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ElliP
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Hessen

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Insgesamt 158 Bewertungen
Bewertung vom 11.09.2022
Biddulph, Rob

Peanut Jones und die Stadt der Bilder / Peanut Jones Bd.1


ausgezeichnet

„Solange Blumen blühen, gibt es Hoffnung. Auch eine kleine Pflanze kann starke Wurzeln haben.“
Unsere Heldin Peanut will ihren Vater, einen begnadeten Künstler, aus den Fängen des Bösen retten. Dafür gibt es verschiedene rätselhafte Aufgaben, die bewältigt werden müssen und Helfer an ihrer Seite, die sie dabei unterstützen. Ihre Widersacher versuchen das natürlich mit ganz unterschiedlichen Mitteln zu vereiteln und sie von dieser Mission abzubringen. Werden sie das schaffen? Es geht actionreich zu, wie in einem Tom-Cruise-Film passiert ständig etwas, die Heldin kann sich nicht zur Ruhe begeben, zum Nachdenken bleibt kaum Zeit und sie muss handeln.
David gegen Goliath – die Intelligenz und Originalität Peanuts und ihrer Freunde lassen staunen und lachen, eine Ode an die Freundschaft, den Zusammenhalt und die Stärke der Gemeinschaft.
„Was hatte sie für ein Glück, dass ihr Vater aus dem Nichts Schönheit erschaffen konnte.“ – und was haben wir für ein Glück, dass diese verrückte und atemberaubende Geschichte von Rob Biddulph nicht nur erzählt, sondern auch wunderbar kreativ, aussagekräftig und ästhetisch ansprechend illustriert wurde.
Ein Roman für Kinder und Jugendliche ab 9 Jahren, der einen ganz besonderen Reiz ausübt, den man nicht aus der Hand legen möchte und der einen ins Reich der Bilder entführt.

Bewertung vom 09.09.2022
Hughes, Dorothy B.

Ein einsamer Ort


ausgezeichnet

Eine wunderbar düstere Kriminalgeschichte, die uns an der Entwicklung des Mörders teilnehmen lässt. Atmosphärisch dicht, voller überraschender Wendungen, Einsichten, vielschichtigen Charakteren und einem stringenten Plot. Ein Thriller von 1947, der auch heute durchaus lesenswert und ein richtiger Page-Turner ist.
Dix Steel, ehemaliger Kampfpilot, kommt nach dem Krieg desillusioniert nach LA zurück und hat den Plan, eine Kriminalgeschichte zu schreiben. Er lebt in einer geliehenen Wohnung, das Leben hat keine Aufgaben für ihn, er ist einsam, der Zeit entsprungen, ohne Ambitionen, gelangweilt und lebt vom Geld eines Onkels. Ein zerbrochener Held, auf der Suche, unruhig, die besten Zeiten liegen hinter ihm und seine große Liebe auch. Zufällig trifft er auf seinen alten Kameraden und Freund Brob, nun als Detektiv bei der Polizei tätig, und dessen Frau Sylvia.
Ein Serienmörder treibt sein Unwesen und Brob versucht, den Fall zu lösen, der immer nach dem gleichen Rezept gestrickt ist: Junge, attraktive Frauen werden nachts erdrosselt. Anscheinend zufällig ausgewählt wiederholen sich diese Taten alle vier Wochen.
Dix ist an den Morden interessiert, da er an seiner eigenen Kriminalgeschichte arbeitet, und er wird von den anderen Polizisten mit Einzelheiten und Details versorgt.
Schon bald weiß der Leser, wer der Mörder ist, erkennt die krankhaften Überlegungen, nimmt die Perspektive des Täters, der verwundbar und teilweise sogar sympathisch erscheint, ein.
Die Spannung beruht auf den Blick in die Abgründe des Mörders, darauf, dass man den Ausgang erfahren möchte. Wir wissen mehr als die Polizei, als die anderen Charaktere, aber die Fragen bleiben: Wie geht es weiter? Wer wird noch sterben?
Thema des Krimis ist das Psychogramm eines Serienmörders,
ein gestörter Charakter, der trotzdem sympathische Züge trägt.
Die Handlung bleibt auf dem Höhepunkt stehen, ein etwas abruptes Ende, das aber zur Geschichte passt und seine Berechtigung hat.
Humphrey Bogart und Gloria Grahame spielen die Hauptrolle in der gleichnamigen Verfilmung von 1950, ein wichtiger Vertreter des film noir, allerdings mit einem abgeschwächten und versöhnlicherem Ende, das den Erwartungen der Zuschauer eher entsprach.
Eine klare Leseempfehlung für einen intensiven, für seine Zeit (1947) sehr modernen, klugen Thriller, der nichts an seiner Spannung eingebüßt hat.

