In „Wir dachten, das Leben kommt noch“ von Elisabeth Sandmann will die BBC-Redakteurin Gwen über Frauen recherchieren, die im 2. Weltkrieg für die britische Spezialeinheit SOE u.a. in Frankreich mit der Resistance zusammenarbeiteten und Sabotageakte verübten. Gwen reist nach Paris und stößt dort auf die Verwicklung ihrer aristokratischen Großmutter Ilsabé, die offenbar in Paris unter deutscher Besatzung selbst den Untergrund unterstützte.
Was für eine interessante und fesselnde Handlung. Zum ersten Mal habe ich hier Details über die Arbeit der SOE gelesen.
Die Abfolge des Geschehens verschachtelt Sandmann gekonnt, so dass sich aus der Konstruktion für uns Lesende ein Gesamtbild entwickelt, über das die Protagonistinnen des Romans erstmal nicht verfügen. Das finde ich sehr gelungen.
Eigentlich hat mir die Erzählung also gut gefallen. Dennoch mag ich nicht mehr Sterne geben, weil das Buch einfach zu viele handwerkliche Schwächen aufweist:
Ein Großteil der Figuren aus Gwens Umfeld wird nicht adäquat eingeführt (daran ändert auch das kurze Personenregister am Schluss des Buches nichts). Wesentliche Details z.B. zu Kater Sloppy, Freundin Laura, Mutter, Vater, Tante... bleiben im Schatten und das ließ mich wiederholt verwirrt zurück. Diese Figuren haben sich mir erst erschlossen, als ich mit diesem Roman durch war und am Ende des Buches unerwartet über die Leseprobe zum vorherigen Roman der Autorin ("Portrait auf grüner Wandfarbe") stolperte. In diesem werden sie ausführlich dargestellt, hier wird davon so gut wie nichts angerissen. Mir ist noch nicht einmal klargeworden, ob/dass der Roman sich als Fortsetzung versteht.
Der Stil bleibt oft sperrig und in den Formulierungen selbst in der „Jetztzeit“ des Buchs (1998) tantig-unzeitgemäß: Innere und äußere Dialoge sind hölzern – wer hat 1998 so geredet? Schilderungen bleiben ebenso formelhaft – wie sieht denn ein „elegant geschnittener“ Salon aus und was bringt mir z.B. die Info, dass dem Blick des einmalig erwähnten Kellners, einer Nebenfigur, zu entnehmen war, „ob“ eine Weinauswahl seine Zustimmung traf (ohne, dass verraten wird, welches Gesicht er denn zum Wein letztlich machte). Zum Teil finden sich auch einfach grammatikalisch inkorrekte Konstruktionen.
Von einer erfahrenen Verlegerin (oder ihrem Lektorat bei einem anderen Verlag als dem eigenen) erwarte ich mehr Professionalität bei der sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung.
Die sachlichen Erläuterungen der Autorin am Schluss des Buches sind deutlich angenehmer lesbar. Vielleicht hätte ihr ein Sachbuch besser gelegen, auch wenn der Ansatz, das Geschilderte in Romanform anschaulich zu verpacken, sicher breitere Leseschichten für dieses spannende Kapitel der Geschichte verspricht.
Das Buch lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits fand ich es über manche Passagen interessant zu lesen, weil es von vielschichtigen Charakteren handelt.
Andererseits finde ich es zum Teil ärgerlich, zum Teil ungut konstruiert. Die umrahmende Handlung mit Esther und Hannah steht im Prinzip beziehungslos da; insbesondere, weil sich abschließend herausstellt, dass Hannah nichts von dem, was wir Lesende im Buch erfahren, einordnen kann. Wir erfahren auch über Hannah nichts weiter. Warum also?
Der überlange Part zu Liors Erscheinen im Kibbuz kam mir wie der Versuch vor, die Geschichte noch irgendwie als Thriller zu verkaufen - was sie aber nicht ist.
Was das Buch leider auch nicht einlöst, ist das Versprechen des Verlagstexts, etwas über die Geschichte des Staates Israel zu erzählen - vielmehr bleibt diese im Buch genau so fragmentiert und unnachvollziehbar dargestellt angerissen (nicht auserzählt) wie eine Vielzahl der Charaktere. Sie alle werden vom Autor nur kurz aufgespießt, nicht wirklich mit Leben erfüllt und fallengelassen.
