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Fornika
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Insgesamt 397 Bewertungen
Bewertung vom 13.10.2021
Ritchie Girl
Pflüger, Andreas

Ritchie Girl


sehr gut

Halbamerikanerin Paula Bloom floh einst aus Nazideutschland in die USA, und wurde dort in der Army im Camp Ritchie ausgebildet. Jetzt kehrt sie in das kapitulierte Deutschland zurück, soll bei der Befragung eines vermeintlichen Spions helfen. Die Identität von „Sieben“ ist unklar, hat man den großen Spion festgesetzt oder doch nur einen Hochstapler? Während in Nürnberg der große Kriegsverbrecherprozess vorbereitet wird, versucht Paula Siebens, aber auch ihre ganz persönliche Vergangenheit aufzuarbeiten.
Pflügers Roman ist kein netter, seichter Roman über die Nachkriegszeit, sondern oft auch mal schwere Kost. Die Frage, wer sich etwas zuschulden hat kommen lassen, sei es als hochrangiger Funktionär in SS oder SA, oder als ganz normaler Bürger, der über das Verschwinden der Nachbarn hinweggesehen hat, tja diese Frage treibt Bloom und damit den Leser um. Paula ist eine wahnsinnig interessante Figur. Sie ist von Schuld und Hass zerfressen, ihr innerer moralischer Kompass durcheinander. Immer wieder hinterfragt sie sich selbst, ihr Handeln jetzt und vor Jahren, das ihrer Mitmenschen. Allzu schnell ist sie manchmal mit ihrem Urteil, geradezu selbstgerecht; das macht sie zutiefst menschlich, unvorstellbar wie man selbst in der entsprechenden Situation reagiert hätte. Ich fand auch das Zusammenspiel mit ihrem Freund Sam sehr gelungen, der sie immer wieder zu norden versucht. In Paulas Umfeld finden sich neben fiktiven Figuren immer wieder bekannte Persönlichkeiten: von Marlene Dietrich über Stan Lee bis hin zu Willy Brandt. Wie man auch dem Nachwort entnehmen kann, sind einige dieser Berühmtheiten wirklich im entsprechenden Umfeld zugange gewesen, bei anderen hatte ich mehr und mehr das Gefühl das der bekannte Name nur gefallen ist, damit er halt mal gefallen war. Kuriose Zufälle gibt es immer, aber hier wirkte es auf mich übertrieben gehäuft, weil jeder, aber auch wirklich jeder aufgeführt wurde. Der Handlung selbst lässt sich nicht immer ganz leicht folgen, auch aufgrund der vielen Beteiligten. Dranbleiben lohnt sich aber auf jeden Fall, denn der Leser bekommt einen vielschichtigen, hervorragend recherchierten Roman, der sich mit den Themen Schuld und Reue auf seine ganz spezielle Art und Weise auseinander setzt. Wer zeitgeschichtlich interessiert ist, sollte hier definitiv zugreifen.

Bewertung vom 29.09.2021
Die Rückkehr der Zwerge 1 / Die Zwerge Bd.6
Heitz, Markus

Die Rückkehr der Zwerge 1 / Die Zwerge Bd.6


gut

Der alte Glanz der Zwergenhochkultur hat sich in den letzten hundert Zyklen etwas abgenutzt. Aber die Erinnerungen daran sich noch lebendig, ob man jetzt angeschwemmte Funde früherer Zeiten aus dem Fluss fischt, oder wie Edelsteinschnitzer Goimron in alten Aufzeichnungen wühlt. Eines Tages gelangt ihm eine ganz besondere Schrift in die Hände: Tungdil Goldhands Tagebuch. Ein unvergleichlicher Fund, der Goimrons Leben schnell völlig auf den Kopf stellt.
Was habe ich sie vermisst! Die Gemmenschnitzer, Axtschwinger, die Dritten, die Vierten, ja sogar die Schweineschnauzen… Letztere nur ein bisschen. Aber die Zwerge und ich scheinen uns auseinandergelebt zu haben. Zwar brachten sie mich ab und an zum Schmunzeln (wo ich früher eher hellauf gelacht habe), doch ihre Abenteuer haben mich diesmal ziemlich kalt gelassen. Dabei ist ihr Held Goimron zunächst erst mal erfrischend unheldenhaft, in seinem Job als Gemmenschnitzer eher untalentiert, dafür umso interessierter an allem, was an den alten Glanz von Vraccas‘ Volk erinnert. Seine Weggefährten sind recht unterschiedlich gestaltet, nicht alle Figuren (egal ob Freund oder Feind) lernt man aber so gut kennen wie man vielleicht wollte. Der Erzählstil ist dafür wie gewohnt sehr bunt und fantasievoll, schon nach kurzer Zeit ist man im Geborgenen Land angekommen. Das hat mich auch über weite Strecken bei der Stange gehalten, denn die Handlung ist dann leider doch manchmal eher zäh, gerade die Hauptschauplätze fand ich nicht ganz so interessant. Auch Ende/Cliffhanger waren eher unbefriedigend, da die Lösung mir ein wenig aus dem Zwergenhelm gezaubert schien. Der nächste Teil erscheint schon in wenigen Monaten, ich bin gerade aber ehrlich unentschlossen, ob ich dem (gar nicht so) kleinen Volk noch mal eine Chance geben will, da der Funke aus der Esse diesmal nicht überspringen wollte. Vielleicht hatte ich zu hohe Erwartungen, aber für mich kann dieser Teil nicht an die vorherigen Teile der Zwergenreihe anknüpfen, auch wenn viele altbekannte Elemente wieder vorgekommen sind.

