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Bücherbummler

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Insgesamt 127 Bewertungen
Bewertung vom 15.06.2022
Schlögel, Karl

Entscheidung in Kiew (MP3-Download)


gut

Seit über hundert Tagen oder seit über hundert Tagen plus acht Jahren herrscht Krieg in der Ukraine und jeden Tag werden wir mit Neuigkeiten aus einem Land konfrontiert, über das die meisten von uns bisher nicht viel gewusst haben, obwohl es flächenmäßig das zweitgrößte Land Europas ist. Dass das Interesse an diesem Staat steigt, kann man gut an dem vermehrten Angebot an Literatur, Podcasts und Dokumentationen zum Thema beobachten, und so stieß ich, nachdem ich einige Romane, die in der Ukraine spielten, gelesen hatte, auf das Sachbuch „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“ von Karl Schlögel.

Für alle, die, wie ich, ein Buch suchen, dass ihnen die Geschichte der Ukraine näher bringt und ihnen vielleicht auch verständlicher macht, warum es zu diesem Krieg kommen konnte, ist „Entscheidung in Kiew“ wohl nicht die richtige Wahl. Was Schlögel, der ohne Frage über ein immenses Wissen verfügt, hier präsentiert, sind eher literarische Sightseeing-Touren aus acht Städten, die anhand von Gebäuden und Gedenkstätten und von Zitaten von Zeitgenossen gestützt, sich der Geschichte vor Ort nähern. Viele dieser Porträts sind älteren Datums, die neuesten Kapitel stammen von 2015 nach der Besetzung der Krim.

Mir persönlich hat „Entscheidung in Kiew“ nicht wirklich weiter geholfen. Zum einen lag das sicher daran, dass ich zum Hörbuch gegriffen hatte (souverän gelesen von Timo Wisschnur) und als eher visueller Typ ziemlich verloren war. Dass Schlögel sehr dicht, um nicht zu sagen überladen, schreibt, hat es auch nicht einfacher gemacht, zumal er nicht damit zu rechnen scheint, dass seine Leser dermaßen ungebildet daherkommen, wie ich. Zu Begriffen wie „Massaker von Babij Jar“ und „Holodomor“, die mir in letzter Zeit öfter begegnet sind, konnte ich mir vielleicht das ein oder andere zusammenreimen, wirklich klüger bin ich aber immer noch nicht. Außerdem erschwert die Einteilung nach Städten einen chronischen Verlauf der Geschichte des Landes zu erfassen. Was mir aber am meisten gefehlt hat, waren Begegnungen mit Menschen, das Zusammensein mit der Bevölkerung, der Schlögel zwar eine umwerfende Gastfreundschaft zuschreibt, sie aber sonst weitestgehend außen vor lässt. Wie viel lebendiger hätten die Städte mit ein paar mehr eigenen Anekdoten und ein paar weniger zitierten Passagen werden können.

Sollte mich jemand fragen, ob er dieses Buch lesen soll, würde ich nicht davon abraten. Aber ich würde vorschlagen, sich viel Zeit zu nehmen und jeden Ort, Namen oder Gedenkplatz im Internet nachzuschlagen und anzuschauen. Wenn man auf diese Weise vorgeht, kann man bestimmt einiges aus der Lektüre mitnehmen. Denn was Schlögel kann, ist, sein Wissen mit Gefühl niederzuschreiben. Man merkt ihm an, wie ihm beide Länder, die Ukraine und Russland, am Herzen liegen. So fand ich gerade die ersten Kapitel, in denen er erklärt, wie er sein Buch aufgebaut hat und wie seine Beziehung zu diesem Teil der Erde entstanden ist und sich entwickelt hat, am stärksten.

Ein Sachbuch, das sich fraglos auf eine eher ungewöhnliche Art seinem Thema annähert. Und alleine darum schon aus der Masse heraussticht und seine Leser finden wird.