Es wäre toll gewesen, über Ruth und ihren Kreis, ihre Geschichte, ihre Beweggründe - ihre Entwicklung - wirklich etwas zu erfahren.
Stattdessen ist aber das einzige, was ich mitnehme, die Erinnerung daran, dass Gewalterfahrung uns Menschen in der Regel so prägt, dass wir die Gewaltspirale weiterdrehen, an folgende Generationen weitergeben und eine Gesellschaft vergiften.
In „Meine Mutter“ geht die Emma-Fotografin Bettina Flitner in Form eines autobiografischen, in Teilen autofiktionalen Familienromans dem Suizid ihrer Mutter und der damit verbundenen Geschichte einer Familie, in der es eine Häufung von Suiziden gibt, nach - im Hintergrund die Frage, ob der erste Suizid in dieser Familie zugleich eine Tür öffnete, Suizide als Konfliktlösungsmethode zu sehen.
Flitner begibt sich dafür auf eine persönliche Spurensuche in die familiären und historischen Wurzeln. Die Reise führt sie ins heutige Polen, in jene Region, wo ihre Familie einst ein Sanatorium betrieb und wo Flucht und Verlust im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg prägende Spuren hinterlassen haben. Sie schildert sozialen Absturz und Wiederaufstieg. Flitner rekonstruiert aus Tagebuchauszügen, Briefen und Erinnerungen ein Bild familiärer Brüche, das zugleich die gesellschaftlichen Umstände reflektiert. Dabei erzählt sie nüchtern, auch über sich und ihren Umgang mit dieser Familiengeschichte. Interessant, aber zugleich in Teilen leider auch langatmig, ist ihre Schilderung, wie sie im heutigen Międzygórze den Spuren ihrer Familie nachgeht.
Die schwangere Ruth verlässt nach dem Verschwinden ihres Partners Ende der 1960er Jahre Ostberlin, weil ihr Vater das fordert. Sie findet in dem kleinen mecklenburgischen Dorf eine neue Heimat, freundet sich mit Hannah an. Ihre Kinder Jule und Andi wachsen zusammen auf, sind beste Freunde und verlieben sich ineinander. Die Handlung begleitet die Figuren des Dorfes, vor allem Jule und Andi, über mehr als dreißig Jahre hinweg, vom Aufwachsen im ländlichen Osten bis in die Zeit nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Jules Drang, die Welt zu sehen ist deutlich größer als Andis, und nach dem Mauerfall verlässt sie die Region, begibt sich auf Spurensuche zum Familiengeheimnis, während Andi in ihrem Dorf verharrt.
Begeistert hat mich, mit wie viel Warmherzigkeit es Laura Maaß zu Beginn des Buches gelingt, ihre Figuren zu zeichnen - ihre Verschrobenheiten und Widersprüche machen sie liebenswert, ich habe fast alle ins Herz geschlossen. Das ist mir bei einem Roman so noch nicht passiert. Dieser Anfang ist für mich deshalb die große Stärke des Buchs.
Dieser liebevolle (und natürlich auch nicht wirkliche realitätstreue) Umgang mit der Handlung, der für mich die besondere Schönheit der Erzählung ausmacht, kippt aber leider ab dem Punkt, an dem Jule in die Welt zieht, ins völlig Unglaubwürdige (aus allen möglichen Gründen, die ich hier nicht ausführe, weil ich sonst den Fortgang der Geschichte spoilern würde. Nur so viel zu einem der Aspekte: Echt jetzt - x Jahre? Das Festnetztelefon als Rechercheinstrument war ja vor der Jahrtausendwende durchaus schon erfunden), was ich dann zunehmend unerfreulich fand. Im Ergebnis lässt das Buch mich daher ein bisschen zwiegespalten zurück. Wegen des wirklich tollen Leseerlebnisses im ersten Teil bleibe ich trotzdem bei 4 Sternen.