Bewertung vom 26.09.2021
Im Winter Schnee, nachts Sterne. Geschichte einer Heimkehr
Geda, Fabio;Akbari, Enaiatollah

Im Winter Schnee, nachts Sterne. Geschichte einer Heimkehr


gut

Vor Jahren ist Enaiatollah als Kind aus Afghanistan geflüchtet, ohne Eltern, ohne Geschwister. In Italien fand er endlich eine neue Heimat, doch die Familie fehlt ihm. Doch das muss ja nicht so bleiben…
Ich kenne „Im Meer schwimmen Krokodile“ nicht, aber es wird ausreichend auf die Geschichte eingegangen, sodass man Enaiatollahs Weg auch ohne Vorkenntnisse nachvollziehen kann. In diesem Buch geht es nicht nur um seine Bemühungen Geschwister und Mutter ausfindig zu machen, sondern auch um die Geschichte Afghanistans selbst. Beklemmende Zustände, und leider auch hochaktuell. Wenn Enaiatollah davon berichtet, wie kleine Regionen zurück an die Taliban gefallen sind, so weiß man als Leser ja leider aus den aktuellen Nachrichten wie sich das Geschehen weiterhin entwickelt hat. Doch bei allem bleibt die Handlung eher persönlich, bezieht sich auf die engste Familie oder Freunde. Das Buch wird als Roman bezeichnet, auch wenn es eher eine Mischung aus mehreren Genres ist, z.T. fast schon einem langen Zeitungsartikel ähnelt. Ich fand es sehr leicht zu lesen, durchaus interessant, habe aber etwas Tiefgang vermisst. Insgesamt sicherlich kein schlechtes Buch, um sich dem Thema zu nähern, ohne auf hochdramatische aber fiktive Romane zurückgreifen zu müssen.

Bewertung vom 19.09.2021
Weiches Begräbnis
Fang, Fang

Weiches Begräbnis


sehr gut

Einst wurde sie ohne Erinnerung halbtot vor dem Ertrinken gerettet, jetzt fällt Ding Zitao erneut dem Vergessen anheim. Ihr Sohn Quinglin ist verzweifelt, versucht alles um seiner Mutter zu helfen. Können Nachforschungen zu ihrer Herkunft weiterhelfen, oder werden so nur unnötig alte Wunden aufgerissen?

Ein komplexer Familienroman, der vor dem Hintergrund der sogenannten Kulturrevolution spielt. Großgrundbesitzer werden enteignet, „bekämpft“, willkürlich ermordet. Tausendfach geschehen, und doch meist vertuscht und totgeschwiegen. Die Autorin wurde für diesen Roman zunächst gefeiert, inzwischen aber ist er so verpönt, dass er sich in keinem chinesischen Buchladen mehr finden lässt. Allein diese Tatsache macht einen als Leser schon betroffen, hat man ihn gelesen, kann man gut nachvollziehen warum. Denn was damals passiert ist, wird auch heute noch unter den Teppich gekehrt. Ich wusste über diese Thematik kaum etwas, aber Fang Fang erzählt nicht nur eine großartige Geschichte, sondern klärt auch auf über das Geschehen. Dabei wird nichts beschönigt, was die Lektüre nicht immer einfach macht. Ich musste mich erst in die Geschichte und den Stil einlesen, auch die vielen (für mich ungewohnten) chinesischen Namen waren anfangs verwirrend, dann war ich aber wirklich mitgerissen. „Weiches Begräbnis“ ist ein wichtiger Roman, der auf distanzierte, aber erschreckende Weise zeigt, welche Schrecken in der Vergangenheit verborgen liegen.