Bewertung vom 10.06.2022
Oksanen, Sofi

Hundepark


gut

Olenka hat den Weg gewählt, den nicht wenige junge und mittellose Frauen besonders in osteuropäischen Ländern nehmen: Sie hat sich als Eizellspenderin für reiche kinderlose Familien zur Verfügung gestellt. Doch Olenka hat Glück, schnell steigt sie in ihrer Firma auf, wird selbst zu einer jener Frauen, die für verzweifelte Paare mit Ansprüchen junge Spenderinnen oder Leihmütter auswählen.
Doch das ist Jahre her. Jetzt sitzt Olenka im Hundepark in Helsinki. Warum sie dort ist, welche Umstände sie gezwungen haben, ihr altes Leben aufzugeben, warum sie in Gefahr zu sein scheint, und wer die Frau ist, die sich zu ihr setzt und eine gute Bekannte zu sein scheint, deren Auftauchen nichts Gutes bedeuten kann… Das alles wird sich nur langsam erschließen, Puzzleteil für Puzzleteil. Und auch, wie weit alles zurückreicht, bis in Olenkas Kindheit.

„Hundepark“ von Sofi Oksanen war in meinem Fall ein klassisches Beispiel von falschen Erwartungen. Was ich zu lesen gehofft hatte, war ein Buch über das Geschäft mit Leihmüttern in Osteuropa und die Auswirkungen auf die Gesundheit und Psyche der jungen Frauen. Das war durchaus auch Thema, aber im Großen und Ganzen würde ich den Roman doch eher als Thriller einstufen. Als einen jener Thriller, in denen es in erster Linie um Macht und Machenschaften geht, um Kohle und Opium, um Verrat und Rache und natürlich um Geld. Also genau die Art von Thriller, die mich überhaupt nicht interessieren. Ich versuche hier also eine Rezension über ein Buch zu schreiben, dass ich normalerweise nicht hätte lesen wollen.

Wenn wir meine Enttäuschung über den Inhalt beiseite lassen, dann kann ich leider immer noch nicht behaupten, eine gute Zeit gehabt zu haben. Oksanen erzählt nicht chronologisch, springt zwischen den Zeiten, was unglaublich gut sein kann, es hier aber nicht ist. Meiner Meinung nach hätte dieser Roman durch Chronologie gewonnen, Oksanens Umgang mit der Zeit fand ich eher verwirrend. Darüber hinaus hatte ich das Gefühl, dass sie die Spannung bis zur Verzweiflung dehnen will. Was zur Folge hatte, dass ich überhaupt nicht mehr gespannt, sondern eher tiefenentspannt war, wenn denn tatsächlich mal was passierte. Ich habe lange gebraucht, um für mich zusammenzubasteln, warum die Protagonistin überhaupt so hysterisch unterwegs ist.

Womit wir bei den Figuren sind. Auch hier kann ich nicht in Entzücken verfallen. Dadurch, dass alles aus Sicht von Olenka erzählt ist, die sich in einem Umfeld bewegt, das von Zurückhaltung und Heimlichtuerei geprägt ist, erfahren wir nur wenig über die wahren Gefühle und Motive der anderen Personen. Ein bedauerlicher Mangel, denn einige von ihnen hätten mich mehr interessiert, als die Protagonistin.

Warum ich die Lektüre am Ende aber doch keine komplette Zeitverschwendung fand, liegt daran, dass man doch nebenbei einiges über das Geschäft und die traurigen Hintergründe der Leihmutterschaft und das Eizellspenden erfährt, über die jungen Mädchen, die oft keinen anderen Weg aus der Armut heraus sehen, zum anderen aber auch das ein oder andere über die (damalige) Situation in der Ukraine mitbekommt.

Insgesamt sicher kein schlechtes Buch, wenn man richtig drauf vorbereitet ist und sich dafür interessiert.

