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MB
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Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 454 Bewertungen
Bewertung vom 03.10.2025
Laabs, Laura

Adlergestell


sehr gut

Nachdenklich zurückgeblieben. Laura Laabs entführt uns mit ihrem im Rahmen des diesjährigen Ingeborg-Bachmann- Preises gelesenen Textes "Adlergestell" zurück in die Vor- und Nachwendezeit am Rand von Berlin - in die Siedlung am 'Adlergestell', der längsten und vielbefahrenen Strasse in Berlin. Der Name "Adlergestell" bezieht sich auf eine alte Forstschneise. Die Legende besagt, dass die Bäume entlang des Weges in der Zeit der Kurfürsten mit einem Adler geschmückt waren - und der Reichsadler wird auch im weiteren Text eine Rolle spielen. Laabs nimmt uns mit in die Kindheit und Jugend dreier Freundinnen 'vom Stadtrand'. Da ist zunächst Lenka, die mit einem Vater zusammenlebt, dessen bevorzugtes Kleidungsstück das Unterhemd und dessen Haltung die eines Meckerers ist; da ist Chaline, die wohl am meisten Benachteiligte des Trios - sie lebt bei ihrer deppressiven Mutter, die wechselnden Männerbesuch verzeichnet. Und schließlich die Ich-Erzählerin, die zumindest eine sich sorgende Mutter hat. Erzählt wird die Schulzeit, die Bemühung, sich einen Platz zu verschaffen, der ein oder andere nicht immer glimpflich ausgehende Steich und der große Bruch, die Ernüchterung, mit der Wende zukünftig zu den eher Abgehängten zu gehören. Die Kapitel sind eingeleitet durch präzise beschriebene Glücksversprechen der bundesdeutschen Werbeindustrie. Zwar handelt der Text die zumeist in der Zeitphase rund um die Wende, lässt die Lesenden aber auch wissen, welch unterschiedliche Wege die drei in ihrem weiteren Leben beschreiten werden. Ein Erklärungsversuch, welche Prägungen die Wendezeit ausgelöst haben und wohin diese führen können?

Bewertung vom 03.10.2025
Zwickau, Dora

Gesellschaftsspiel


ausgezeichnet

Ein wahrer Demokratiediskurs. Ein belletristischer Blick in die nahe Zukunft, welcher die gegenwärtige Realität treffsicher abbildet. Dystopie oder Utopie - und wie heißt eigentlich das Dritte dazwischern? Zukunft?! Darum geht es in "Gesellschaftsspiel", dem äußerst anregenden gleichwohl aber auch unterhaltsamen Roman von Dora Zwickau. Weil es den Grund-Ton der Geschichte so gut trifft: "Man kann sich eher vorstellen, dass sich unser Smartphone mit der Küchenmaschine verbindet und uns attackiert, als dass wir nochmal als Gesellschaft zusammenkommen..." Ein milliardenschwerer Techunternehmer aus den USA möchte in der Stadt Weimar mithilfe einer App ein soziales Experiment starten - die Selbstbestimmung der Bürger*innen mit der Unterstützung seines Geldes. Eine zweite 'Weimarer Republik'? Das ist die Szenerie, in der die Schwestern Isabelle, Lehrerin, Annika, in einem amerikanischen Unternehmen arbeitend, und Dagmar, die Tante und Hochschuldozentin, sich anlässlich des Todes der Mutter bzw. Schwester Gerda zusammenkommen... Die App nimmt gewaltig Fahrt auf und ruft, wie zu erwarten, auch die 'Hater' auf den Plan. Dora Zwickau versteht es hervorragend, in ihrem Roman das individuelle Schicksal der Protagonistinnen mit dem Schicksal der Demokratie zu verbinden. Einer der gelungensten Gegenwartsromane in diesem Jahr!!!