Bewertung vom 20.08.2022
Mallon, Lina

30 Women


sehr gut

Was uns glücklich macht
30 unterschiedliche Frauen, 30 Schicksale, 30 Inspirationsquellen. Diese unterschiedlichen Personen haben die Autorin berührt, inspiriert, geprägt, waren Vorbilder, Idole oder auch negative Beispiele, wie man sein Leben eher nicht führen sollte. Eine rein private Auswahl an berühmten oder unbekannten Frauen, die Oma, die erste Freundin, die ersten literarischen Vorbilder, die Lehrerin und die Tierschützerin, die alle auf die eine oder andere Art und Weise Lina Mallon beeinflusst haben.
Ich plädiere dafür, das Buch gar nicht in einem Rutsch von vorne nach hinten zu lesen, sondern immer mal wieder ein-zwei Kapitel als Inspiration, zum Nachdenken, zum Vergleichen, am liebsten auch einfach nur blättern und dann bei einem Text stehenbleiben, der einen reizt, einer Überschrift, einer Frau.
Das Buch ist sehr persönlich verfasst und hat den Tenor, dass sich Frauen gegenseitig helfen und unterstützen sollten, wie sehr man voneinander lernen und sich positiv beeinflussen kann. Besonders für junge Menschen bietet dieses Buch eine sinnvolle Unterstützung bei der Suche nach dem eigenen Weg, dem eigenen Ich. Ein schönes Buch, ein unkonventioneller Ratgeber, bei dem ich auch immer wieder selbst zum Überlegen und Überdenken meiner Entwicklung gekommen bin und mir selbst die Frage stelle: „Was gehört denn eigentlich zum Glück?“

Bewertung vom 19.08.2022
Sailer, Simon

Der Schrank


sehr gut

Simons Vögel
Die Welt ist aus den Fugen und Tiere verschaffen sich die Macht – unaussprechliche Angst überfällt die Protagonistin Lena, die eigentlich nur ihren Job beenden, einen altertümlichen Schrank zu seinem neuen Eigentümer bringen und dann zu ihrem Liebsten nach Hause möchte. Aber es ist wie verhext und diese Aufgabe erweist sich wie in einem Alptraum als unlösbar. Das Makabre, Unheimliche schwingt mit, Erklärungen sind rar und eine Lösung nicht zu finden.
Die Figurenzeichnung ist sehr gelungen. Ich mag die toughe Lena, ihre Liebe zu Hakan, die liebevoll beschriebene Wohnung der beiden, klein, sehr eingeschränkt und doch ein Zuhause. Auch die anderen Charaktere sind sehr treffend gezeichnet: der Alkoholiker Korni, der entspannte und freundliche Kollege Yilmaz, die alte kleine Dame, die an einen Maulwurf erinnert. Die arme Lena, die versteckte Perle hätte sie wohl nicht an sich nehmen sollen... und warum deckt sie Korni, der arbeitsscheu und unzuverlässig nur eine Behinderung darstellt? Das kann doch nicht gut ausgehen!
Die Welt der Tiere, welche versuchen, die Herrschaft zu übernehmen, wirkt sehr bedrohlich - die vielen Tauben, die von den Kutschen getötet werden, das hört sich wie ein Massaker an und ist kein positives Nebeneinander von Mensch und Tier. Die Vögel erinnern an Hitchcocks Vögel - unbezähmbar, unverständlich, beängstigend in ihrer bedrohlichen Gemeinschaft und Gewalt. Hat das menschliche Dasein in dieser Vision noch eine Chance?