Bewertung vom 07.06.2022
Fang, Fang

Wütendes Feuer


ausgezeichnet

Die junge Yingzhi träumt von Freiheit und Reichtum. Um ihr Ziel zu erreichen, beginnt sie, in einer Karaoke-Band auf Hochzeiten und anderen Feiern zu singen, und scheut sich auch nicht, ihre körperlichen Vorzüge einzusetzen. Doch als sie schließlich durch eine unwesentliche Affaire schwanger wird, sieht Yingzhi sich gezwungen, den Vater ihres Kindes zu heiraten und ihre großen Träume auf andere Weise zu verwirklichen. Was sich als schwer erweist, denn ihr Mann entpuppt sich als arbeitsscheuer Trinker, der alles Geld zum Spieltisch trägt. Die Beziehung der beiden wird immer aggressiver und gewaltgeladener, bis Yingzhi den einen Schritt macht, der die Lage außer Kontrolle geraten lässt...

Das Erste, was mich in „Wütendes Feuer“ von Fang Fang geradezu angesprungen hat, war die Grobheit des Umgangstons. Selbstredend bin auch ich Opfer des stereotypen Glaubens an den jederzeit aufs äußerste höflichen Chinesen, aber wie hier, auch mit Respektspersonen wie Eltern und Alten, geredet wird… Da hätte ich selbst bei einer jener in den 1990ern so beliebten Talkshows die Augen weit aufgerissen.
Auf der anderen Seite wirkte der Text oft hölzern und unbeholfen auf mich, wobei es mir unmöglich ist, zu sagen, ob es so gewollt ist oder sich um ein Problem der Übersetzung handelt. Das sehr interessante Nachwort des Übersetzers Michael Kahn-Ackermann (unbedingt lesen!) lässt ahnen, dass die Übertragung keine leichte Aufgabe war.

Das Leseerlebnis wird dadurch jedenfalls nur unwesentlich gestört. Ich fand diesen Einblick in das Leben einer Frau im modernen China, die trotz aller gesetzlich festgelegten Gleichberechtigung doch an den Traditionen und den Ansichten der Gesellschaft scheitert, sehr berührend. Dabei ist Yingzhi keine große Sympathieträgerin. Sie ist weder Unschuldslamm noch pures Opfer. Ihr Verhalten kann man, je nach moralischer Einstellung, oft als dumm bis inakzeptabel einstufen. Was die Geschichte nur um einiges an Vielschichtigkeit bereichert.

Was der Roman für mich aber am meisten ausgestrahlt hat, war die Bedrückung und die Ausweglosigkeit. Die Spirale aus Gewalt, die sich immer weiter in die Tiefe bohrt und schließlich außer Kontrolle gerät, ist nicht leicht auszuhalten.

Ein brutales Buch, ein wichtiges Buch, ein Buch, das uns alle angeht. Große Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.06.2022
Kurkow, Andrej

Graue Bienen


sehr gut

Sergej Sergejitsch lebt in Malaja Starogradowka in der Grauen Zone, dem Puffergebiet zwischen der Ukraine und dem Dombass. Das Dorf ist mittlerweile verlassen, die Bewohner tot oder geflüchtet. Die Kriegsfront ist in Hörweite, ab und zu verirrt sich ein Geschoss in das Wohngebiet. Außer Sergejitsch ist nur noch Pascha geblieben, der alte Feind aus Schulzeiten, mit dem es sich jetzt, in der neuen Situation, aber leidlich auskommen lässt. Pascha und Sergejitschs Bienen, die in ihren Stöcken Winterruhe halten.
Doch als der Frühling kommt, beschließt Sergejitsch, dass er seine Bienen an einen friedlicheren Ort bringen muss, damit sie in Ruhe Nektar und Pollen sammeln können. Darum macht er sich auf den Weg, erst in die Ukraine, später auf die von Russland besetzte Krim. Wo er auch hinkommt, sind die Folgen des Krieges spürbar. Misstrauen und Vorurteile herrscht überall, Willkür und Machtmissbrauch sind an der Tagesordnung. Aber dasselbe gilt für Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit.