Bewertung vom 15.09.2021
The Stranger Times Bd.1
McDonnell, C. K.

The Stranger Times Bd.1


ausgezeichnet

Hannah hat sich gerade von ihrem untreuen, aber reichen Ehemann getrennt. Auf eigenen Beinen stehen bedeutet aber auch, dass man einen Broterwerb braucht. Es verschlägt sie in die Redaktion der Stranger Times, DER Wochenzeitung für die Spinner, Ufogläubigen, Hexen und andere schräge Typen. Neben wirklich besonderen Kollegen und einem cholerischen Chef merkt sie jedoch bald, dass nicht alle Nachrichten so unglaublich sind wie sie zunächst klingen.
Schräg, abgedreht und wirklich witzig ist dieser Auftaktband zur Trilogie über die Stranger Times. Die Figuren sind alles andere als von der Stange, und dieser Einfallsreichtum gefällt mir. Hannah ist eigentlich ein eher graues Mäuschen, sodass ihre Kollegen erst mal im krassen Gegensatz dazu stehen, allen voran natürlich der Chef. Seine Figur fand ich richtig gut gemacht, auch wenn er ein Ekel ist. Aber auch die Nachrichten selbst strotzen vor Witz und Fantasie, sie findet man immer mal wieder eingestreut in Form von Artikeln, welche das Geschehen auflockern. McDonnells Humor ist oft eher trocken, echt britisch eben; mir hat das sehr gut gefallen. Doch bei der Stranger Times wird es auch mal bitterernst, und dann zeigt sich was im Personal wirklich steckt. Man muss den übernatürlichen Einschlag schon mögen, bei mir hat die Idee aber ins Schwarze getroffen. Für den nächsten Band (den ich definitiv und unbedingt lesen muss) würde ich mir etwas mehr Sorgfalt im Lektorat wünschen, die ständigen Namensänderungen haben doch beim Lesen stocken lassen. Ansonsten habe ich an Hannah & Co wirklich nichts auszusetzen gehabt, und freue mich auf Neues aus der Redaktion.

Bewertung vom 29.08.2021
Der Tod und das dunkle Meer
Turton, Stuart

Der Tod und das dunkle Meer


sehr gut

An Bord der Saardam geht der Teufel um, zumindest glauben das viele von Crew und Passagieren gleichermaßen. Dabei befindet sich auf ihr nicht nur kostbare Fracht und ein hochrangiger Würdenträger, sondern auch noch Samuel Pipps, hochgelobter Detektiv, der jetzt trotzdem eingekerkert auf den Strang wartet. Er könnte das Rätsel um die höllischen Teufelsfratzen lösen, die überall auftauchen, doch er darf sein Gefängnis quasi nicht verlassen. Nun liegt es an seinem Assistent und Leibwächter Arent Hayes nicht nur Augen und Ohren offen zu halten, sondern auch das Rätsel zu lösen, bevor an Bord endgültig Panik und Chaos ausbrechen.
Turton hat einen unglaublich atmosphärischen historischen Roman geschaffen, einen Schauerroman, einen spannenden Krimi… so recht lässt sich die Geschichte in keine Schublade stecken. Ich mochte den Roman wirklich gerne, auch wenn die ganz, ganz große Begeisterung ausgeblieben ist. Turton nimmt seinen Leser mühelos mit auf sein (verfluchtes?) Schiff, bildgewaltig und sehr lebendig erzählt er vom Alltag. Man bekommt ein gutes Bild wie es wohl auf einem so großen Segelschiff zugegangen ist, inklusive sämtlicher Querelen und Machtstreitereien. Ausdrücklich weist der Autor im Nachwort darauf hin, dass er mitnichten sämtliche kleinsten Details historisch genau abbilden wollte, trotzdem bekommt man einen sehr guten Eindruck was es bedeutete monatelang und unter Einsatz seines Lebens auf den sieben Weltmeeren unterwegs zu sein.
Die Kombination von Pipps & Hayes hat vieles der typischen Holmes-Watson-Beziehung: der geniale, aber egozentrische Pipps löst mithilfe des gutmütigen Hayes knifflige Fälle, welche letzterer zur Unterhaltung der Allgemeinheit niederschreibt. Auch wenn es sich bei dieser Konstellation um ein bewährtes Rezept handelt, kann Turton den Figuren doch ein neues Gesicht geben und weiß damit zu punkten. Pipps ist keine sympathische Figur, Hayes dagegen sehr. Ich mochte seine Art von Anfang an, auch seine Entwicklung in der Geschichte ist sehr stimmig. Weitere Figuren in großen und kleinen Rollen sind vielgestaltig und interessant, viele verbergen zunächst ihr wahres Gesicht, was der Handlung zusätzlich Pepp gibt. Die ist spannend und wendungsreich, mal humorvoll, mal schaurig-brutal. Leider war ich von der Auflösung doch eher enttäuscht, was meiner Begeisterung einen Dämpfer verpasst hat. Trotzdem empfehle ich das Buch gerne weiter, da der Autor für mich vorher fast alles richtig gemacht hat.