Wunderschöne, exzentrische, traumwandlerische Bilder ergänzen die Geschichte, die intensive Farbwahl, die etwas skurrilen Motive, die vielen Vögel auf dem Bus oder die Unterwasserwelt, die nach einem geheimnisvollen Märchenreich aussieht, beflügeln die Fantasie des Lesers.
Die Atmosphäre ist bedrohlich und düster, eine passende Geschichte für regnerische Novembernachmittage und Liebhaber des wohligen Schauers.
Alle Fans des Schauerromans a la Edgar Allan Poe, E.T.A. Hoffmann oder H.P. Lovecraft kommen ganz auf ihre Kosten.

Bewertung vom 18.08.2022
Steffens, Nicole

Glücksorte an der Lahn


ausgezeichnet

Ein ganz zauberhafter Reiseführer, der hält, was er verspricht: Er führt dich an Orte, die ein Glückspotential haben, die berauschen und verzaubern können.
Die Lahn schlängelt sich durch die Mitte Deutschlands und dort gibt es viele unbekannte Orte, Schlösschen, Museen, Wanderwege, die einen Besuch wert sind und die im Reiseverführer Erwähnung und Erklärungen finden. Originell, eine bunte Auswahl an kulturellen Highlights wie Marburg und Schloss Weilburg, Naturschönheiten, Prädikatswanderwege und kulinarische Leckerbissen, wie es sie in Hermanns Café in Limburg gibt, werden vorgestellt, sodass für jeden Geschmack etwas dabei ist.
Die ansprechende Aufmachung macht Lust auf mehr, aussagekräftige Fotos ergänzen die praktischen Erklärungen, für jeden Vorschlag gibt es eine Seite plus Bild. Das Blättern im Buch weckt die Reiselust, man verweilt auf einzelnen Seiten, liest sich fest, lernt neue Facetten dieser vielleicht doch eher unbekannten Region kennen – und es kann gleich losgehen!

Bewertung vom 18.08.2022
Gorcheva-Newberry, Kristina

Das Leben vor uns


sehr gut

Eine Kindheit in Russland, unbeschwertes Aufwachsen, Teenagerjahre, Schule, Partys, ein kleiner Flirt und die erste Liebe, Diskussionen über Ideale, Wünsche und Träume, über das politische System, Selbstfindung, Abgrenzung und Freundschaft. Der erste Teil des Romans führt uns in die 70-er und 80-er Jahre und wir dürfen an der Entwicklung der Protagonisten und den Veränderungen im Staat, den wechselnden Politikern und den Schwankungen der ökonomischen Lage, teilhaben.
Der Roman liest sich flüssig und schnell; man ist gleich von der Geschichte gefangen und mag die beiden Freundinnen Milka und Anja. Sie sind Sympathieträgerinnen - in all ihrer Unterschiedlichkeit, ihren kleinen Geheimnissen, ihrer Lebensbejahung und -hunger - teilweise werden ihre Sehnsüchte nach Freiheit, Unbeschwertheit, fremden Ländern und Abenteuern schon zu Beginn angesprochen und man darf gespannt sein, was die beiden erleben werden - gemeinsam, getrennt, wo es sie hinverschlagen wird. Die privilegiertere Anja, eher weich und mädchenhaft, und die mutige, toughe Milka, die aus schwierigen Verhältnissen kommt und nicht immer alles aussprechen kann, was sie bewegt und belastet.
Eine große Veränderung tritt in das Leben der beiden und nichts ist mehr so, wie es war. Aber das Leben nimmt seinen Gang und wir folgen der Geschichte Anjas, die das Land verlässt und im goldenen Westen ihr Glück macht. Aber ist das möglich? Seine Vergangenheit zu vergessen und unbeschwert leben? Können Vergangenheit und Gegenwart zusammenfinden und miteinander versöhnt werden?
„Das Leben vor uns“ von der russisch-amerikanischen Autorin Kristina Gorcheva-Newberry erzählt die Geschichte Anjas vor der Kulisse des Zerfalls der Sowjetunion. Russlands Politik, die Schönheit der Natur, die Literatur, die kulinarischen Gepflogenheiten und auch die Besonderheiten der russischen Seele sind immer wieder Thema sowohl innerhalb der Gespräche der Eltern und der Freunde als auch in Anjas Gedanken. Der Stolz und die Liebe zu Russland klingen immer wieder an, aber auch die Enttäuschung und die Verletzungen beim Anblick der Veränderungen. Tschechows Kirschgarten wird als Metapher verwendet, die sich durch den gesamten Roman zieht - von der ersten Blüte bis zum Verkümmern und Fällen des Gartens, Bäume, die sowohl für Natur, Leben, Ernte und Überfluss als auch für Streit, Krankheit und Tod stehen, existentielle Elemente, die zu jedem Leben dazugehören.

