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Forti

Bewertungen

Insgesamt 211 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2019
Kelley, William Melvin

Ein anderer Takt


sehr gut

William Melvin Kelleys Debüt versetzt den Leser in die Südstaaten der USA Ende der 1950'er Jahre. Wie auf ein geheimes Signal hin, verlassen alle Schwarzen den unbenannten Bundesstaat. Die weiße Bevölkerung bleibt ratlos zurück, sucht Erklärungen, weiß nicht, ob und wie sie reagieren soll. Es ist klar, dass dieser Exodus einen Wendepunkt bedeutet.

Dabei schreibt der afro-amerikanische Autor ausschließlich aus der Sicht der weißen Bevölkerung, was ein interessanter Schachzug ist – nicht nur, weil die genauen Umstände des massenhaften Aufbruchs mysteriös bleiben. Der tief verwurzelte Rassismus und der Glaube an die Legitimität einer weißen Vorherrschaft wird gerade durch diese Erzählform in verschiedenen Facetten beschrieben und es wird deutlich, dass sich diese Ansichten durch alle Bevölkerungsschichten ziehen. Das ist erschreckend, auch wenn bis zum Schluss die Hoffnung bleibt, dass sich an diesem System doch noch etwas ändern kann.

William Melvin Kelleys im Original bereits 1962 veröffentlichtes Debüt erscheint in Deutschland zu einem Zeitpunkt, in dem der Rassismus nicht nur in den USA wieder auf dem Vormarsch ist. Ein wichtiges, erschreckendes und mahnendes Buch.

Bewertung vom 15.08.2019
Suffrin, Dana von

Otto


ausgezeichnet

Mir hat Dana von Suffrins exzentrische Familiengeschichte sehr gefallen, aber ich denke, nicht alle werden meine Meinung teilen. Es ist eine ungewöhnlich erzählte Geschichte: sprachlich ist das ganze ambitioniert bis extravagant, blieb für mich aber immer gut lesbar. Dazu ist "Otto" auch kein klassischer Roman. Die Handlung ist überschaubar – in der Gegenwart passiert recht wenig, stattdessen wird in Rückblicken die ungewöhnliche Familiengeschichte des 'Ostjuden' Otto B. erzählt. Otto lernen wir als alterndes, krankes, aber nichtsdestotrotz despotisches Familienoberhaupt kennen. Die Ich-Erzählerin – Tochter von Otto – erzählt in Rückblicken die Geschichte der Familie B. oft mit bitter-bösem Humor und immer schonungslos. Vor allem in der Geschichte der Kernfamilie von Otto und seinen Töchtern scheint es als würde keine Verfehlung oder Schwäche der einzelnen Familienmitglieder ausgelassen werden. Davon gibt es jede Menge, aber es gibt auch immer wieder liebevolle Momente und einen bemerkenswerten Familienzusammenhalt bis zum Schluss, sodass der Roman nie schwermütig wird. Auf der anderen Seite wird auch die Geschichte der osteuropäisch-jüdischen Vorfahren von Otto erzählt, die weniger interne Konflikte birgt, dafür mit einer weitreichenden Migrationsgeschichte fasziniert. Der Holocaust spielt in dieser Geschichte nur eine Nebenrolle.

Die Vermutung, dass das Buch familienautobiographisch inspiriert ist, hat sich mir immer wieder aufgedrängt. Die Autorin scheint jedenfalls ganz nah dran an dem von ihr Erzählten. Für mich war es eine sehr intensive Geschichte

Eine ungewöhnliche Familiengeschichte, keine heile Welt und eine ambitonierte Erzählform. Wenn man sich aber darauf einlässt wird man meiner Meinung nach gut und anspruchsvoll unterhalten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.08.2019
Kitson, Mick