Meine erste Begegnung mit dem Werk Andrij Kurkows war vor einigen Jahren bei einer Lesung zu seinem Roman „Picknick auf dem Eis“ – leider nicht in Anwesenheit des Autors, aber trotzdem so amüsant, dass ich mir das Buch gleich am nächsten Tag besorgt habe. Ich erinnere mich nicht mehr an die Details, aber ich weiß noch, dass ich am Rest des Romans nicht halb so viel Freude hatte, wie an der Lesung.

Auch bei der Lektüre von „Graue Bienen“ war mein Lesevergnügen des Öfteren gedämpft. Ich schiebe das auf den Stil Kurkows, der sich gerne in Details und Wiederholungen ergeht. Was nicht grundsätzlich schlecht sein muss, sich hier aber komplett in bedrückendem Mangel an Signifikanz verliert.

Ein zweiter Punkt, über den ich immer wieder gestolpert bin, ist die Gestaltung des Protagonisten. Sergej Sergejitsch soll, laut eigener Aussage, Ende 40 sein. Aber trotz dieses Wissens und gezielter Anstrengung ist es mir nicht gelungen, ihn mir als solchen vorzustellen. Vor meinen geistigen Augen sah er die ganze Geschichte durch aus wie über 70. Mindestens. Die Art zu sprechen, sich zu bewegen, zu denken…. - 70! Mindestens!

Aber das alles beiseite lassend ist „Graue Bienen“ ein wirklich lesenswerter Roman. Gerade durch die aktuellen Ereignisse neigen wir oft dazu, zu vergessen, dass in Teilen der Ukraine schon seit acht Jahren Krieg herrscht. Und Kurkow erzählt davon. Nicht, indem er die großen Ereignisse erwähnt, sondern er berichtet von den Menschen, die dem Geschehen hilflos ausgeliefert sind. Deren Welt von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt wird, und die trotzdem weiter leben müssen, irgendwie. Er zeigt, wie der Krieg alle betrifft, Bewohner der Grauen Zone, Soldaten beider Seiten, Bewohner eines ukrainischen Dorfes, die ihre Männer im Krieg verlieren oder die Tataren auf der Krim. Und wie auf der anderen Seite TROTZ des Krieges und dem Schicksal, das alle verbindet, nicht alle gleich behandelt werden. Dass auch im Krieg, oder vielleicht gerade dann, die Feindschaft zwischen verschiedenen Menschengruppen nicht unbedingt relativiert wird, auch wenn sie auf derselben Seite der Front leben. Kurkow legt hier seinen Finger in mehr als eine Wunde.

Ich kann nicht behaupten, dass ich „Graue Bienen“ mit voller Begeisterung gelesen hätte. Ich hatte ungeduldige Momente bis hin zur Langeweile. Trotzdem habe ich es nicht bereut, dieses Buch gelesen zu haben. Wenn es mir auch nicht viel Aufklärung über die politischen Hintergründe gegeben hat, so doch einen tiefen und beeindruckenden Blick in das Leben der Menschen dort und die Menschlichkeit in Kriegszeiten an sich. Und viel Stoff zum Nachdenken. Darum wünsche ich diesem Buch unbedingt viele Leser.

Bewertung vom 28.05.2022
Huppertz, Nikola

Unser Sommer am See


schlecht

Nach der Scheidung ihrer Eltern leben Agda, Nick und Jula Emmerich bei der Mutter, aber diesen Sommer dürfen sie drei Wochen allein mit ihrem Vater Claus in Bayern verbringen. Das abgelegenste Haus auf dem Krähenriegel hat Claus ausgesucht, um seinen Kindern die Natur näher bringen zu können und die Ruhe zu genießen. Aber von Ruhe kann keine Rede sein. Gleich zu Beginn bricht sich Claus den Fuß, Jula findet eine verzauberte Katzenmumie, Nick wird von Felix, einem Jungen aus dem Dorf, auf mehrere Mutproben geschickt, um zu beweisen, dass er dazu geeignet ist, mit Felix auf eine Schatzsuche zu gehen, während Agda überlegt, ob eben jener Felix wirklich so ein öder Bauerntrottel ist, wie sie erst dachte. Und dann stellt sich auch noch die Frage, ob die Emmerichs wirklich allein auf dem Krähenriegel sind…

„Unser Sommer am See“ ist das Neueste in einer langen Liste von Büchern der Autorin Nikola Huppertz. Fast ebenso lang ist die Liste der Nominierungen und Preise, die sie für ihre Werke bekommen hat. Die Rezensionen zu diesem Buch, die ich bisher gesehen haben, waren durchweg Fünf- oder Viersterner.