Bewertung vom 10.08.2022
Solska, Julia

Als ich im Krieg erwachte


ausgezeichnet

Zeitenwende
Ein trauriges Buch, das von dem Krieg in der Ukraine handelt. Es geht aber weit über eine bloße Beschreibung hinaus: das Tagebuch der Ich-Erzählerin, authentisch, unmittelbar, schonungslos und mutig. In intensiven Worten setzt sie sich mit ihrer Situation und mit der Situation ihres Landes auseinander.
Julia Solska wird zum Sprachrohr vieler Ukrainerinnen und Ukrainer, denn das, was dort gerade passiert, ist unvorstellbar und die Tagesschau und weitere Nachrichten können uns natürlich über Fakten und Hintergründe aufklären, aber die Fragen, Ängste, Gefühle der Betroffenen werden dort nicht erwähnt.
Es geht zu Beginn um die Normalität, die alltäglichen kleinen Freuden, Wünsche, Ablenkungen, die auf einmal zum Luxus werden, genau in dem Moment, in dem Russland der Ukraine den Krieg erklärt. Und plötzlich ist infällig, das Wesentliche zählt.
Die junge Ukrainerin schafft es, aufrichtig sich und ihre Unsicherheiten, Bedürfnisse, Ängste, Zweifel und Wünsche darzustellen. Ich kenne keinen zweiten Kriegsbericht einer Zivilistin, der so psychologisch klar und analytisch die eigenen Gefühlsschwankungen, Verunsicherungen und Existenzängste darstellt, völlig offen auch auf die Unzulänglichkeiten eingeht, den Finger auf die wunden Stellen legt. Wut, Trauer, Hilflosigkeit, Hoffnung und Sehnsucht nach einem Ende der Schrecken wechseln sich ab. Die Sorge um geliebte Menschen, ihre Eltern, Schwester, Familie und Freunde begleitet sie ständig, die Entscheidung, nach Westen, nach Deutschland zu fliehen, wird immer wieder hinterfragt.
Solche Bücher sollten eigentlich nicht geschrieben werden müssen! Für uns ist es aber eine Möglichkeit, von den furchtbaren Zuständen im Krieg aus erster Hand zu erfahren, mitzufühlen, am Leben der Ich-Erzählerin teilhaben zu dürfen und letztlich zu erkennen, wie sinnlos und überflüssig jeder Krieg ist. Sie hat unser aufrichtiges Mitgefühl, gemeinsam mit ihrer Familie und ihren Freunden, die für mich für das ukrainische Volk stehen, und wir können nur hoffen, dass dieser Wahnsinn ein baldiges Ende findet.
Ein Antikriegsbuch, für das ich eine klare Leseempfehlung abgebe und von dem ich hoffe, dass es möglichst viele Leser und Leserinnen erreicht.

