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Forti

Bewertungen

Insgesamt 211 Bewertungen
Bewertung vom 19.03.2020
Lenze, Ulla

Der Empfänger


sehr gut

Im Mittelpunkt von Ulla Lenzes neuem Roman "Der Empfänger" steht Joe bzw. Josef, der bereits in den 1920'er Jahren von Deutschland aus in die USA immigriert ist. Joe, der sich selbst als unpolitischen Menschen sieht, wird 1939 eher durch Zufall zum Helfer der deutschen und deutsch-amerikanischen Nazis. Dieser "Zufall" steht für mich im Mittelpunkt des Buches. Wie zufällig war das wirklich? Warum hat Joe, der das freiheitliche Leben in den USA genießt, sich nicht gewehrt, nicht Nein gesagt hat? Wie leicht wird man zum Mitläufer oder auch Komplizen des Unrechts? Auf diese Fragen bietet die Autorin keine Antworten, sondern überlässt es dem Leser, dies zu beurteilen. Zuerst mag einem das als Schwachpunkt und ein Versäumnis der Autorin erscheinen, aber tatsächlich ist das ein gelungener Kniff, der den Leser zum Nachdenken zwingt.
Wer sich auf diesen langsam erzählter Roman einlässt, wird sehr intelligent unterhalten.

Bewertung vom 03.03.2020
Sánchez Vegara, María Isabel

Hannah Arendt


sehr gut

Die Autorin María Isabel Sánchez Vegara und die Illustratorin Sophia Martineck fassen das Leben der Philosophin und Reporterin kindgerecht auf 13 Doppelseiten zusammen. Hierbei wird Hannah Arendts Kindheit und Werdegang anhand prägnanter Details, wie z.B. die Diskriminierung die sie als Jüdin erfahren hat, dargestellt. Ein doppelseitiges Bild wird dabei immer mit ca. zwei Sätzen kombiniert – passend auch für Erstleser.
Der Insel Verlag empfiehlt das Buch ab vier Jahren – ich würde es ab dem Grundschulalter empfehlen. Ich denke, dass die Kinder dann erst bereit sind für die (behutsame) Thematisierung des Holocaust und auch die Erlebnisse in der Schulzeit besser einordnen können.
Wie gerade erwähnt wird der Holocaust angesprochen. Das geschieht meiner Meinung nach behutsam und angemessen – passend für dieses Kinderbuch über eine Person, die auch noch andere Aspekte umfasst. Was nicht thematisiert wird, ist Arendts wohl berühmtestes Werk "Eichmann in Jerusalem" (für mich ist das ok so).
Ich denke, dass es ein ungewöhnliches, forderndes Bilderbuch ist, das bei manchen Kindern Nachfragen erzeugt – vor allem zum Holocaust. Hierzu sollten die Eltern bereit sein.
In einem Nachwort wird das Leben Hannah Arendts etwas ausführlicher beleuchtet.

Bewertung vom 23.02.2020
Filipenko, Sasha

Rote Kreuze


sehr gut

Man könnte die Ankündigung von "Rote Kreuze", dem ersten Roman des weißrussischen Schriftstellers Sasha Filipenko der auf Deutsch erscheint, als Rundumschlag über die russisch- sowjetische Geschichte verstehen, aber das würde täuschen. Tatjanas Geschichte umfasst zwar tatsächlich das ganze zwanzigste Jahrhundert, Dreh- und Angelpunkt ist aber der Zweite Weltkrieg und der Umgang der Sowjetunion mit ihren eigenen Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten sind – ein Thema, über das ich noch nie gehört hatte und das aber sehr interessant und tragisch ist. Die kriegsgefangenen sowjetischen Soldaten galten dem Staat als Verräter, zuhause drohte ihnen die Todesstrafe und ihrer Familie das Straflager. Tatjanas ganzes spätere Leben wurde von dieser Tatsache bestimmt.