Sal


sehr gut

Der Roman über die Ich-Erzählerin Sal und ihre Schwester Peppa ist eine tragische aber oft auch liebenswerte Geschichte mit prägnanten weiblichen Charakteren. Eindrücklich beschreibt die 13-jährige Sal einerseits das (Über-)Leben in der schottischen Wildnis und das vertraute Miteinander der beiden, andererseits aber auch die bittere Vorgeschichte, wie es zur Flucht der Schwestern kam. Dabei wird sie nie sentimental, stattdessen zeigt sich auch in der Erzählweise das beschriebene: Sal musste schon ihr ganzes junges Leben lang mehr Verantwortung übernehmen als es Kinder ihres Alters tun sollten. Dementsprechend abgeklärt – aber nicht abgekühlt – erzählt sie.

Wie wahrscheinlich es ist, dass ein 13-jähriges Mädchen so durchdacht und vorausschauend handelt ohne dabei Fehler zu machen, fällt mir schwer zu beurteilen – theoretisch halte ich es aber für möglich. Trotzdem sollte man die gesamte Geschichte von Mick Kitson wohl nicht zu genau auf ihre Realitätsnähe hinterfragen.

Alles in allem aber eine lesenswerte Geschichte über zwei junge Schwestern. Sprachlich und erzählerisch gut umgesetzt.

Bewertung vom 27.07.2019
Nielsen, Kaspar Colling

Der europäische Frühling


sehr gut

"Der europäische Frühling" startete für mich beschwerlich. Die ausufernden Rückblicke, ohne dass sich absehen ließ, worauf das alles hinaus läuft. Die Altmännerphantasiewelt von Christian. Die seltsamen Blicke in die Zukunft.
Aber keine Angst: nach und nach nimmt das alles Form an, die Zusammenhänge werden klar und Emma bildet endlich einen Gegenpart zur Weltsicht der Elterngeneration. Mit den gegensätzlichen Kolonien Lolland und Frederiksstad, gesellschaftlichen Konflikten und der Entwicklung intelligenter technischer Systeme wird eine Zukunftsvision gezeichnet, die durchaus möglich scheint, Anlehnungen an unsere Realität hat und die dabei auch ziemlich zynisch ist. Das ganze wird aus der Perspektive einer privilegierten weißen Oberschicht beschrieben, die sich abgrenzt und wenig bis keine Verantwortung für die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen übernimmt - ob man sich als Leser davon nun persönlich angesprochen fühlt (oder genau das Gegenteil) hängt wohl von einem selbst ab.
"Der europäische Frühling" ist für mich keine übliche Dystopie - die positiven (zumindest für den Teil der Bevölkerung, die hier im Mittelpunkt steht), utopischen Elemente nehmen dafür zu viel Raum ein.

Nicht alle Erzählstränge werden zu Ende erzählt und die Geschichte um die künstliche Intelligenz fand ich nicht ganz überzeugend, teilweise fast schon slapstickartig. Allerdings ist das mal etwas neues - so eine Zukunftsvision habe ich noch nie gelesen.

Insgesamt betrachtet hat Kaspar Colling Nielsen ein Buch geschrieben, das eine bitterböse Zukunftsvision zeichnet, das überaus kontroverse Charaktere hat und das zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 27.07.2019
Evans, Lissa

Fitz Fups muss weg


sehr gut

Die 10-jährige Phine und ihr Cousin Graham landen unvermittelt im fantastischen Wimbli-Land. Auf der Suche nach einem Weg zurück in ihre normale Welt, stoßen sie auf diverse Probleme, die sie mit ihren neuen Freunden versuchen zu lösen. Zusammen mit ihnen ist der titelgebende Stofffuchs Fitz Fups im Wimbli-Land gelandet, der als unfreiwillig komischer Tyrann über die Wimblis herrscht.