„Adlergestell“ erzählt von drei Mädchen – Lenka, Chaline und der namenlosen Erzählerin – die in den frühen 1990er-Jahren an der Ausfallstraße Adlergestell in Ost-Berlin aufwachsen. Im Mittelpunkt stehen ihre Kindheitserfahrungen in der unmittelbaren Nachwendezeit: Die Mädchen und ihre Angehörigen müssen sich in einer Welt voller Umbrüche orientieren. Die meisten Protagonist:innen in Laura Laabs Geschichte stehen der „Wende“ kritisch gegenüber. Das hebt die Erzählung aus dem Einheitsbrei heraus. Nach einer Zeit des Zusammenwachsens werden die Freundinnen getrennt. Alle entwickeln sich unterschiedlich, aber zeitgemäß. Die Erzählerin blickt auch darauf, was aus ihnen geworden ist. Manches deutet darauf hin, dass das Buch zum Teil autofiktionale Züge haben könnte. Deshalb macht es mir nicht so große Sorgen, dass die Figur der Erzählerin zum Schluss politisch ziemlich nach rechts-egal abdriftet.
Die Erzählung hat mir insgesamt gut gefallen – insbesondere die guten Beobachtungen aus vorgeblich kindlich naiver Sicht zu sozialen und politischen Verhältnissen und Veränderungen in der Wendezeit. Die Autorin schafft es, die Verunsicherung vieler Menschen und das Sich-Arrangieren in dieser Zeit authentisch einzufangen. Auch der sehr pointierte, etwas lakonische Schreibstil gefällt mir sehr.
Leider führt der Verlagstext ein bisschen in die Irre: Wer hofft, im Roman mehr über die Entwicklung der drei Mädchen zu erfahren, wie sie zu den Erwachsenen wurden, die sie letztlich sind, wird von der Erzählweise und Struktur des Romans enttäuscht. Die Kindheitserinnerungen und Impressionen bleiben oft fragmentarisch – die Biografien der drei stehen nur punktuell im Mittelpunkt. Was die Freundinnen verbunden hat und warum sie wurden, wer sie heute sind, wird nicht geklärt, allenfalls angedeutet. Der Fokus wandert immer wieder auf Zeitgeschichte als Gesamtbild und die Randfiguren (was sehr interessant ist), aber auch auf vielschichtige Paarbeziehungen der erwachsenen Erzählerin, die selbstverständlich einen Bezugspunkt im Aufwachsen am Adlergestell haben, deren Relevanz für die Geschichte sich mir aber nur in Bruchteilen erschließt.
Dennoch ein Buch, das bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlässt und wichtige Fragen nach Identität, Veränderung sowie zum ebenfalls thematisierten gesellschaftlichen Umbruch der „Wende“ stellt.
Tolle Frau
Jacqueline Kornmüller erzählt vom Leben ihrer Großmutter Lina und von ihrer sehr engen Beziehung zu dieser. Lina hat sich aus ärmlichsten Verhältnissen zur Hoteleigentümerin hochgearbeitet. Die Erzählung beginnt wirklich interessant und facettenreich, mit der harten Jugend der Großmutter. Lina wird als ganz außergewöhnliche, anziehende Persönlichkeit herausgestellt. Der sozialkritisch daherkommende Einstieg mit Linas Aussage "So eine Armut, wie ich sie als Kind erlebt habe, gehört verboten" wird allerdings nicht weiter verfolgt. Die kurzen lakonischen Sätze gefallen mir gut, es gibt aber fuer meinen Bedarf zu häufig knapp aufeinander folgende Begriffsdopplungen. Das Buch liest sich schnell weg. Die Geschichte hat sehr viel Potential - Lina war offenbar eine beeindruckende Frau. Das von Kat Menschik gestaltete Cover ist (wieder einmal) großartig.
Kraftvoll
„Wohin du auch gehst“ von Christina Fonthes hat mich tief bewegt. Das Buch erzählt sehr authentisch von Bijoux und ihrer Tante, die zwischen Kinshasa und London zerrissen sind – zwischen familiären Erwartungen, religiöser Prägung und der Suche nach der eigenen Identität. Besonders beeindruckt hat mich, wie facettenreich und lebendig Fonthes das Leben in Kinshasa schildert. Ich habe viel über den Alltag dort, die gesellschaftlichen Zwänge und die Rolle politischer Unsicherheit gelernt. Die Themen Migration, Queerness und Familie werden sehr klischeefrei behandelt. Die Figuren fühlen sich echt an, ihre Sehnsüchte und Konflikte haben mich berührt. Der Roman lässt außerdem Kinshasa sehr nah und greifbar werden.
