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kaffeeelse
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psychologiebegeiste und Ethnographie liebende Vielleserin

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Insgesamt 101 Bewertungen
Bewertung vom 03.08.2025
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


ausgezeichnet

Das Gestern und das Heute

1961 in der niederländischen Provinz. Eine andere Zeit. Eine Zeit, in der die Freiheit, die wir heute kennen, nicht ansatzweise zu finden ist. Isabel lebt nach dem Tod der Mutter allein in dem Haus der Familie. Isabel scheint in sich gefangen zu sein, alles ist fest gefügt, hat einen starren Platz. Ihre Erziehung spricht aus ihr, und auch der Platz, den die Frauen der damaligen Zeit einnehmen, einnehmen sollen und einnehmen müssen. Sie wähnt sich sicher. Doch ist sie das? Ein Haus bedeutet auch eine gewisse Macht. Und lässt ihre Familie ihr diesen Platz. Einer unverheirateten Frau. Zwei Brüder hat sie. Beide sind wegen ihrer eigenen Interessen von zu Hause weg. Doch jetzt erscheinen sie wieder. Da gibt es Hendrik, zu dem Isabel eine Bindung hatte, der aber aus seinem Elternhaus geflohen ist. Warum er geflohen ist, verdrängt Isabel und übernimmt durch den Druck der Mutter deren Sicht auf Hendrik. Alte Verletzungen kommen hoch als Hendrik wieder auftaucht. Und dann gibt es Louis, der ebenso wieder erscheint und Isabel auf ihre fragile Situation aufmerksam macht, sie bedrängt und sie dazu bringt seine Freundin Eva bei sich in ihrem Haus, im Haus der Mutter aufzunehmen. Isabel blockt ab, zeigt Eva die kalte Schulter. Doch irgendetwas passiert zwischen den beiden Frauen. Und nicht nur zwischen ihnen. Denn auch im Haus passiert etwas. Dinge verschwinden. Dafür drängt sich eine Vergangenheit ins Bewusstsein. Eine verdrängte Vergangenheit, die in der Kindheit von Isabel stattfand.

Dies zum Buch. Yael van der Wouden hat hier ein Buch geschrieben, welches mich recht schnell in seinen Bann gezogen hat. Isabel in ihrer Schrulligkeit ist kein einfacher Charakter, dennoch brennt sie sich nach und nach in mein Hirn und nach und nach auch in mein Herz. Denn ihr steht eine gewisse Veränderung bevor, die mich richtig mitfiebern ließ. Ihre Findung, ihre Veränderung liest sich absolut nachhallend, ihre hinter einem Panzer verschlossene und nun doch langsam auftauchende Sinnlichkeit berührt mich und ich habe wirklich alles an diesem Buch geliebt. Die Entwicklung der Isabel, wie auch dieses Vergangene, was die heile Welt der niederländischen Familie sprengt.

Ein richtig intensives Buch, aber auch ein absolut spannendes Buch und auch ein sehr sinnliches Buch. Eine für mich sehr gelungene Mischung! Lesen!

Bewertung vom 03.08.2025
Effah, Charline

Die Frauen von Bidi Bidi


ausgezeichnet

Verbindende Traumata

Bidi Bidi. Von diesem Ort hatte ich vor diesem Buch noch nichts gehört. Bidi Bidi ist ein Flüchtlingslager im Norden von Uganda. Ein Flüchtlingslager mit einem recht hohen Frauenanteil in seinen Bewohnern. So kann man es im Netz lesen. Frauen, die vor kriegerischen Auseinandersetzungen fliehen, Frauen, die vor der Gewalt fliehen. Was werden diese Frauen wohl alles erlebt haben? Die Frauen in Bidi Bidi. Und die ganzen anderen Frauen in diesen Flüchtlingslagern der gesamten Welt. Denn Bidi Bidi steht hier wohl nur exemplarisch. Dies muss man sich bewusst machen. Denn ich habe nicht nur von Bidi Bidi noch nie etwas gehört. Hier gibt es wohl noch sehr viel mehr Orte, von denen man in unseren Nachrichten noch nie etwas gehört oder anderswo etwas vernommen hat. Nun ist unser Wissen darüber ja dennoch vorhanden. Denn wir wissen was in den kriegerischen Auseinandersetzungen der verschiedenen Konfliktpartner überall mit den eigentlich unbeteiligten Zivilisten passiert. Sei es der Ostkongo, sei es Somalia und Kenia, sei es Myanmar (das frühere Burma), seien es die lateinamerikanischen Flüchtlingsströme ins bisher gelobte Land Amerika, seien es die Äquivalente in den afrikanischen Ländern, die in die gelobten Länder Europas unterwegs sind, seien es die tschetschenischen Menschen, seien es die afghanischen und iranischen Menschen, die vor der Gewalt fliehen, seien es die syrischen Staatsbürger, die vor der anhaltenden Gewalt fliehen, oder die Jesiden, die vor der Gewalt flohen und immer noch in ihren Heimatgebieten gefährdet sind. Von Palästina und der Ukraine möchte ich gar nicht anfangen. Oder Belorussland mit seinem Machthaber, gegen den vor nicht allzu langer Zeit gerade die Frauen protestierten. Eine lange Liste, ich weiß, aber ist diese Liste vollständig? Mitnichten! Denn wir hören von so vielen Konflikten gar nichts in unseren Medien. Und bewusst nachforschen kommt den meisten Menschen gar nicht in den Sinn. Es fehlt die Zeit und vielleicht auch der Wille. Denn sich mit den Grausamkeiten der Welt auseinanderzusetzen, macht etwas mit einem.