Die Geschichte von Tatjana fand ich durchweg faszinierend, erschreckend, tragisch und dabei meist gut erzählt. Die Schwenker ins Jahr 2000, in dem sie die Geschichte dem Namensvetter des Autoren erzählt, fand ich manchmal fast störend, und die Art, wie Sascha anfangs mit seiner alten Nachbarin redet, unverständlich. In den hölzern klingenden Dialogen ist Sascha einfach nur unverschämt zu Tatjana. Vielleicht soll das witzig sein oder es hat einen Subtext, der mich nicht erreicht hat – so hat es für mich einfach nur unnötig eine interessante Geschichte unterbrochen. Auch Saschas tragische Geschichte wird (glücklicherweise nur) kurz berichtet. Hier kann man wohl einiges in Beziehung zur russischen Geschichte oder auch zur Geschichte von Tatjana setzen. Trotzdem blieb mir Sascha fremd und unsympathisch, während ich Tatjana gerne noch viel länger zugehört hätte. Der Ansatz, die historische Geschichte mit dem beginnenden neuen Jahrtausend zu verknüpfen war eine grundsätzlich gute Idee des Autoren, aber meiner Meinung nach wurde sie nicht überzeugend umgesetzt.

Bewertung vom 28.01.2020
Fletcher, Susan

Das Geheimnis von Shadowbrook


sehr gut

Die Zutaten von "Das Geheimnis von Shadowbrook" hören sich altbekannt an: ungewöhnliche junge Frau aus der besseren Gesellschaft reist in ein mysteriöses Herrenhaus und deckt dort Geheimnisse auf. Jaja, kennt man schon ... immer das gleiche. So ganz kann ich das nicht abstreiten, aber ich fand den Roman von Susan Fletcher doch über weite Strecken sehr spannend und unterhaltsam. Manchmal hätte ich mir die Ich-Erzählerin Clara noch selbständiger, noch emanzipierter, noch mehr ihrer Zeit voraus gewünscht – aber schließlich ist sie für ihre Zeit (das Buch spielt im Jahr 1914) und ihre behütete Herkunft durchaus selbstbewusst und eigenständig, was im Buch auch immer wieder thematisiert wird. Da ist mir diese Clara, die vielleicht manchmal hinter den Erwartungen des modernen Lesers zurück bleibt, doch weitaus lieber als eine unrealistische, überzeichnete Charakterisierung.
Zwischendurch, im Mittelteil hatte das Buch seine Längen – etwas schade.
Insgesamt fühlte ich mich durch das Buch aber gut und intelligent unterhalten.

Bewertung vom 13.01.2020
Tschupa, Oleksij

Märchen aus meinem Luftschutzkeller


sehr gut

"Märchen aus meinem Luftschutzkeller" ist das erste Buch des ukrainischen Schriftstellers Oleksij Tschupa, das auf Deutsch erscheint.
Die einzelnen Kapitel beziehen sich immer auf eine andere Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Ost-Ukraine. In Form einer Kurzgeschichte wird jeweils das Leben des oder der jeweiligen Bewohner beschrieben. Jedes Kapitel, jeder Bewohner hat seine eigene Geschichte und auch seine eigene Erzählart – sprachlich fand ich das sehr abwechslungsreich. Es versammelt sich hier ein buntes Ensemble an Persönlichkeiten, das einen Querschnitt durch die ukrainische Gesellschaft bildet. Das ganze ist natürlich sehr verdichtet und in dem einen oder anderen Fall vielleicht auch etwas überspitzt dargestellt, aber ich fand es dennoch sehr interessant, auf die Art und Weise Einblick in ein Land zu bekommen, über das die meisten von uns Deutschen doch eher wenig wissen.
Ob man das Buch nun als Roman oder Kurzgeschichtensammlung bezeichnet – eine fortlaufende Handlung über das ganze Buch hinweg gibt es jedenfalls nicht. Für mich war das aber auch ok so.
Das Buch spielt vor dem Ukraine-Krieg – der schon vor dem Krieg bestehende Konflikt zwischen Russland und der Ukraine (bzw. zwischen Russischstämmigen und Ukrainern) wird hier auch nur minimal angedeutet. Für mich erklärt dieses Buch also nicht den Krieg, war aber dennoch ein interessanter Einblick in ein eher fremdes Land.