Ein ruhiges Buch legt Annett Gröschner hier vor - aber absolut kein langweiliges. Ein Buch über ein typisches und auch nicht nur typisches Frauenleben in den 1930er bis 1990er Jahren. Typisch an Hanna ist, dass sie sich als Mädchen aus kleinen Verhältnissen durchschlagen muss, viel Arbeit, Sorge und Härten erlebt, sechs Kinder zur Welt bringt und noch öfter schwanger wird, ohne das zu wollen. Ihre Schwestern konnten sich ihre Leben etwas dadurch erleichtern, dass sie Ehemänner wählten, die ihnen einen sozialen Aufstieg ermöglichten. Hanna wurde direkt nach der ersten gemeinsamen Nacht mit ihrem Verehrer Karl schwanger, deshalb mussten die beiden heiraten. Und Karl verlor schon kurz nach der Heirat seine Arbeit - die wirtschaftlich schwierigen 30er Jahre. Auch politisch schwierig ist die Zeit - aber da versucht Hanna sich durchzulavieren, den Mund zu halten, möglichst nicht aufzufallen. Wie auch später in der DDR und nach dem Mauerfall.
Der womöglich untypischer erscheinende Teil von Hannas Leben hängt damit zusammen, dass sie den Lebensunterhalt der Familie sichern muss. Untypisch erscheint das allerdings nur, wenn das 50er-60er-Jahre-Westdeutschland als Maßstab genommen wird.
Zuerst hilft Hanna ihre Liebe zu Blumen - und dass sie ein Händchen dafür hat, außergewöhnliche Sträuße zu entwerfen. Sie führt ihren eigenen Blumenladen. Später muss sie als Putzfrau arbeiten, bevor sie letztlich Kranführerin werden kann.
Die Liebe zu Blumen zieht sich durchs Buch. Auch indem alle Kapitel Blumen (und Tieren) aus einem Gemälde von Bosschaert zugeordnet sind.
Hannas Geschichte ist nicht spektakulär, aber interessant.
Sarah Lorenz hat mit ihrem Debütroman kein leichtes, sondern ein ergreifendes und fesselndes Buch vorgelegt. Ihre Protagonistin Elisa bewundert die Dichterin Mascha Kaleko, die wie z. B. Irmgard Keun der Neuen Sachlichkeit zugerechnet wird. Die Abschnitte ihres Romans leitet Sarah Lorenz mit Gedichten von Mascha Kaleko ein. Elisas Ideenwelt wird stark von Mascha bestimmt, und sie richtet sich daher auch in ihrer gedanklichen Auseinandersetzung an sie. Elisa selbst hat harte Zeiten durchlebt und ist davon geprägt – die Triggerwarnung im Buch weist gleich schon darauf hin, dass der Roman um diese Härten kreist. Deshalb will ich hier auch keine Details vorwegnehmen. Das Buch hat mir mit all seinen bzw. Elisas Höhen und Tiefen gut gefallen.
Nora Blum hat nach ihrem Psychologiestudium zunächst mit Freundinnen eine Online-Therapieplattform aufgebaut und vermarktet, die schnell Anerkennung fand (nicht zuletzt wegen des großen Mangels an zeitnah verfügbaren Therapieplätzen). Mit Anfang 30 ist sie dann aus ihrem aufreibenden CEO-Leben erst einmal ausgestiegen und hat sich der „Radikalen Freundlichkeit“ verschrieben, die sie auch in einem Podcast propagiert. Ihr Buch dazu ist ausdrücklich Berlin gewidmet – der Stadt, in der sie lebt, und die mehr als nur ein bisschen Freundlichkeit im Umgang der Menschen miteinander sehr gut brauchen kann. Nora Blum erläutert nicht nur ausführlich, worum es ihr geht und was sie unter Radikaler Freundlichkeit versteht: Denn Radikale Freundlichkeit bedeutet für Nora Blum nicht „immer nur Lächeln“ und Zurückstecken, sondern empathische Authentizität und liebevolles Für-sich-selbst-einstehen. Sie analysiert aber nicht nur, sondern gibt auch Tips, zum freundlich zu sich selbst sein, wie sich freundlich Nein sagen lässt, wie Konflikte freundlich auszutragen sind etc. All das ein Ansatz, der so alltäglich klingt, dass wir auch selbst schon hätten drauf kommen können. Sind wir aber häufig genug nicht.
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