Charline Effah hat in ihrem Buch einen Blick in dieses Bidi Bidi geworfen. Ein Flüchtlingslager im Norden von Uganda. Ein Flüchtlingslager, welches Flüchtlingsströme aus dem Südsudan und auch aus dem Sudan aufnimmt. Menschen die vor dem Krieg fliehen und vor den Auseinandersetzungen der verfeindeten und/oder machthungrigen Lager. Charline Effah gibt diesen Menschen Gesichter, zeigt die Unsinnigkeiten dieses Krieges auf. Denn auch die Bewohner dieses Lagers entstammen unterschiedlichen Parteien, nehmen vielleicht einen gewissen Teil der Konflikte in dieses Lager mit. Charline Effah lässt in ihrem Buch helfende Seelen auftreten und ihr gelingt hier ein grandioser Schachzug. Sie verbindet die Gewalt, die wir auch hier in unseren ach so sicheren Gefilden kennen, mit der Gewalt an den Anderen. Denn es gibt hier eigentlich nur ein uns. Ein Wir Alle!

Ein intensives Buch! Ein bewegendes Buch! Ein wichtiges Buch!

Bewertung vom 03.08.2025
Nkweti, Nana

Über Muscheln laufen


sehr gut

Kreative Blicke

„Über Muscheln laufen“ ist der Titel des Buches. Über Muscheln laufen kann sehr weh tun. Wenn sie scharfkantig sind. Der englischsprachige Titel kann allerdings noch mehr verraten, lautet er doch „Walking on Cowrie Shells“. Also Kauri Muscheln. Und Kauri Muscheln oder richtigerweise Kauri Schnecken sind seit einer langen Zeit Zahlungsmittel in Afrika, Asien und der Südsee. Also kann der Titel auch mit über Geld laufen interpretiert werden. Über scharfkantiges Geld laufen würde auch gehen.

Die Amerikanerin Nana Nkweti wurde im Kamerun geboren, ist Professorin für Englisch an der Universität von Alabama, unterrichtet dort Kreatives Schreiben. Nach der Lektüre des Buches „Über Muscheln laufen“ kann ich das vollkommen nachvollziehen.

Denn die Stories in „Über Muscheln laufen“ sind sehr vielschichtig und ich habe diese Kurzgeschichten sehr gern gelesen. Die Autorin erscheint hier in diesen Geschichten als eine recht vielseitig versierte Schriftstellerin. Man bemerkt in den Texten eine gehörige Portion Gesellschaftskritik, aber diese Geschichten haben auch Anteile im Magischen Realismus, wie auch etwas Mystery und SF durchschimmern. Dies finde ich recht bemerkenswert. Wenn man bedenkt, dass „Über Muscheln laufen“ ja ein Debut ist.

Die Aufmerksamkeit, die Nana Nkweti mit ihrem Kurzgeschichtenbuch bekommen hat, kann ich sehr gut verstehen und ich bin der Meinung, dass Nana Nkweti noch weitere literarische Leckerbissen servieren wird. Ich werde auf jeden Fall die Augen offenhalten, denn „Über Muscheln laufen“ finde ich wirklich sehr gelungen.

Was ich auch sehr interessant finde, ist die Intensität, die in den Geschichten liegt. Hier ist jemand wütend und bringt diese Wut literarisch in eine Form. Denn die Gesellschaftskritik sehe ich hier nicht nur in der Kritik des Kolonialismus, hier findet auch eine Kritik am Selbstverständnis des Schwarzen Amerika statt, wie auch eine Kritik am Verständnis weiblichen Erlebens in den Kurzgeschichten stattfindet.

Hier in diesem Buch sind Kurzgeschichten versammelt, die eines gemeinsam haben. Sie sprühen vor Feuer!