Bewertung vom 25.08.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


sehr gut

Marco Carrera war als Kind lange der allerkleinste von allen, seitdem hängt ihm der Spitzname Kolibri nach. Jetzt als Erwachsener arbeitet er als Augenarzt in Florenz und staunt nicht schlecht, als statt dem nächsten Patienten, der Psychoanalytiker seiner Frau vor der Tür steht. Diese wolle ihn verlassen, eröffnet er Marco. Der fühlt sich an andere dunkle Stunden seines Lebens erinnert und beginnt zurückzudenken.
Veronesis Roman ist raffiniert und verschachtelt erzählt, was ihn gleichzeitig faszinierend, aber eben manchmal auch etwas verwirrend macht. Briefe von und an Marco, Telefonate und Gedichte wechseln sich mit episodenhaften Szenen seines Lebens ab, alles chronologisch weitgehend ungeordnet. Man muss am Ball bleiben, um nicht den Überblick über die knapp 60 erzählten Jahre zu verlieren. Vieles klärt sich erst im Nachhinein, Charaktere lassen sich doppelt schwer einschätzen. Sätze, die sich über mehrere Seiten ziehen, machen es manchmal schwerer, aber auch deutlich interessanter. Veronesis Stil ist eigenwillig, aber sehr ansprechend und hat mich mehr als einmal überrascht.
Marco ist ein Allerweltstyp, der aber in seinem gutbürgerlichen Leben viel Pech gehabt hat. Zumindest wirkt es in der Summe der Dinge zunächst so, was dem Roman eine etwas depressive Grundstimmung gibt. Trotzdem gibt es auch Hoffnungsschimmer, und die liegen oft in der Familie. Familie ist das Grundthema dieses Romans, mal auf traurige oder beschämende Weise, mal auf skurrile und humorvolle. Ich mochte den Kolibri ganz gerne, auch wenn sich der Autor in der ein oder anderen Abschweifung verflattert hat.

Bewertung vom 24.08.2021
Die Blankenburgs / Die Porzellan-Dynastie Bd.1
Berg, Eric

Die Blankenburgs / Die Porzellan-Dynastie Bd.1


sehr gut

Der schwarze Freitag ändert im Hause Blankenburgs alles: ein Großteil des Vermögens hat sich mit dem Börsencrash in Luft aufgelöst, die beiden führenden Familienmitglieder wählen den Freitod. Zurück bleiben die zerstrittenen Schwestern Elise und Ophélie, die beide mit den täglichen Geschäften der Firma wenig zu tun hatten; kurz gesagt, die traditionsreiche Porzellanmanufaktur steht vor dem Aus. Hilfe könnte die Manufaktur Löwenkind bieten, deren jüdische Inhaber allerdings immer mehr unter den Repressalien der Nazis zu leiden haben. Als dann noch ein verschollener Bruder und eine dominante Tante auftauchen, ist der Alltag in der gut situierten Familie endgültig zum Teufel.
Bergs Roman ist ein richtiger Schmöker, der sich leicht lesen lässt und trotzdem fesseln kann. Die Familie Blankenburg bietet reichlich z.T. verschrobene Persönlichkeiten, die in ihrem Miteinander unterhalten können. Gerade Tante Arabella nimmt nie ein Blatt vor den Mund, genau wie Tankred, der allein durch seine Person überall aneckt; sicherlich findet man ähnliche Figuren häufig in diesem Untergenre, trotzdem geht das bewährte Konzept auch in diesem Roman auf. Das zunehmend prekäre politische Klima wird greifbar dargestellt, auch die Motivation vieler früher Anhänger und Mitläufer authentisch wiedergegeben. So erhält die sonst eher seichte Familiensaga doch noch einiges an Tiefe. Ich mochte die Entstehungsgeschichte und auch den Alltag in der Manufaktur sehr, man erfährt Interessantes über dieses Metier. Leben und Alltag in Frankfurt hätten für mich etwas mehr herausgearbeitet sein dürfen, da hatte ich mir doch plastischere Bilder erhofft. Trotzdem ergibt die Geschichte ein rundes Bild, und auch die kleinen und große Problemchen der Blankenburgs haben mich letztendlich unterhalten und neugierig auf den nächsten Band gemacht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.08.2021
Harlem Shuffle
Whitehead, Colson