Für mich als erwachsene Leserin hatte die Geschichte zwischendurch Längen, Passagen in denen nicht viel passierte. Insgesamt ist das Buch zwar kein Pageturner, aber eine phantasievolle, ruhige Geschichte - zwischendurch auch mit etwas Aufregung und witzigen Szenen. Mir werden eher die liebenswert charakterisierten Protagonisten als die Handlung in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 02.07.2019
Daly, Maureen

Siebzehnter Sommer


sehr gut

Maureen Galy hat ein Buch über die erste Liebe geschrieben. Ein Teenagermädchen berichtet von ihrer ersten Freund. Hier würde ich normalerweise schon dankend abwinken, aber "Siebzehnter Sommer" ist anders als man erwarten könnte. Die 17-jährige Angie hat trotz aller Verliebtheit keine rosa-rote Brille auf, sieht realistisch in die Zukunft – manchmal wirkt sie schon fast zu abgeklärt. In jedem Fall ist sie aber eine sympathische Protagonistin.

Den Reiz dieses Buches machte für mich auch die Zeitreise in die späten 1930'er Jahre aus, in denen die Handlung spielt. Das Alltagsleben und auch das Dating, das hier unmittelbar aus der Zeit beschrieben wird, war für mich oft anders als erwartet und manchmal erstaunlich nah an unserem Alltag.
Zudem ist das Buch eine schöne, stimmungsvolle Beschreibung eines Sommers.

Eine ruhige, schöne Sommerlektüre, wenn man sich darauf einlässt!

Bewertung vom 18.06.2019
Whitehead, Colson

Die Nickel Boys


ausgezeichnet

Nach dem großen Roman über die amerikanische Sklaverei "Underground Railroad" hat Colson Whitehead sich auch in seinem neuen Roman "Nickel boys" wieder den US-amerikanischen Rassismus als Thema vorgenommen. Diesmal ist es ein weniger prominentes, teils immer noch totgeschwiegenes Thema: die Misshandlungen Jugendlicher in Besserungsanstalten. Hierbei verschweigt der Autor nicht, dass dies natürlich auch weißen Jugendlichen passiert ist, konzentriert sich aber auf die Geschichte der schwarzen Jugendlichen. Wie mühsam und unangenehm die Aufarbeitung dieser Verbrechen ist, kann man in Deutschland wohl gut nachvollziehen, wo man sich schon lange mit dem Thema Missbrauch in Heimen (zwar ohne Rassismus und Todesfälle, aber dennoch ungerecht und unrecht) mehr oder weniger auseinander setzt.
Colson Whitehead beschreibt die Realität in einer Besserungsanstalt aus der Sicht des 15-jährigen Elwood, der beste Chancen darauf hatte, durch Bildung seinem eher chancenlosen Umfeld zu entkommen, und der dann aber unvermittelt und unschuldig in eine Besserungsanstalt geschickt wird. Beschrieben wird außerdem der Alltag außerhalb der Anstalt, der in den 1960`er Jahren im Süden der USA immer noch von Rassentrennung und vielen Ungerechtigkeiten geprägt ist. Dies setzt sich in der Anstalt fort.
Dass es in den ganzen USA immer noch latenten bis offenen Rassismus gibt, wird spätestens in den Passagen, die im Jahr 2014 spielen, klar.

Geschrieben ist dies nicht sentimental, aber dennoch zu Herzen gehend. Die Geschichte wird mir lange in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 11.06.2019
Sok-Yong, Hwang

Die Lotosblüte


gut

Der südkoreanische Autor Hwang Sok-Yong schafft mit "Die Lotosblüte" einen Rundumschlag in der ostasiatischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Verdichtet am Schicksal der als 15-jährigen verkauften Chong wird aus verschiedenen Städten und Ländern berichtet. Thematisiert wird das alltägliche Leben der Menschen in einer Zeit des Wandels, aber auch Menschenhandel und Politik werden angesprochen. Klar wird, dass es zwischen den verschiedene ostasiatischen Völkern Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede gibt. Interessant auch, dass hier schon die Globalisierung der Welt zu erkennen ist – einerseits in der Migration und Vermischung der verschiedenen asiatischen Bevölkerungsgruppen, die meist friedlich mit- oder nebeneinander leben, andererseits im wachsenden Einfluss westlicher Staaten in der Region.