Bewertung vom 03.08.2025
Abbas, Fatin

Zeit der Geister


sehr gut

Eine Liebe, die nicht sein darf und der Krieg

„Zeit der Geister“ ist ein Roman, der im Sudan handelt, in der Provinz Süd-Kordofan. Schon dieser Aspekt ist für mich ein Grund gewesen, nach dem Buch zu greifen, begeistert mich der Sudan schon eine geraume Zeit. In Kinderzeiten waren es Filme, dann kamen die Bücher. Der Brockhaus Verlag Leipzig begann in den Achtziger Jahren alte Reisebeschreibungen neu herauszubringen. Unter ihnen war das Buch „Im Herzen von Afrika“ von Georg Schweinfurth. Dieses Buch war ein weiterer Grund für meine Liebe zu den Bewohnern der Landschaften des Sudan. Wobei der Begriff Sudan hier ethnologisch gemeint ist und daher weitere Gebiete darin zusammenfasst, als das Gebiet des heutigen Staates Sudan umfasst. Im völkerkundlichen Gebiet Sudan trafen arabische Stämme auf autochthone Bevölkerungen, ein kultureller Austausch begann, aber leider auch kriegerische Kontakte. Der arabische Einfall in Nordafrika begann 647 n. Chr., in den Gebieten des Sudan fand die Besiedelung etwas zeitversetzter statt, etwa ab 1100 n. Chr.. Seither gibt es dieses Hin und Her in den Besitzansprüchen, in den Kriegen und in den Beziehungen der unterschiedlichen Völkerschaften. Dies nur als kurzer Abriss zum Geschehen des Buches. In Süd-Kordofan siedeln die verschiedenen Stämme der Bewohner der Nuba-Berge, die arabische Bevölkerung und die nilotischen Dinka.

Dies zum Verständnis des Buches. Hinzu kommen nun europäische/westliche Ansichten. Denn seit der Kolonialzeit mischen hier in dieser Gemengelage auch noch europäische und etwas später auch amerikanische Interessen mit.

In dem Buch „Zeit der Geister“ wird das politische Geschehen am Rand geschildert, der Autorin ist die menschliche Sicht hier wichtiger. Eine NGO versucht hier im Süd-Kordofan zu helfen, inwieweit sie das Geschehen in Süd-Kordofan im Blick hat, kommt nicht vollkommen zum Tragen, es hat aber für mich irgendwie den Anschein, dass dies nicht so wichtig scheint. Keine Ahnung, ob dies der Realität entspricht. Doch wächst jede menschliche Anstrengung mit ihren Akteuren und da wir nicht alle perfekt und meisterhaft agieren, scheinen Fehler hier vorprogrammiert zu sein. Doch Fehler in dieser Gemengelage. Nun ja.

In der NGO arbeiten der amerikanische Kartograf Alex aus Cleveland, der nilotische William als ortskundiger Unterstützer und Dolmetscher und die arabische Layla als Köchin. Mit dabei, aber nicht direkt in der NGO tätig, ist die amerikanische Filmerin Dena, deren Eltern aus dem Sudan stammen, die also einiges am Geschehen im Sudan kennt, allerdings eher vom Hörensagen als durch eigenes Erleben. Denn plötzlich ist die ruhige Welt Geschichte, Rebellen tauchen auf und deren Tun ruft die Reaktion des Staates hervor, wie auch das Tun des arabischen Staates Reaktionen bei Nuba und Dinka hervorruft.

Eine Liebe steht zentral, eine Liebe, die etwas allzu gewollt erscheint. Dennoch kann ich dieses allzu sehr konstruierte dennoch verzeihen, denn die Geschichte, die Informationen zum Procedere in Süd-Kordofan finde ich hier wichtiger. Und dies gelingt Fatin Abbas sehr gut. Denn hier bekommt der geneigte Leser ach Informationen zum politischen Geschehen in Süd-Kordofan, wie auch der Rolle des Westens darin. Dahingehend ist es ein kluger Roman, den Fatin Abbas hier geschrieben hat und diese mich nicht völlig überzeugende Liebesgeschichte empfinde ich hier eher als Mittel zum Zweck. Von daher passt hier alles für mich.

Wer am Geschehen im Sudan interessiert ist, sollte zu diesem Buch hier greifen. Mir hat es sehr gut gefallen.