Bewertung vom 01.08.2022
Fessel, Karen-Susan

Blindfisch


sehr gut

Die Angst vor der Nacht
Lon - ein sympathischer Jugendlicher mit guten Freunden, sportlich, beliebt, die baldige Klassenfahrt vor Augen - was könnte schöner sein? Wenn da nicht seine Krankheit, das Usher-Syndrom, wäre, die er um jeden Preis erstmal verstecken möchte. Dass er mit Hörproblemen aufwächst und ein Hörgerät trägt, stört keinen, das ist bekannt. Aber jetzt kommt noch der zweite Teil dazu, der ihn weit mehr einschränkt und den er verstecken möchte, solange es irgendwie geht: Sein Sehvermögen nimmt ab. Das äußert sich leider ständig im Alltag: Beim geliebten Volleyballspiel zeigt er nicht mehr seine gewohnte Stärke, Fahrradfahren wird unsicherer, er erkennt Gesichter nicht mehr und auf der Klassenfahrt wird es fast katastrophal, wenn er im Wald verschwunden geht, über Wurzeln stolpert, sich verletzt, auf das Schwimmen im Meer verzichtet aus Angst, die Orientierung zu verlieren.
Armer Lon - warum vertraut er sich nicht seinen Freunden an? Weil die mit anderen Dingen beschäftigt sind? Weil er möglichst lange seine Autonomie bewahren möchte? Weil er selbst nicht wahrhaben möchte, wie stark diese Krankheit seine Freiheit einschränkt und er so lange wie möglich den Anschein der Normalität aufrecht erhalten möchten?
Neben dieser Angst vor der Krankheit bringen aber noch ganz andere Dinge seinen Gefühlshaushalt durcheinander - neue Bekanntschaften, Begegnungen, Annäherungen. Auf der Suche nach sich Selbst und seinen Wünschen und Bedürfnissen begleiten wir den zaudernden und zögerlichen jungen Mann. Wir würden ihm gerne Tipps und Ratschläge mitgeben, doch jeder muss seinen eigenen Weg finden und gehen, Entscheidungen treffen und mit ihnen leben. Dabei wünschen wir ihm alles Gute!
Eine typischer Teenager mit einem untypischen Schicksal, der sein Leben in die Hand nehmen muss, den wir auf seinem Weg zum Erwachsenwerden ein Stück begleiten. Der Jugendroman „Blindfisch“ von Karen-Susan Fessel, der ganz viel Atmosphäre transportiert, flüssig zu lesen ist, dessen Sprache zwischen Eloquenz und stockenden, einsilbigen Antworten changiert, ganz wie es Jugendliche mitunter zu tun pflegen. Eine ruhige, intensive Geschichte, die die Gefühlswelt Lons gelungen einfängt. Aber ob sie tatsächlich Jugendliche zum Lesen einfangen kann, wage ich zu bezweifeln.