Harlem Shuffle


sehr gut

Ray Carney ist der Sohn eines zwielichtigen Vaters, und gerade deswegen bemüht ein sauberes Leben zu führen. Sein kleiner Möbelladen in Harlem läuft gut, Frau und Kind sind glücklich mit den doch eher einfachen Verhältnissen. Doch immer wieder werden Rays gute Vorsätze auf die Probe gestellt, dann nämlich, wenn Cousin Freddie mal wieder einen fabrikneuen Fernseher vorbeibringt, der vom Laster gefallen ist; oder eine Halskette aus recht undurchsichtiger Herkunft. Bis Freddie den Falschen bestiehlt, und die harten Jungs plötzlich den beschaulichen Möbelladen ins Visier nehmen.
Whiteheads Roman lässt Harlem vor dem geistigen Auge lebendig werden, über gut fünf Jahre begleitet man Ray und sein Viertel. New York hat mit einem immer größer werdenden Drogenproblem zu kämpfen, mit Aufständen und Rassenunruhen, und auch das spiegelt sich im Roman wieder. Zeitgeist steckt reichlich zwischen den Seiten, für mich einer der großen Pluspunkte der Handlung. Die verliert sich zwischenzeitlich leider ein wenig in Zusammenhängen, Hintergründen und Lebensläufen von Figur xyz; nicht uninteressant, aber nicht unbedingt immer nötig.
Ray verkauft Möbel aus Leidenschaft, ich fand es charmant wie man nebenbei noch so einiges über die Branche im Kleinen mitbekommt. Mir hätte er mit seiner Begeisterung auf jeden Fall etwas verkaufen können. Ich mochte ihn ganz gerne, auch wenn nicht alle Entscheidungen für mich nachvollziehbar waren. Er kann manchmal nur schwer aus seiner Haut und auch sein Gefühl, er würde Freddie etwas schulden nimmt für mich irgendwann Überhand. Trotzdem ist er eine stimmige Figur, die zu Ort und Zeit gut passt.
Harlem Shuffle ist ein interessanter gesellschaftlicher Roman aus dem Harlem der 60er, Kleingangstermilieu und Möbelfachberatung gibt es gratis dazu.

Bewertung vom 11.08.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Jan lebt mit seinem Vater am Rande von Kamenz, einer Stadt in Ostdeutschland, die schon bessere Tage gesehen hat. Immer mehr Häuser und Geschäfte stehen leer, das Krankenhaus in dem Jan arbeitet, wird demnächst geschlossen. Einer der letzten Patienten dort, Herr Kern, scheint mehr über Jans Familie zu wissen als dieser selbst, sodass Jan selbst nun auch immer mehr unbequeme Fragen zu stellen beginnt.

Mit Rietzschels Debütroman hatte ich so meine Schwierigkeiten, doch Raumfahrer hat mich sehr positiv überrascht. Um den Künstler George Baselitz und dessen Familie entspinnt der Autor eine fiktive Handlung, die den Leser schnell fesselt. Auf zwei Zeitachsen werden langsam Zusammenhänge sichtbar, die sich gut zu einem Ganzen zusammenführen lassen. Die Nachwendezeit, das Gefühl vieler nicht mehr so richtig dazuzugehören, die Spuren der gesellschaftlichen Umbrüche, all das nimmt großen Raum im Roman ein und wird so greifbar für alle Leser. Die Handlung kommt ohne große Gefühle, ohne große Dramatik aus, und sagt doch mit ganz leisen Tönen so viel aus. Raumfahrer ist kein ganz leichter Roman, aber einer der einiges zum Grübeln beim Leser hinterlässt.