Bewertung vom 28.09.2025
Everett, Percival

Dr. No


ausgezeichnet

Verrückt... und durchgeknallt... und philosophisch... und ein Roadmovie... und mit einem Seitenhieb auf die gegenwärtige, amerikanische Regierung... ein Showdown der Spione am Ende... skurile Figuren... sympathische Hauptpersonen... ein sprechender Hund mit nur einem Bein, Trigo genannt - oder auch liebevoll 'Fettgesicht' -... Unverständliches aus dem Bereich der höheren Mathematik... Wortwitz... mitreißender Schauplatzwechsel... und eigentlich geht es nur um nichts, um rein gar nichts (gar nicht wird gar nicht zusammengeschrieben)... In Percival Everetts neuem Roman "Dr No" ist Wala Kitu Mathematikprofessor, sein Spezialgebiet ist nichts, er besitzt einen einbeinigen Hund und ist nicht nur ohne Führerschein, sondern auch in anderen lebenspraktischen Dingen ziemlich unerfahren, dafür aber ungeheuer pragmatisch und gelassen. Nichts kümmert ihn - gewissermaßen. Sein großes Abenteuer beginnt, als er für den schwerreichen Oberschurken Sill eine Kiste aus Fort Knox stehlen soll, die nichts enthält... weil nichts für Oberschurken wichtiger ist, als Tonnen von Gold. Kaum jemand in der Geschichte ist wirklich diejenige Person, die sie zu sein vorgibt. Aber keine Sorge... in dem fantastisch verrückt-absurden Buch ist nicht nichts enthalten, vielmehr ein lesenswertes Etwas ;-))

Bewertung vom 27.09.2025
Tuokko, Kaisu

Gerächt sein sollst du / Die Morde von Kristinestad Bd.1 (eBook, ePUB)


sehr gut

Ein guter Auftakt... zu einer neuen Reihe. Diesesmal kein 'Schwedenkrimi', sondern einer aus Finnland: "Gerächt sein sollst du" von Kaisu Tuokko. (Die Morde von Kristinestad. Band 1). In Band 1 hat es zwischen den Hauptpersonen, dem Kriminalkommissar Mats Bergholm und seiner Jugendfreundin, der Journalistin Eevi Manner zwar wieder gefunkt, aber nicht geklappt... da war der erste Fall dann schon gelöst... aber die beiden haben ja noch Zeit. Die finnische Autorin bringt die einzelnen Handlungsstränge gut auf den Punkt, legt Fährten für ihre Leserschaft und lässt uns zappeln... und das Beste - sie verliert sich nicht endlos in Details, um Seiten zu schinden. Im Wasser treibend wird die Leiche des 17-jährigen Jonas gefunden, in seiner Klassengemeinschaft eher ein Aussenseiter mit Mobbingerfahrung. Auf der Suche nach dem Mörder werden andere Dinge offenbar... Jonas soll ein Mädchen vergewaltigt haben, und sich deshalb selbst das Leben genommen haben... aber stimmt das? Es spricht einiges dagegen...

Bewertung vom 19.09.2025
Horncastle, Mona

Peggy Guggenheim


sehr gut

Inspirierend. Wer "Peggy Guggenheim. Freigeist - Mäzenin - Femme fatale" von Mona Horncastle in Händen hält wird sofort denken - welch ein wunderbar gestaltetes Buch: Großzügig mit schwarz-weißem Bildmaterial ausgestattet, übersichtlich gestaltete Kapitel mit orientierungsgebenden Headlines und einem Buchcover, welches ein regelrechter 'eyecatcher' ist. So sollten Biografien sein. Die durchaus detailverliebte Darstellung des Lebensberichtes über Peggy Guggenheim spannt den Bogen von ihren Vorfahren und deren Auswanderung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zu Peggys Tod im Jahre 1979. Es ist immer eine große Herausforderung, ein komplettes Leben für eine begrenzte Seitenzahl zwischen den Buchdeckeln verfügbar zu machen... aber das ist der Autorin in ausgezeichneter Weise gelungen. Peggys Herkunft schafft die Voraussetzungen für ihren Lebensstil, Peggys Persönlichkeit ist der Grundstein dafür, was sie für Kunst und Kultur getan hat und ohne weiteres als herausragendes Lebenswerk bezeichnet werden kann. Im Text haben wir Begegnung mit einer Vielzahl von Künstler, Malern und Autor:innen ihrer Zeit - welch bewegte und bewegende Jahre! Besonders beeindruckt hat mich der Einsatz von Peggy Guggenheim für die Frauen in einer von Männern dominierten (Kunst-) Welt. Der Effekt: Ich habe begonnen, mich weiter für die Kunstszene ab der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts zu interessieren...