Bewertung vom 03.01.2020
Kidd, Jess

Die Ewigkeit in einem Glas


gut

Das neue Buch der englischen Autorin Jess Kidd wartet mit einem durchweg skurrilen Personal am Schauplatz viktorianisches London auf. Leider gerät die eigentliche Geschichte dabei etwas ins Hintertreffen.

Die Charaktere und die Atmosphäre des Buches haben mir gut gefallen. Jede der auftauchenden Personen ist skurril, manchmal spleenig, hin und wieder auch übersinnlich - oder aber tot. Dieses phantasievolle Personal fügt sich gut in die düstere Beschreibung Londons Mitte des 19. Jahrhunderts ein. All das fand ich sehr stimmig.
Leider kam die eigentliche Geschichte, die eine Mischung aus Krimi und Übersinnlichem ist, da nicht mithalten. Die Ermittlungen von Privatdetektivin Bridie waren für mich etwas langatmig und hin und wieder schwierig nachzuvollziehen, am Ende wenig überraschend.

"Der Freund der Toten" - das Debüt der Autorin - hat mich viel mehr in seinen Bann gezogen als "Die Ewigkeit in einem Glas".

Bewertung vom 18.12.2019
Berg, Mary

Wann wird diese Hölle enden?


sehr gut

Die Aufzeichnungen von Mary Berg, die das Warschauer Ghetto als Teenagerin erlebte, sind ein wichtiges Zeitdokument, das nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt. Mary Bergs Tagebuch stammt direkt aus der Zeit und vermittelt die Sicht einer jungen Frau (als "Mädchen", wie der Verlag es tut, will ich sie eigentlich nicht bezeichnen) auf das Leben im Ghetto.

Der Vergleich mit dem Tagebuch von Anne Frank drängt sich auf. Beide jungen Frauen kamen aus behüteten, eher wohlhabenden Verhältnissen, erleben den Holocaust aber sehr unterschiedlich - Mary im Warschauer Ghetto, Anne im Versteck in Amsterdam. Beide wollten (ab einem bestimmten Zeitpunkt) ihre Tagebücher veröffentlichen - was zu eigenen nachträglichen Bearbeitungen geführt hat. Allerdings konnte nur Mary Berg ihr Tagebuch nach der Ausreise in die USA selbst veröffentlichen - zudem ist das noch während des Krieges geschehen. Das erklärt vielleicht manches. Ich fand den Stil nämlich meist sehr nüchtern. Emotionen gibt es kaum, nur selten und kurz bricht es aus ihr heraus. Ob das Mary Bergs genereller Stil ist oder ob sie diese fast schon reporterhafte Sprache bewusst gewählt hat, etwa um Neutralität zu verdeutlichen, bleibt Spekulation. Auch einzelne Schicksale kommen kaum vor und werden dann jeweils nur sehr kurz abgehandelt. Auch das Leben der Familie der Verfasserin wird nur knapp beschrieben. Das lässt sich wohl mit Persönlichkeitsschutz erklären - nicht nur der fremden Personen, sondern auch der eigenen Person. Durchaus verständlich, wenn man die Umstände betrachtet.