Das möchte ich gerne vorwegschicken, bevor ich sage: Dieses Buch war eine ziemliche Herausforderung für mein Durchhaltevermögen. Ausgesucht habe ich es, weil ich durchaus gerne ab und an Kinderbücher lese. Vor einigen Jahren hatte ich eine Phase, in der meine Lektüre fast ausschließlich aus diesem Genre bestand. Und besonders mag ich gerade jene Bücher, die einen die Freiheit und Sorglosigkeit der eigenen Kindheit, die Wärme und Abenteuerlust der Sommerferien, wiederfinden lassen. Aber „Unser Sommer am See“ konnte ich nichts davon spüren. Ich habe mich einfach nur gelangweilt.

Das lag zum einen am Stil, den ich extrem ausladend und wiederholungslastig fand. Ich hätte gerne mehr Tempo und Pfiff gesehen. Mir ist es wirklich schwergefallen, weiterzulesen, ohne genervt zu sein. Aber auch die Figuren fand ich in ihrer Durchschnittlichkeit ziemlich uninteressant bis einschläfernd, und das durch die Reihe weg. Nebenbei habe ich mich gefragt, für welche Altersklasse das Buch überhaupt gedacht ist. Die Emmerich-Kinder sind altersmäßig so weit auseinander, dass ich mich als Kind für mindestens eines von ihnen null interessiert hätte.

Bliebt noch die Geschichte an sich. Sie und der idyllische Ort des Geschehens hatten durchaus das Potenzial, ein schönes Kinderbuch herzugeben. Aber für mich fielen die oben genannten Punkte so schwer ins Gewicht, dass alles andere darin ertrunken ist.

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich das in einer Rezension schon mal getan habe, aber heute fühle ich mich genötigt, den moralischen bzw. ethischen Zeigefinger zu heben. Dass ein kleines Mädchen mit einer mumifizierten Katzenleiche herumrennt… Na, meinetwegen. Dass dieses Mädchen Tiere sammelt und aus ihrem natürlichen Habitat in ein anderes umsiedelt, ohne dass das thematisiert wird… Wollen wir mal drüber hinwegsehen, welches Kind tut das nicht. Aber dass es als großes Abenteuer und sogar Heldentat hingestellt wird, wenn ein kleiner Junge loszieht, um einen Fisch zu angeln und zu erschlagen… Das kann sich ein Tom Sawyer noch erlauben, aber in unseren Zeiten sind wir in Sachen Natur- und Tierschutz wirklich an einem Punkt, wo man mehr erwarten könnte.

Man errät es womöglich, dieses Buch und ich sind keine besten Freunde geworden. Aber für eine versöhnliche Note am Ende möchte ich noch erwähnen, dass mir Cover und Haupttitelseite von Elsa Klever gut gefallen. Und allen Lesern meiner Rezension empfehle ich, sich auch mit den guten Bewertungen des Buches zu beschäftigen. Denn so allein, wie ich bisher auf weiter Flur mit meiner Meinung dastehe, möchte ich nicht verantworten, dass jemand sein großes Leseerlebnis dieses Sommers verpasst.

Bewertung vom 21.05.2022
Colombani, Laëtitia

Der Zopf


gut

Badlapur, Uttar Pradesh, Indien. Smita gehört zu den Dalit, den Unberührbaren. Jeden Tag muss sie in ihrem Dorf die Aborte der Einwohner leeren, einen Beruf, den sie von ihrer Mutter übernommen hat. So ist es vorgesehen, die Geburt bestimmt das Schicksal unwiderruflich. Trotzdem wünscht sich Smita für ihre Tochter Lalita etwas anderes. Sie soll zur Schule gehen, lernen, einen anderen Beruf ergreifen können. Doch Smitas Versuch, Lalita in der örtlichen Schule unterzubringen, scheitert. Und ihr wird klar, dass nur die Flucht aus der Heimat etwas an Lalitas Schicksal ändern könnte.