Bewertung vom 06.09.2025
Rubik, Kat Eryn

Furye


sehr gut

Eine Story, der man sich kaum entziehen kann... Der 1981 in Sankt Petersburg geborenen und in Berlin lebenden Autorin Kat Eryn Rubik gelingt es, mit ihrem Roman "Furye" einen Sog zu erzeugen, dem man sich als Leser kaum entziehen kann! Über zwei Zeitebenen hinweg darf der Leser als stiller Beobachter an einer jahrzehnte überdauernden Lebensspanne der zunächst namenlosen Hauptperson partizipieren, mit ihr die aufregend bewegenden Jugendjahre einer 17-jährigen und schließlich das fordernde Erwachenenleben einer fast 40-jährigen Frau mit Mutterschaftswunsch teilen. Die Geschichte entfaltet sich auf zwei Zeitebenen. Die Protagonistin, eine sich nahe am Burnout befindliche Musikmanagerin im Bereich Neoklassik, erfährt vom tödlichen Autounfall der Familie des Jugendfreundes Romain. Sie beschließt, den Ort ihrer Jugend aufzusuchen. Dabei werden alte Erinnerungen wach; an die Zeit, als sie mit den Freundinnen Tess und Meg die 'Furien' waren - gemeinsam beschlossen hatten, etwas gegen diejenigen Menschen zu unternehmen, die ihnen nicht nur nicht wohlgesonnen waren, sondern darüber hinaus ihre männliche Macht ausgeübt und ihren höheren Status haben spüren lassen. Nicht alles klärt sich, aber darum geht es in diesem Buch auch nicht; vielmehr wird der Leser in einer äußerst anregenden Erzählform dazu gebracht, über gesellschaftliche Privilegien, Statusunterschiede, Machtmissbrauch, Liebe und toxische Beziehungen nachzudenken. Ein Buch, dass einen nicht ruhen lässt!

Bewertung vom 04.09.2025
Foenkinos, David

Das glückliche Leben


sehr gut

Wie das Leben so spielt... Alles hat einen tieferen Grund - und doch spielt der Zufall im Leben eine nicht unerhebliche Rolle. Vielleicht eines vorab: Ich bin Fan des Autors David Foenkinos... und insofern hatte sein neuer Roman "Das glückliche Leben" Vorschusslorbeeren. Ich liebe die Leichtigkeit seines Schreibstils und die zwischen den Zeilen versteckte Tiefgründigkeit. Und dass es sich stets um das eine große Thema dreht - die Liebe. Und die Liebe und ihr Scheitern spielen auch in seiner neuen Story eine große Rolle; vielleicht aber dieses Mal aus einer etwas anderen Perspektive heraus: So beleuchtet Foenkinos anhand seiner beiden Hauptfiguren Éric Kherson, der seinen guten Job bei Decathlon aufgegeben hat um Regierungsmitarbeiter bei Amélie zu werden, das Scheitern der Liebe (Éric lebt getrennt von seiner Frau und seinem Sohn, Amélies Ehe und zweifache Mutterschaft dümpelt vor sich hin) aufgrund von Überarbeitung und mangelnder Selbstfürsorge. Auf einer gemeinsamen beruflichen Reise nach Seoul kommen sich die beiden zwar näher, die Reise (kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie) mündet aber zunächst in ein Jobdesaster. Éric beschäftigt schon länger die Frage nach dem Sinn; in Seoul stößt er auf ein Institut, welches ein glücklicheres Leben verspricht, indem man seine eigene Beerdigung inszeniert; Éric vollzieht das Ritual, sein Leben ist danach ein anderes. Erst Jahre später begegnen sich Éric und Amélie ein weiteres Mal. Nun ist dies kein wahnsinnig neuer Gedanke, dass das Leben im Bewusstsein des eigenen Todes das Leben selbst verändern kann; jedoch versteht es der Autor in genialer Weise, eine locker-leicht-tiefgründige Geschichte zu komponieren, die ohne den erhobenen 'Life-Coach-Zeigefinger' auskommt. Eine wunderbare Sommerlektüre.