Bewertung vom 03.08.2025
Libaire, Jardine

Dein Herz, ein wildes Tier


sehr gut

Wegkreuzungen

In Oklahoma in einem Camp treffen sich Aussteiger aus der amerikanischen Gesellschaft und bilden eine Gemeinschaft, in der Tim das Sagen hat. Dabei ist diese Gemeinschaft kein totaler Verbund dieser Menschen. Eher werden sie durch das Geschehen davor dahin geweht, hier schwimmen sie in dem Maße mit Tim, wie sie es eben vermögen, ohne die Wut von Tim zu wecken. Man lernt in dem Buch von Jardine Libaire einen Teil der hier Gestrandeten kennen, darüber lernt man auch auf eine gewisse Weise die amerikanische Gesellschaft kennen. Und was zählt dort, aber nicht nur dort? Yes, der Mammon. Denn irgendwie finanziert werden muss dieses Camp eben auch. Aus diesem Grund wird Crystal Meth erzeugt. Und dieses Crystal Meth hat in seiner Herstellung auch Gefahren. Und so kommt es wie es eben kommen soll. Eine Explosion und ein darauf wütender Brand, zerstören das Camp, rufen Polizei und andere Einsatzkräfte herbei. Die Campmitglieder zerstreuen sich nach dem Brand in alle Winde.

Staci, Ray, Ernie und Coral waren in Tims Auftrag im Außenraum unterwegs. Sie hatten Drogengeld dabei und hatten einen Auftrag. Dieser konnte nicht umgesetzt werden und das Geschehen im Camp schockiert sie sehr, sie machen sich ihre Gedanken um ihr weiteres Vorgehen und suchen sich schließlich mit dem Drogengeld eine Farm in Texas. Dort kommen sie sich etwas näher. Staci, Ray, und Ernie kennen sich schon einige Zeit von ihrer gemeinsamen Zeit im Camp, Coral kam erst vor kurzem zu der Gemeinschaft in Oklahoma dazu und dennoch bestimmt sie recht maßgeblich das Handeln der anderen Drei.

Jardine Libaire kenne ich schon von ihrem Buch „Uns gehört die Nacht“. Ein wundervolles Buch, ein intensives Buch und ein Buch voller Feuer. Nun, ich hatte gehofft dieses Feuer hier in „Dein Herz, ein wildes Tier“ wieder zu finden. Doch da wurde ich leider etwas enttäuscht. Dieses Feuer von „Uns gehört die Nacht“ habe ich nicht gefunden, dennoch habe ich eine schöne und auch etwas abwegige Geschichte gefunden. Jardine Libaire scheint eine außergewöhnliche Autorin zu sein, denn sie sieht Menschen vielschichtig und weiß diese Vielschichtigkeit auch gut in einem Roman unterzubringen.

Den Zauber von Coral kann Jardine Libaire sehr gut beschreiben, und dass, obwohl Coral nichts oder wenig hört und daher auch ihre Konversation eingeschränkt ist. Coral kommt den Hauptcharakteren in „Uns gehört die Nacht“ recht nahe, aber sie erreicht sie leider nicht völlig. Was recht schade ist!

Dennoch ist „Dein Herz, ein wildes Tier“ ein recht gutes Buch, welches gute Einblicke in das heutige Amerika, die heutige USA bietet, auch eigenwillige Charaktere aufweist und die Liebe der Autorin zu ihren Underdog-Charakteren zeigt, wie auch schon im Vorgänger-Roman „Uns gehört die Nacht“. Ich habe „Dein Herz, ein wildes Tier“ sehr gern gelesen und kann es empfehlen, auch wenn ich den Vorgänger „Uns gehört die Nacht“ deutlich mehr empfehlen kann.

Bewertung vom 03.08.2025
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


ausgezeichnet

Drei Frauen, drei Generationen, die Verbindung/die Summe ihres Erlebens

Drei Frauen einer Familie. Drei Generationen. Großmutter, Mutter und Tochter. Eine Dreifaltigkeit. Die Erscheinungsformen der Frau, die schon viele in der Kunst bewegt haben. Ich denke da an Gustav Klimt und viele andere Künstler. Paola Lopez gibt dieser Dreifaltigkeit ein besonderes Erscheinungsbild in ihrem Buch. Denn was zeigt diese Dreifaltigkeit?!

Lyudmila, die Großmutter, flieht als junge Frau vor dem Krieg aus Polen und geht in den Libanon, Daria, Lyudmilas Tochter, geht aus dem Libanon nach Deutschland, flieht ebenso vor einem Krieg und als Dritte im Bunde, Lucy, Darias Tochter, verschwindet aus dem Elternhaus in München nach Berlin, sucht dort nach ihrem Platz in der Welt und geht schließlich nach Polen, um ihrer Großmutter nachzuspüren. Drei Frauen, drei Generationen einer Familie.

Drei Frauen, die Gemeinsamkeiten haben. Sie sind eckig, sie sind besonders, sie sind stark, sie gehen ihren Weg. Nur eine Stärke haben sie nicht. Sie alle sind Wissenschaftlerinnen, haben Ziele, verfolgen diese. Nur über die Kraft der Worte verfügen sie nicht. Sie reden. Ja. Über vieles. Sie agieren. Sind in der Aktion. Nur ihre Verbindung existiert weniger. Dafür gibt es Ungesagtes, Verletzungen, Traumata. Abgründe tun sich auf. Abgründe, die überwunden gehören. Doch schafft man immer diese Abgründe zu überwinden?!