Über 6300 km entfernt kämpft Giulia im sizilianischen Palermo um das Überleben des Familienunternehmens. Seit ihr Vater durch einen Unfall im Koma liegt, durchschaut Giulia erst, wie schlecht es um die Firma, die das Haar sizilianischer Frauen verarbeitet, steht. Ihr ist klar, dass nur der Bruch mit den alten Traditionen und ein neues Konzept das Geschäft und damit den Lebensunterhalt ihrer Familie retten kann.

Weitere 6800 km weiter in Montreal, Kanada, gerät Sarahs Leben aus den Fugen. Die dreifache Mutter und sehr erfolgreiche Anwältin steht kurz vor dem Höhepunkt ihrer Karriere, wird als Nachfolgerin des Chefs der bekannten Kanzlei, in der sie arbeitet, gehandelt. Doch dieses Ziel, auf das sie ihr ganzes Leben, auch zum Nachteil ihrer Familie, ausgerichtet hat, scheint vor ihren Augen zu zerbrechen, als bei ihr Brustkrebs diagnostiziert wird. Die Sorte Krebs, an der schon ihre Mutter gestorben ist.

Man kann es sich schon denken, Laetitia Colombanis Roman „Der Zopf“ kommt sehr konstruiert daher. Als Leser kennt man die Geschichte im Prinzip von Anfang an, Unerwartetes steckt höchstens im Detail. Ähnlich ist es auch mit ihren Protagonistinnen, auch sie schaffen es weder durch ihre Reaktionen, noch durch ihre Entwicklung einen Weg einzuschlagen, der nicht vorhersehbar wäre. In der Regel wäre das für mich ein großer Minuspunkt. Wenn ich im Voraus schon alles weiß, brauche ich ein Buch ja gar nicht erst zu lesen. Was die Situation für Colombani aber halbwegs rettet, ist, dass sie die Kulturkreise ihrer drei Frauen gut zeichnet. Diesen parallelen Verlauf dreier Schicksale unter so völlig anderen Bedingungen fand ich nicht uninteressant. Und das gilt auch für die Grundidee des Buches, diese ganz unterschiedlichen Leben durch einen Gegenstand, den Zopf, zu verbinden. Natürlich weiß man, dass die Dinge, die uns umgeben, durch viele andere Hände gegangen sind. Hände, die alle zu Menschen mit ihren eigenen Geschichten gehören. Aber sich dessen wirklich bewusst macht man sich selten und dieses Gedankenspiel hat mir schon Spaß gemacht.

Weniger Spaß hatte ich an Colombanis Stil. Sie tanzt für meinen Geschmack zu dicht am Grat des Banalen, und das ist schade, denn ein weniger durchschnittlicher Schreibstil hätte dem Roman eine ganz neue Qualität geben können. Dafür lässt sich das Buch aber leicht und flott weglesen, was ja durchaus nicht unbeliebt ist.

Insgesamt stufe ich „Der Zopf“ in die Kategorie „Kann man lesen, muss man aber nicht“ ein. Ich würde nicht ausschließen, irgendwann auch Colombanis andere Romane zu lesen, aber ohne jede Dringlichkeit. Und meine große Werbetrommel bleibt dieses Mal im Schrank.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.05.2022
Zypkin, Leonid