Bewertung vom 08.10.2019
Perry, Sarah

Melmoth


sehr gut

"Melmoth" von Sarah Perry ist ein vielschichtiger Roman. Die Geschichte wird mit unterschiedlichen Erzählweisen und auf verschiedenen Zeitebenen erzählt. So gibt es Briefe, Tagebücher und Berichte aus der Zeit vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Anders als der Klappentext vermuten lässt, steht Helen nicht im Mittelpunkt der Geschichte, sondern dient eher als verbindendes Element zwischen den anderen Personen. Trotz des komplexen Aufbaus gelingt es der Autorin das Ganze übersichtlich zu gestalten – ich hatte nie das Gefühl, den Überblick über Personen und Zeit zu verlieren.
Ich fürchte fast alles, was ich hier zum konkreten Inhalt sagen könnte, würde man mir als Spoiler auslegen, deshalb nur so viel: die Geschichte um die fiktive biblische Figur Melmoth entwickelt auch durch die Sprünge zwischen Zeiten, Personen, Erzählweisen einen subtil-spannenden Sog, dem ich mich kaum entziehen konnte. Auch wenn einige wenige Exkurse etwas gewollt erschienen, habe ich mich gut und intelligent unterhalten und zum Nachdenken angeregt gefühlt.

Bewertung vom 08.10.2019
Boschwitz, Ulrich Alexander

Menschen neben dem Leben


sehr gut

Nach "Der Reisende" ist nun endlich auch "Menschen neben dem Leben" in Deutschland erschienen. Beide Bücher des deutschen Autoren Ulrich Alexander Boschwitz entstanden bereits in den 1930er Jahren, als Boschwitz sich im Exil befand. So erschienen beide Werke zunächst auch nur im Ausland, bis sie jetzt endlich (wieder) entdeckt wurden und auch in Deutschland veröffentlicht werden.
In "Menschen neben dem Leben" porträtiert Boschwitz verschiedene Menschen des Lumpenproletariats, der gesellschaftlichen Unterschicht im Berlin der frühen 1930'er Jahre. Im Wechsel werden die einzelnen Schicksale, die die Protagonisten meist abwärts zogen, beschrieben. Der Erste Weltkrieg, Wirtschaftskrise, Technisierung - das alles führt zu einer Abwärtsspirale, der die Handelnden sich nicht entziehen können. Jetzt suchen sie ihren Weg, sich über Wasser zu halten, nur manchmal mit der Hoffnung, wieder aufzusteigen, Arbeit zu finden, ein gesellschaftliches Leben zu führen. Manche bleiben dabei ehrlich, andere schlagen illegale Wege ein. So entsteht ein interessanter, verdichteter, auf mich authentisch wirkender Querschnitt durch das Lumpenproletariat der Wirtschaftskrisenzeit.
Auch die Stadt und ihre Entwicklungen werden dargestellt. Da Boschwitz offenbar schon gezielt für ein ausländisches Zielpublikum geschrieben hat, das dieses Berlin nicht kannte, ist es auch für Leser, die das Buch über 80 Jahre später lesen, sehr anschaulich und verständlich dargestellt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.09.2019
Kummer, Dirk

Alles nur aus Zuckersand


sehr gut

Ein Hörbuch für Kinder ab 10 Jahren.

In "Alles nur aus Zuckersand" wird die DDR, die das Zielpublikum ja nie erlebt hat, wieder lebendig. Der Hörer erfährt nach und nach, wie das Leben in der DDR war: von der Partei stark geprägt, ohne Reisefreiheit, mit politischen Häftlingen und mit der ständig (unter-)bewussten Mauer zum Westen. Das ganze wird behutsam und aus Kindersicht kindgerecht dargestellt. Es gibt aber auch immer wieder witzige Momente. Den Rahmen zur Geschichte setzt die Jungsfreundschaft zwischen Ich-Erzähler Fred und Jonas – beide 10 Jahre alt und in Brandenburg in der Nähe der Berliner Mauer lebend.
Für mich eine gelungene Doppelstunde deutsche Geschichte.

Die Vortragsweise von Charly Hübner gefällt mir auch. Er liest das Buch unaufgeregt, manchmal an der Grenze zu etwas schnodderig vor. Als gebürtiger Brandenburger trifft er wohl auch den richtigen lokalen Ton.

Falls die Geschichte bekannt vorkommen sollte: "Alles nur aus Zuckersand" basiert auf dem Film "Zuckersand", bei dem der Autor Dirk Kummer das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat.