gefangen in einer Mischung aus Schweigen, Zorn, Wut, Arbeitseifer, Rachegelüsten, Verlust und vor allem Trauer – aber worum trauert Paula eigentlich?

Dies ist vielleicht nicht unbedingt die vorherrschende Frage des Romans, aber die, die sich mir nach der Lektüre des Buches, das ich in kürzester Zeit gelesen habe, aufdrängt. Natürlich trauert Paula um Mauro, den Mann, den sie für den Begleiter durch ihr Leben gehalten hat. Aber ihr Bedauern ist vielschichtiger. Sie betrauert Chancen vertan zu haben, Möglichkeiten zu spät genutzt zu haben, es sich in ihrer Beziehung zu bequem gemacht zu haben, den prägenden Verlust ihrer Mutter, die fehlende Zweisamkeit mit einem Partner, das Ende der Jugend, die sprachlose Beziehung zu ihrem Vater – und vor allem beweint sie sich selbst und das, was aus ihr geworden ist. Gefangen ist sie dabei in dem unsteten Versuch, wieder Halt zu finden und sich selbst als eigenständige Paula wieder im Leben zu verankern. Auch wenn sich diese Liste nach einem ganzen Katalog von Selbstmitleid anhört, versinkt Paula doch nie im Gram. Im Gegenteil – ihre Trauer ist von einem relativen, manchmal leider sehr unreifen, Aktionismus geprägt, der in seiner Darstellung den Roman lebendig macht und vor allem auf überzogene und langatmige Innenschauen verzichtet, die nur auf der Stelle treten. Diese ausgesprochen gut gehaltene Balance zwischen Introspektion und Aktion ist der Grund dafür, dass man als Leser mit großem Interesse das Trauerjahr der Protagonistin begleitet.

Paulas Figur ist äußerst lebensecht. Ihre Handlungsweisen sind zwar nicht immer unbedingt nachvollziehbar, unterstreichen aber so, dass jeder Mensch seinen individuellen Weg der Trauer – noch dazu in der hier geschilderten, außergewöhnlichen Situation – gehen muss. Sympathisch ist mir Paula jedoch nicht, sie wäre von ihrem Wesen und ihren Gedanken und vor allem auch von ihrer Art her, mit anderen Menschen umzugehen, sicher nicht meine Freundin. Aber auch hier: alles, was sie tut und fühlt, passt haargenau zu der Figur, die Marta Orriols dem Leser präsentiert.

Was den Romanaufbau anbelangt, sind besonders die sehr gelungenen Zwiesprachen mit Mauro hervorzuheben, in denen Paula Einblicke in eine verletzlichere, sanftere Frau gewährt und in denen der stumpfe Schmerz des Verlustes greifbar wird. Der Roman besticht insgesamt durch treffende Sprache und oft auch punktgenaue Beobachtungen zu Verlust und Verlassen, allerdings habe ich mich an ebenso vielen Gemeinplätzen und abgedroschenen Weisheiten, die den Text durchziehen, gestört.

Der Roman hat mich mit seiner außergewöhnlichen Thematik beeindruckt und beschäftigt, aber Paulas einsame, scharfe Trauer bleibt mir bei aller Authentizität fremd. Lesenswert ist Der Moment zwischen den Zeiten auf jeden Fall – denn irgendwie trauern wir alle immer um etwas.

Bewertung vom 19.10.2020
Attenborough, David

A Life on Our Planet


ausgezeichnet

David Attenborough’s statement is a clever, wise and heart-breaking assessment of the state of our home, the Earth. Subdivided in three parts – roughly speaking: the past, the present, a possible future – it holds up a mirror to what humanity has done to its home, the negative impacts of humans’ striving for wealth and comfort and the cost of that quest to ourselves, our children and nature. All of this is underlined by vivid and understandable examples, such as Chernobyl, which is used as a point of reference to judge the scale of the current catastrophe. Attenborough’s account is well-written, well-explained, evidence-based and extremely reader-friendly. Even if you have no real understanding of the chemical, biological and social processes that inform the current state of our planet, Attenborough makes sure that you are absolutely able to grasp the links between the different pieces that are responsible for climate change and other factors that cause the deterioration of our natural environment. He also makes it abundantly clear, that we are all in the same boat and that only we can change this development. In fact, his call to action and the perspectives and examples he provides of measures and projects that are already taking place are another asset of this book, as, although it deals with a bleak and disturbing subject, it still does not leave you utterly hopeless. At the moment there may only be a silver lining, but if Attenborough’s statement manages to be read by a wide audience, governments and policies will change even more profoundly. It is to be hoped that the world leaders will hear him. I absolutely recommend this book to everyone. It is important, it celebrates our planet, it stresses the need for biodiversity and political and economic change – and it tells you that it is not too late.