Die Winde des Ararat


sehr gut

Die Sowjetunion in den 1970er Jahren. Boris Lwowitsch, Jurist jüdischer Abstammung aus Moskau, und seine Frau Tanja machen in einer armenischen (und damals zur Sowjetunion gehörenden) Grenzstadt mit Blick auf den in der Türkei liegenden Ararat Urlaub. Die Nähe der unüberwindbaren Grenze und der dahinterliegenden Freiheit ist dem Ehepaar bewusst, aber ein Thema, über das man nicht spricht. Boris und Tanja spulen mit den übrigen Touristen ihr Programm ab, bis ihr Urlaub einen jähen Abbruch findet, als sie wegen des angeblichen Endes ihrer Buchungszeit aus ihrem Hotel ausquartiert werden. Ein Versuch Boris’, sich für diese entwürdigende Behandlung an der Hoteldirektorin zu rächen, bringt kaum Befriedigung. Und dann wartet Zuhause in Moskau noch eine Veränderung, die Boris’ und Tanjas Leben für immer verändern wird.

Leonid Zypkin macht es den Lesern seiner autobiografisch beeinflussten Erzählung „Die Windes des Ararats“ nicht leicht. In einem dahinplätschernden Strom folgen wir Boris durch seine Gedanken, springen mit ihm durch Themen und Zeiten bis hin zur Kreuzigung Jesu und zur Massenvernichtung der Juden während des Zweiten Weltkrieges. Oder zumindest nehmen wir an, dass wir das tun. Denn mit der Nennung von Namen, Orten und Ereignissen ist Boris bzw. Zypkin mehr als sparsam. Als Leser muss man sich entweder auskennen, schlaumachen oder gleichgültig bleiben.

Sparsam ist Zypkin auch mit seiner Punktierung. Als ich einmal eine Lesepause einlegen wollte, habe ich sechs Seiten nach dem nächsten Punkt gesucht. Ohne Erfolg. Ab da habe ich mehr oder weniger wahllos Wörter mitten im Text markiert, wann immer ich eine Unterbrechung gebraucht habe. Ich weiß nicht, ob es an diesem Punktierungsgeiz oder am Stil lag, aber es war mir fast unmöglich, mich auf den Text zu konzentrieren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal beim Lesen so konsequent abgeschweift bin, wie bei dieser Erzählung.

Eigentlich habe ich keine guten Gründe, „Die Winde des Ararats“ gemocht zu haben. Abgesehen von den oben erwähnten Problemen hat mir die Geschichte auch sonst wenig von dem gegeben, was ich normalerweise in einer von mir als gut bezeichneten Lektüre suche. Die Geschichte war – ich würde nicht sagen, nicht vorhanden, aber definitiv nicht spannend oder auch nur unterhaltend. Eine tiefere Aussage hat sich mir zumindest nicht erschlossen, auch wenn sie bestimmt irgendwo vorhanden war. Es hat sich für mich nur wenig an neuen Perspektiven und Gedanken aufgetan. Und vor allem war alles so in der Schwebe, dass ich keine Aussage machen könnte, ohne mich zu fragen, ob ich einfach nur fleißig hineininterpretiere.

Und trotzdem hat mich etwas im Nachhinein auf positive Weise mit diesem Roman verknüpft. Etwas, was ich schwer benennen kann, hat sich bei mir eingepflanzt und lässt mich mit mehr Begeisterung an dieses Buch zurückdenken, als ich beim Lesen tatsächlich empfunden habe. Vielleicht ist es die Figur des Boris Lwowitsch, seine Menschlichkeit in allen Facetten. Vielleicht die Atmosphäre, die Zypkin zu schaffen weiß. Vielleicht eine tiefere Wahrheit, die nicht genannt, aber empfunden wird.

Leonid Zypkin, der nach der Ausreise seiner Frau und seines Sohnes in die Staaten seinen Doktortitel aberkannt bekam und in seinem Beruf als Mediziner herabgestuft wurde, schrieb zu seinen Lebzeiten fast ausschließlich für die Schublade. Kein sowjetischer Verlag war bereit, etwas von ihm zu veröffentlichen, so dass er seinen bekanntesten Roman „Ein Sommer in Baden-Baden“ außer Landes schmuggeln musste, der nur eine Woche vor seinem Tod in einer Emigranten-Zeitung in New York veröffentlicht wurde. Vielleicht ist dieses für sich schreiben, für seine Zeit schreiben, für seine Situation schreiben der Grund, dass mir das Lesen so schwergefallen ist. Trotzdem bin ich mir sicher, dass es für die literarische Welt ein Segen ist, dass sein Werk letztendlich doch seinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat und in Deutschland zu den neu aufgelegten Wiederen

Bewertung vom 10.05.2022
Laurence, Margaret

Eine Laune Gottes


ausgezeichnet

Kanada in den 1960ern. Rachel Cameron ist Anfang 30, Lehrerin und lebt mit ihrer Mutter über dem Bestattungsinstitut, das ihrem Vater gehört hat, nach dessen Tod aber verkauft wurde. Rachel hat sich in ihrem Leben eingerichtet. Ihre Tage bestehen in erster Linie aus ihrer Arbeit und Fernsehabenden oder Kinobesuchen mit der Mutter, die sich Rachels Aufmerksamkeit durch emotionale Erpressung sichert. Bridg-Abende, an denen Rachel die Aufgabe zukommt, die Freundinnen ihrer Mutter zu bedienen, und gelegentliche Einladungen bei ihrem Chef oder einer Kollegin – viel mehr Abwechslung gibt es nicht und scheint Rachel auch nicht zu wollen. Das ändert sich, als sie zufällig ihrem alten Schulkameraden Nick begegnet, ein Treffen, das ihr Leben auf viele Weisen umkrempeln kann.

„Eine Laune Gottes“ ist der zweite von Margaret Laurences fünf Romanen, die in dem fiktiven Manawaka spielen, einer Kleinstadt, die von Laurences Heimatstadt Neepawa inspieriert wurde. Was mir als Erstes auffiel, war, wie erfrischend sie ihre Protagonistin gezeichnet hat. In letzter Zeit habe ich öfter Bücher über „alte Jungfern“ gelesen – ich denke da an Eleanor Oliphant aus „Eleanor Oliphant ist completely fine“ von Gail Honeyman oder Molly Gray aus „The Maid“ von Nita Prose – in denen die Heldinnen sehr liebenswert, aber auch immer etwas verschroben und extrem naiv waren. Rachel ist das nicht. Nach außen benimmt sie sich, wie es die Gesellschaft von ihr erwartet, höflich und wohlerzogen, aber sie beobachtet ihre Umwelt sehr genau und urteilt scharf bis zur Bösartigkeit. Sie hat Ecken und Kanten, ist vielschichtig und tiefgründig auf einer sehr bewussten Ebene. Und vor allem geraten ihre charakterlichen Stärken auch mal ins Wanken, zeigen deutlich die Spannung zwischen inneren Wünschen und äußeren Erwartungen, denen Frauen in den 1960ern noch um einiges mehr ausgesetzt waren, als heute.

Ein interessanter Kniff der Autorin ist, dass sie Rachels Wunschträume so in den Text einfließen lässt, dass man oft nicht sofort erkennen kann, ob das Geschilderte Realität oder eben reine Traumvorstellung ist. Sehr schön verdeutlicht fand ich auch den Kampf der Protagonistin zwischen ihren Hoffnungen und dem Wissen, dass diese keine reelle Existenzberechtigung haben.

Ich erwähne Übersetzer oder Übersetzerinnen viel zu selten, vor allem, weil ich meistens das Gefühl habe, dass ich nicht beurteilen kann, wie gelungen die Übertragung ist, wenn ich nicht das Original kenne. Aber dieses Mal möchte ich Monika Baark hervorheben, die „Eine Laune Gottes“ so frisch übersetzt hat, dass das Buch ungemein an Aktualität gewinnt und einen nicht in den Glauben verfallen lässt, als moderne Frau wäre man vor Geschichten wie der Rachels gefeit.

Alles in allem ein gelungenes Buch, dass ich nicht direkt verschlungen, aber sehr gerne gelesen habe und ebenso gerne weiterempfehle. Es wird bestimmt nicht meine letzte Lektüre von Margaret Laurence gewesen sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.