Hier kann man als Lesende urteilen, kann sich wundern, ja. Aber man kann auch versuchen sich in die Protagonisten hineinzuversetzen. Wie würde man selbst an ihrer Stelle agieren? Nun ja, man könnte hier schnell in die Verlegenheit kommen zu sagen, dass hätte ich anders gemacht. Ich verstehe dieses Tun nicht. Doch hätte man dies wirklich tun können. Mit den geschilderten Traumata. Das bezweifele ich sehr.

Eher empfinde ich es als ein Wunder, dass Lyudmila die Kraft hatte weiterzumachen. Viele andere hätten Lyudmilas Weg nicht gehen können. Und klar, dieser Weg hat natürlich Folgen. Wie schaut es mit der Bindungsfähigkeit in Lyudmila aus? Was gibt sie daher an Daria weiter. Und was macht Daria wieder aus ihrem Erleben. Wie schaut es mit ihrer Bindungsfähigkeit aus? Was bekommt Lucy von Daria mit? Was bringt Lucy auf ihren Weg?

Aus diesen Gedanken heraus empfinde ich das Buch „Die Summe unserer Teile“ als ein herausragendes Buch. Denn die Zeichnung der Charaktere in diesem Buch gelingt Paola Lopez geradezu grandios. Dabei wird nicht alles auserzählt. Ja, das könnte man bemängeln. Aber gerade diese Art der Zeichnung ihrer Hauptcharaktere überzeugt mich hier. Denn in diesem Buch ist das Gedankengut der Leserin immens wichtig. Was empfinde ich als Leserin zu den Figuren? Ja klar, manchmal schüttelt man den Kopf. Aber je mehr ich in dem Buch vorankam, desto mehr entzündete sich mein Herz für Lyudmila, Daria und Lucy. Ein wunderbares Buch!

„Die Summe unserer Teile“ erinnerte mich stark an das Buch „Was Nina wusste“ von David Grossman. Auch hier sind es diese drei Generationen von Frauen, deren Erleben, deren Traumata, deren gestörte Mutter-Tochter-Beziehungen, die dieses Buch tragen. Auch hier sind es eher ambivalente Charaktere, die nicht unbedingt sofort das Herz anknipsen. Aber je mehr man von ihnen weiß, desto mehr liebt man sie. Auch für ihre Sperrigkeit. Denn man weiß ja um das Warum und das macht Lyudmila, Daria und Lucy und auch Vera, Nina und Gili einfach sympathisch. Lässt mein Herz aufleuchten, auch wegen dem Wissen um die eigenen Unzulänglichkeiten.

Ein Highlight in diesem Lesejahr! Lesen! Unbedingt. Wer an Mutter-Tochter-Geschichten interessiert ist, sollte unbedingt zu „Die Summe unserer Teile“ von Paola Lopez, und auch zu „Was Nina wusste“ von David Grossman greifen. Lesehighlights! Und Lieblingsbücher! ❤

Bewertung vom 03.08.2025
Fallwickl, Mareike

Liebe Jorinde oder Warum wir einen neuen Feminismus des Miteinanders brauchen


ausgezeichnet

Nur ein Miteinander!

Feminismus! Das ist etwas für uns Frauen. Sicher! Wirklich wichtig. Wissen wir schon sehr lange. So lange wie der weibliche Kampf um die Gleichstellung geht. Und das sind schon einige Jahre. Doch irgendwie drängt sich hier der Gedanke der Stagnation auf. Und nicht nur dieser Gedanke, wenn man aufmerksam in die heutige politische Wirklichkeit blickt. Denn dieser Feminismus scheint auch eine tiefsitzende Angst hervorzubringen. Eine Angst vor dem Machtverlust beim allgegenwärtigen Patriarchat. Und diese Angst gebiert Schreckliches!

Man schaue mal auf die Taten von Bolsonaro, von Trump, von Putin, von Erdogan und von Netanjahu. Dort spürt man diese Angst. Nicht direkt verbindet sich das Tun von diesen Machtinhabern mit dem Begriff Angst. Indirekt aber schon. Und auch in unseren Gefilden zeigt gerade das Vorgehen der ewig Gestrigen mit einer ihnen unliebsamen Richterin dieses antifeministische Denken. Auch in der nahen Vergangenheit zeigt der Beschuss von weiblich gelesenen Personen in der Politik dieses restriktive Denken. Man denke nur an Merkel, Baerbock, Lang, Ganserer und die vielen anderen Frauen an Schaltpositionen der Macht.

Warum ist dies so? Natürlich hat die Angst vor dem Machtverlust sicher in diesem Tun einen starken Grund. Aber ist dies der Einzige?

Ich bin mir hier nicht ganz so sicher. Mareike Fallwickl gibt in diesem Buch einen Gedankenanstoss zu dieser wichtigen Thematik. Diese Autorin beeindruckte mich und viele andere Leserinnen gerade mit ihren beiden Büchern „Die Wut, die bleibt“ und „Und alle so still“. Besonders beeindruckt hat mich die Wucht der Bücher, aber auch die Aktionen danach. T-Shirts mit Slogans und andere Artikel mit Gedanken, Wörtern zogen eine Aufmerksamkeit auf sich, die ich bis dahin noch nicht so nach einem Buch bemerkt hatte. Frauen wurden laut und zeigten damit etwas. Sie legten sich noch nicht hin. Noch nicht! Doch wie lange geht dieses System noch gut. Wie lange werden sich wir alle uns noch diesem System fügen. Gibt es diesen Frauen-Generalstreik bald? In Island hat dies schließlich auch funktioniert. Warum dann nicht auch hier?

Auch dies wird eine Angst in diesem patriarchalen System sein? Denn sicher haben auch wichtige Köpfe in diesem Land dieses Tun, dieses Agieren bemerkt. Ob sie diesem Tun eine Wichtigkeit beigeben, weiß ich nicht. Aber wir dürfen unsere Gedanken, unseren Wunsch nicht vergessen. Wir müssen weiter aktiv sein.

Wie in den Büchern auch zu bemerken war, dieser Wunsch nach einer besseren Welt verbindet nicht nur uns Frauen, sondern männliche Köpfe und Geister sind dort mit eingebunden. Denn dieses unsägliche Patriarchat schadet uns Frauen und schadet auch den Männern. Und dies sollten sie bemerken, sollten sie verstehen. Sie sollten mit uns an einem Strang ziehen!

Denn wir sollten eines nicht vergessen. Das Bestehen dieses patriarchalen Systems ist im Sinne seiner Nutznießer, nämlich so einige Köpfe in den Macht- und Schaltpositionen unserer Welt und der Dagobert Ducks unter uns. Die Anderen fördern diese Gruppe und ermöglichen in ihrem Tun ihre Macht. Und ziehen ihren Nutzen aus der bunten Warenwelt, die sich uns bietet. Ohne zu beachten unter welchen Bedingungen so manch eine Ware zu uns kommt. Wir sehen die Veränderungen in den Preisen, dies macht uns Angst. Klar. Doch warum ist dies so? Gibt es dazu reale Gründe? Oder ist das Dollarzeichen in den Augen der Grund, diese unsägliche Gier, die uns schlussendlich in den Abgrund treibt.

Wollen wir in diesen Abgrund oder wollen wir uns Gedanken machen, dass es eventuell auch noch andere Wege gibt? Feministische Wege, die wir beschreiten können, zusammen mit den Männern. Denn nicht die Männer sind unsere Feinde, sondern dieses unsägliche Patriarchat, welches uns alle in seine Zügel spannt!

Lest dieses Buch und feiert mit mir Mareike Fallwickl!!!

Bewertung vom 03.08.2025
Høeg, Tine

Hunger


sehr gut

Kinderwunsch

Mia und Emil sind ein Paar. Ein Paar mit einem Wunsch. Eigene Kinder. Ein nachzuvollziehender Wunsch. Emil hat in ihre Beziehung zwei Kinder aus der vorigen Ehe mitgebracht. Was beide natürlich freut. Aber sie wollen auch eigene Kinder. Doch das scheint nicht so einfach. Und so durchlebt das Paar die Hölle auf Erden. Ja, richtig gelesen. Denn es scheint nicht so einfach zu sein, in dieser Industrie der Wünsche, in der Industrie der Fruchtbarkeitsbehandlung zu bestehen, sich selbst nicht zu vergessen, ein Paar zu bleiben, sich selbst gut zu sein. Dieser Kinderwunsch beinhaltet leider viel Enttäuschung und Frustration. Viele Paare stehen diese Zeit nicht gemeinsam durch. Und dieses Buch lässt die Leserschaft die Gründe dafür durchschreiten.

Denn in dem Buch „Hunger“ lässt die Schriftstellerin Mia in einem Tagebuch diese anstrengende Zeit in der Liebe von Mia und Emil zu Papier kommen. Eine wirklich Kraft zehrende Zeit. Vielleicht stimmt es ja doch in Teilen, dass einem im Leben wenig geschenkt wird und alles einen Preis hat. In dem eindringlichen Buch „Hunger“ der dänischen Schriftstellerin Tine Høeg erfährt man etwas von dem Preis, den Emil und Mia zahlen müssen.