Bewertung vom 24.07.2022
Sok-Yong, Hwang

Dämmerstunde


sehr gut

Die arme Künstlerin, der erfolgreiche Architekt, der alte Freund im Koma, die bezaubernde Schülerin aus armen Verhältnissen, der skrupellose Ganove mit Ehrgefühl, der Dan-Träger, der beim offenen Straßenkampf keine Chance hat. Diese unterschiedlichen Figuren begegnen uns in Whang Sok-yongs Roman „Dämmerstunde“ und es wirkt zu Beginn, als würden etwas verworrene, unzusammenhängende Kurzgeschichten erzählt. Aber dann löst sich der Knoten, die Charaktere tauchen erneut auf, interagieren, Beziehungen und Zeitebenen werden deutlich und die Handlungsstränge sichtbar.
Der Leser muss aktive Mitarbeit leisten, um die Nebelwand zu durchbrechen, wird dann aber auch durch Aha-Erlebnisse und eine faszinierende Aussicht belohnt.
Eine spannende Erzählung, die uns in eine fremde Welt entführt, in der Armut, Korruption, Existenznot, Gewalt und Suizid allgegenwärtig sind, aber auch Überlebenswille, Glücksmomente, Freundschaft und Familie, Ehre, Heimat und Zugehörigkeit. Es geht um politisch und gesellschaftlich aktuelle Themen, die Verteilung des Geldes, die Vergabe von Bauaufträgen, Riesenprojekten, Bestechung, Schaffung von Wohnraum für Reiche und Zerstörung desselbigen der Ärmsten, Luxus-Immobilien auf der einen und Slums auf der anderen Seite. Die Gegensätze werden herausgearbeitet, die Wellblechhütten der Slumbewohner und die Nobelvillen der Privilegierten.
Es gibt nur einen Wanderer zwischen den Welten, aber anhand seiner Biografie wird fraglich, inwieweit Geld und finanzieller Erfolg glücklich machen. Ein schaler Geschmack bleibt, die Verhältnisse, die sind halt so.
Wo bleibt die Gerechtigkeit? Die Chance zum Glücklichsein?
Ein gewisser Optimismus ist für mich aber dennoch sichtbar - die Kritik am System, an der Korruption, an der Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung der Armen - das ist eine Art Aufklärung, die die Perspektive ändert und das ist durchaus positiv – das Gefühl, was wäre wenn… denn eine Gesellschaft, deren Strukturen so festgefahren und ungerecht erscheinen, hat die Veränderung und Öffnung, die Selbstbestimmung des einzelnen dringend nötig!

Bewertung vom 16.07.2022
Schäfer, Andreas

Die Schuhe meines Vaters


sehr gut

Kein Roman, sondern eine intime Rekonstruktion der Beziehung zum Vater, eine Betrachtung des Mannes von der Kindheit bis zum Tod, eine Annäherung an diesen starken, widersprüchlichen, intensiven, schwer zugänglichen Vater.
Andreas Schäfer lässt uns teilhaben an dieser Spurensuche. Schonungslos, teilweise auch extrem detailliert und offen, lernen wir den Vater Robert kennen, der kaum tiefere Kontakte zu seinen Mitmenschen aufbauen kann, obwohl er so kommunikativ und unterhaltsam ist. Als Kind in seiner Heimatstadt Berlin ausgebombt, schon früh sein Elternhaus und die gewohnte Umgebung verloren, wird er ein Getriebener, immer unterwegs, voller Begeisterung für Literatur, Kunst, Kultur, für das Wahre und Schöne, das Reisen und Erkunden, das akribisch vorbereitet wird. Die Beziehung zu seinen beiden Söhnen und seiner griechischen Ehefrau ist wechselhaft, teils intensiver, teils wieder durch Entfremdung geprägt, aber immer wieder auch mit Bewunderung und Zuneigung verbunden.
Letztendlich geht es um das Abschiednehmen vom Vater, der plötzlich einen Hirntod erleidet und nun von den lebensrettenden Maschinen wieder entkoppelt werden muss. Diese Entscheidung müssen die Angehörigen treffen und es ist eigentlich keine Frage nach dem „ob“, sondern nach dem „wann“ und bei diesem Warten und Sich-Anfreunden mit dem Tod ergeben sich diverse Fragen und die Vater-Sohn-Beziehung wird im Nachhinein neu betrachtet, analysiert und bewertet.
Eine literarische Biographie, die dem Leser die Augen für die eigene Vater-Kind-Beziehung öffnen kann, die anregt, Familienstrukturen zu überdenken, eventuell auch Schritte zu unternehmen, die eine Wiederannäherung ermöglichen. Ein nachdenkliches Buch über Verlust, Fernweh, Verstoßen-Werden, Rastlosigkeit, Sehnsüchte und Träume, Wut, innere Ruhe, Anerkennung – die Unbehaustheit eines Exzentrikers. Trotz allem ist das Buch versöhnlich und am Ende begibt sich der Autor nach einer Dusche / Reinigung auf die Suche nach seiner Familie, Frau und Tochter, Repräsentanten der nächsten Genration.