Oft fiel es mir, die ich mich in der Geschichte Asien nicht gut auskenne, aber etwas schwer, das Beschriebene räumlich und zeitlich einzuordnen. So fehlt im/am Buch schon die grundlegende Information, dass die Handlung im 19. Jahrhundert spielt. Auch die Orte waren mir oft unbekannt oder mir war zumindest unklar, zu welchem Land/Herrschaftsgebiet sie in der Zeit gehörten. Im Glossar wird einiges, aber nicht alles erklärt. Meist konnte man der Handlung aber dennoch gut folgen, auch wenn manche Details vielleicht auf der Strecke blieben. Im letzten Viertel prasselt es dann aber nochmal mit historisch-politischen Umständen und japanischen Begriffen regelrecht auf den Leser ein. Das war etwas zu viel. Hier hätte ich fast die Lust verloren weiter zu lesen, wollte aber so kurz vor Ende nicht mehr aufgeben.

Sprachlich liest sich das Buch für mein mitteleuropäisches Empfinden oft etwas emotionslos bis hölzern. Die Personen werden zudem nur sehr oberflächlich charakterisiert. Das ist für mich ungewohnt und nicht ganz eingänglich, aber im Gänze doch akzeptabel – man liest hier immerhin ein Buch aus einer ganz anderen (Erzähl-)Kultur.

Man sollte Interesse und Offenheit mitbringen, dann kann man diesen fast 500 Seiten umfassenden Roman mit Gewinn lesen. Es handelt sich aber nicht um eingängliche, leichte Unterhaltungsliteratur.

Bewertung vom 27.05.2019
Bronsky, Alina

Der Zopf meiner Großmutter


sehr gut

Alina Bronskys neueste Geschichte "Der Zopf meiner Großmutter" spielt ein weiteres Mal unter russischen Kontingentflüchtlingen und wieder mal hat sie eine dominante Großmutterfigur geschaffen, die keinesfalls sympathisch ist, mir aber dennoch ans Herz wuchs. Max' Großmutter hat die kleine Familie fest im Griff, dominiert mit ihren Verrücktheiten den eigenen Ehemann und Enkel. Beide nehmen das recht lakonisch hin – auch nachdem der Großvater sich in eine andere Frau verliebt und das sowieso schon ungewöhnliche Familienleben auf den Kopf stellt.
Nach und nach entwickelt sich aus Vergangenheit und Gegenwart eine Familiengeschichte, in deren Vergleich die eigene Familie auf einmal ganz normal wirkt – egal wie verrückt sie sein mag. Anders erzählt, wäre diese ungewöhnliche Familiengeschichte wohl ganz schon dramatisch und entweder zu übertrieben oder aber langweilig. Alina Bronsky zeichnet die Figuren aber liebevoll, sodass sie mir alle ans Herz gewachsen sind. Im Zentrum dieser herrlich verrückten Geschichte steht die Großmutter, die das beste will, dabei aber ständig über das Ziel hinaus schießt. Man kann ihr nicht wirklich böse sein – auch die anderen Protagonisten sehen zwar ihre krankhafte Dominanz, schaffen es aber dennoch nicht, sich von ihr zu lösen und nehmen ihr ihre Art nicht wirklich übel.

Bevor die Geschichte und vor allem die Großmutter doch irgendwann anstrengend werden könnten, ist das verhältnismäßig schmale Buch auch schon beendet. Für mich war das genau das richtige Maß.
Der Witz in diesem Buch ist bitter-böse. Wenn man das mag und am besten noch einen kleinen Osteuropa-Faible hat, wird man hier prächtig unterhalten. Das Buch liest sich sprachlich locker und flüssig.