Jeder von uns kennt ja Stress. Furchtbar. Kraft zehrend. Anstrengend. Ja, aber meist ist dieser Stress dann irgendwann beendet. Man kann durchatmen, sich regenerieren.

Selten sieht man sich einem dauerhaften Stress gegenüber. Ein Stress, der eben nicht nach acht Stunden Arbeit vorbei ist. Oder eben dann vorbei ist, wenn ein gewisser Mensch unseren Dunstkreis verlassen hat, dies dauert dann länger als besagte acht Stunden, ist aber auch irgendwann vorbei. Je nachdem wie weit man selbst dazu in der Lage ist, dieses Verlassen des eigenen Dunstkreises zu beeinflussen. Doch manchmal steckt man in dieser Stressfalle und kommt eben nicht raus. Dauerhafter Stress verändert die Beteiligten, er beschädigt die Beteiligten.

Fruchtbarkeitsbehandlungen können allerdings wirklich lang unser Leben bestimmen. Wie Emil und Mia in dem Buch „Hunger“ drastisch schildern. In diesem Roman liest man, was dieser Kinderwunsch mit dem Paar macht, was solch ein dauerhafter Stress mit den Menschen macht/machen kann.

Ein bewegendes Buch. Ein eindringliches Buch. Aber auch kein einfaches Buch. Denn solch ein psychischer Dauerbeschuss verändert halt auch und lässt die Leserschaft diese Veränderung in den betroffenen Charakteren erkennen. Und eben diese Veränderungen sind manchmal nicht gut zu ertragen. In der Realität, aber auch in der geschriebenen Form. Als Leser allerdings kann man das Buch zu machen. Dies können die Menschen im realen Geschehen nicht so gut, selbst wenn sie eine Situation räumlich verlassen, ihre Gedankenwelt dazu nehmen sie ja mit.

Bewertung vom 03.08.2025

Ost*West*frau*


ausgezeichnet

Frauen in Ost und West

Der Osten. Und der Westen. Begriffe, die doch eigentlich der Vergangenheit im geeinigten Deutschland angehören. Sollte man meinen. Meinen auch gerade jüngere Zeitgenossen. Ich habe dies vor kurzem selbst von einer jüngeren Kollegin auf Arbeit gehört. Doch ist dem wirklich so? Kann man diese vielen Jahre der Teilung einfach negieren und sagen wir sind jetzt eins. Denn sind wir das wirklich? Sind wir wirklich geeint, vereint? Ich denke nicht. Immer noch gibt es eine Ungleichbehandlung. Immer noch gibt es Unterschiede. Unterschiede, die gefühlt werden. Und Unterschiede, die monetär bemerkbar sind. Kann dies ohne Folgen bleiben? Noch dazu wo diese gefühlte und tatsächliche Ungleichbehandlung von restriktiven politischen Strömungen gnadenlos zur Machtgewinnung benutzt wird und leider viele auf deren Polemik hereinfallen. Denn wie kann das sein, die Wiedervereinigung erfolgte 1990, bald sind das 35 Jahre, wie kann das sein, dass es immer noch unterschiedliche Bemessungen gibt? Diese unsägliche Unterteilung in Ost und West immer noch in den Löhnen und den Renten zu finden ist. 35 Jahre. Das ist eine lange Zeit. Was verbindet mich als ehemalige DDR-Bürgerin noch mit der DDR? Meine Kindheit und meine Jugend, denn dann war ich ja wieder vereint. Auf welcher Grundlage basiert dann diese Ungleichbehandlung, gerade wenn man bedenkt, dass das Grundgesetz von einer Gleichbehandlung spricht? Für mich ist dies absolut nicht mehr nachvollziehbar! Und das sollte schnellstens geändert werden. Gerade die Zahlen in den Wahlen sprechen hier eine recht deutliche Sprache und zeigen eine bestehende Gefahrenlage. Die jedoch weitestgehend ignoriert wird. Was ja dann irgendwie nach dem sehenden Auge klingt und wo ich mich frage, ob dies eventuell gewollt ist.

Nun befasst sich dieses Buch nicht nur mit den politischen Hintergründen dieser Einteilung. Hauptaugenmerk bildet das soziale Umfeld der sogenannten Ostfrau und ihrer Partnerin, der Westfrau. Denn das Frauenbild in Ost und West unterscheidet sich fulminant. Man betrachte nur die im Westen relativ spät erkämpften Frauenrechte, die diametral zur gelebten Emanzipation im Osten stehen. Dies bringen verschiedene Autor*innen, die die Herausgeberinnen hier in diesem Buch grandios zusammengeführt haben, eindringlich zu Papier. Und so eröffnen in diesem Buch „Ost West Frau“ Mechthild Laufermann, Sabine Rennefanz, Julia Wolf, Daniela Dahn, Florian Werner, Kenah Cusanit, Maren Wurster, Asal Dardan, Olga Hohmann, Charlotte Gneuß, das Autorenkollektiv PS-Politisch Schreiben, Thomas Brussig, Nadège Kusanika, Ruth Herzberg, Sabine Peters, Franziska Hauser, Katja Kullmann und Kerstin Hensel der Leserschaft Einblicke in die Sozialisation in Ost und West und lassen dabei feministisch ausgebildete Herzen höherschlagen. Mir erging es mit diesem Buch auf jeden Fall so und ich wünsche diesem Augen öffnenden Buch viele viele Leser. In Ost und West. Frauen und Männer sollten zu diesem Buch greifen. Denn es wirft erhellende Blicke auf unsere Geschichte, auf unser Patriarchat.

Für mich war und ist „Ost West Frau“ ein Highlight in diesem Lesejahr. Obwohl ich es als E-Book gelesen hatte, ist es als Buch zu mir gewandert. Auch das zeigt die Wichtigkeit dieses Buches für mich, da mein Haushalt förmlich überquillt vor buchigen Schätzen und ich eigentlich vorsichtig mit dem Neuerwerb sein müsste. Ja, stimmt. Eigentlich!

Bewertung vom 03.07.2025
Jansson, Tove

Der Steinacker


sehr gut

Resümee

Ein Arbeitsleben in Helsinki. Der Journalist Jonas blickt auf dieses Arbeitsleben zurück, denn jetzt ist er pensioniert. Er, der Ernährer der Familie, der väterliche Gott. Zumindest in seiner Selbstbetrachtung ist er dies. Seine erwachsenen Töchter möchten, dass er auf den Finnland vorgelagerten Schären den Sommer verbringt, mit ihnen zusammen. Hier auf den Schären gelingt diesem Journalisten Jonas dennoch einmal ein ehrlicher Blick auf sein Leben, natürlich wird dieser Blick auch durch die Töchter ermöglicht. Aber nicht nur. Auch Jonas muss ehrlich zu sich selbst sein, muss seine Arbeit, muss die Gewichtung der Arbeit vor der Familie, muss die Gewichtung der eigenen Interessen vor den Interessen der eigenen Familie formulieren. Dies ist natürlich nicht schön für unseren Jonas, aber er tut es schließlich. Ist ehrlich zu sich selbst und gewinnt über diese Ehrlichkeit zu sich selbst ganz neue Sichten. Die ihm ein neues Leben, einen Neuanfang ermöglichen, auch wenn dieser Neuanfang sehr spät kommt, fast zu spät, aber gut, eigentlich könnte man ja auch damit zufrieden sein, dass diese neuen Sichten, diese Einsichten überhaupt kommen, in unserer patriarchal tickenden westlichen Welt.

Was Jonas schließlich ebenso zu diesen Gedanken bringt, ist vielleicht sein Blick auf die eigene Endlichkeit, sein Blick auf sein Nichtfunktionieren. Jonas ist Journalist, er schreibt, sein Tanz mit den Wörtern, mit den Sätzen ist natürlich berufsbedingt wichtig, sehr wichtig. Generierte doch ein stilistisch, künstlerisch und inhaltlich passender Tanz mit den Wörtern bisher seine monetären Zuwendungen. Doch dieser Tanz ist nun erschwert. Dieses Spiel, dieser Tanz mit den Wörtern fällt Jonas schwerer, die Worte kommen nicht mehr so einfach und so schnell. Was ihn natürlich verunsichert. Und auch ängstigt. Wie das jedem von uns ergeht und ergehen wird. Nun muss dieser Tanz mit den Wörtern nicht mehr das Geld für den Pensionierten einbringen. Diese Sorge ist Jonas also los. Dennoch kommt er an den Rand seines Tuns hier auf Erden und dies lässt natürlich auch Blicke zurück zu. Blicke, die für Jonas schmerzlich sein müssten und nach und nach auch zu diesem Schmerz werden.

Tove Jansson schafft es in diesem sehr dünnen, nur 95 Seiten umfassenden Buch einen intensiven Blick auf diesen Jonas zu werfen. Nun ist Jonas für mich natürlich kein Sympathieträger, dennoch stößt mich das Buch und das Tun der Hauptfigur nicht vollkommen ab. Was für mich schon etwas herausragend ist, denn solch einem Charakter würde ich im wahren Leben keinen Blick widmen, keine Sekunde zuteilen. Hier im Buch habe ich mich aber mit Jonas befasst und dies geschah auch nicht ungern.