Bewertung vom 01.09.2025
Vego, Kristin

Spät am Tag


sehr gut

Melancholie... - das ist die Stimmung, die das gesamte Buch durchzieht. Eigentlich passiert nicht richtig viel in Kristin Vegos erstem Roman "Spät am Tag". Allerdings versteht es die Autorin, ein gefühltes halbes Leben auf 140 Seiten unterzubringen. Johanne, anfang dreißig, mietet sich - um Ruhe zu finden und auch zum Schreiben - in ein kleines Häuschen fernab der Großstadt ein. Der Ehemann ist vor zwei Jahren unerwartet verstorben. Der Vermieter Mikael und seine Ex-Frau Sofia, wie auch die Tochter Maren leben ebenfalls in dem abgelegenen Haus. Johanne und Mikael verlieben sich ineinander, aber Johanne fragt sich immer wieder, welche Bedeutung Sofia noch in Mikaels Leben hat. Eine nicht ganz so einfache Dynamik entspannt sich zwischen den Menschen im Haus. Pinselstrichartig skizziert Kristin Vego, wie sich die Beziehungen über die Jahre verändern; untermalt wird die Handlung immer wieder von poetisch anmutenden Naturbeschreibungen. Und gegen Ende des Buches denkt man: Ja, so ist das Leben. Und hat sich ein wenig von der Melancholie zwischen den Buchdeckeln anstecken lassen.

Bewertung vom 29.08.2025
Drvenkar, Zoran

Asa


sehr gut

Komplex. Nein - hochkomplex ist der aktuelle Thriller "Asa" von Zoran Drvenkar. Ich möchte während des Schreibprozesses nicht in der Haut des Autors gesteckt haben... ich hätte permanent die Angst gehabt, mich zu verzettel, den roten Faden aus dem Blick zu verlieren oder auch an multiperspektivischer Verwirrung zu scheitern. Ich glaube wirklich, dass der Autor froh gewesen ist, als das schlüssige Ende gefunden war. Und das ist auch ein Vorgeschmack darauf, was die Lesenden erwartet, wenn sie dieses Buch zur Hand nehmen... man benötigt einiges an Geduld, insebesondere auf den ersten 200 von knapp 700 Seiten stellt sich zwischenzeitlich ein wenig Verwirrung ein; jedoch - wer durchhält wird am Ende belohnt für die geleistete Anstrengung. Es ist die Geschichte einer Rache, mit einer 100-jährigen Vorgeschichte und Ausflügen in die Zeitgeschichte (erster und zweiter Weltkrieg); es ist die Geschichte davon, dass das Individuum mit einer mörderischen Stärke auszustatten ist; es ist die Geschichte von der überlebenswichtigen Stärke des Einzelnen, der im Dienste der Gemeinschaft Gewalt ausüben darf; es ist die Geschichte einer Familie, die nie wieder Opfer sein möchte; es ist die generationenübergreifende Weitergabe eines Überlebensplans in einer feindlichen Welt; es ist eine Geschichte von der Überschreitung moralischer Grenzen. Und es ist letztlich die Geschichte von Asa, die dem Ganzen ein Ende bereiten will... Ein wahres Leseabenteuer!

Bewertung vom 27.08.2025
Lühmann, Hannah

Heimat


ausgezeichnet

Bedrückend. Und gleichzeitig ungeheuer gut! Hannah Lühmann ist mit "Heimat" eine erschreckend präzise Zeitdiagnose gelungen. Im Mittelpunkt steht die zweifache Mutter Jana, erneut schwanger, die mit ihrem Mann Noah aufs Land gezogen ist. Dort trifft sie bald auf Karolin, eine siebenfache Mutter, die überzeugt davon ist, dass eine Mutter sich allein um Kinder und Haus zu kümmern habe, dass dem Mann eine Führungsrolle in der Partnerschaft zukomme und der Wald ein besserer Lehrmeister für die Kinder ist, als es eine Kita jemals sein könnte. Jana ist fasziniert von der zwar rückwärtsgewandten, aber dafür sehr klaren Haltung von Karolin, deren Kinder auch ziemlich 'gelungen' zu sein scheinen. Als dann für Jana noch Schwierigkeiten mit ihrem Mann hinzukommen - er interessiert sich offensichtlich mehr für die anstehende Wahl, bei der die AfD die Mehrheit zu erlangen droht, als für seine Kinder und seine schwangere Frau - beginnt Jana endgültig, ihre alten Wertvorstellungen in Zweifel zu ziehen und der Faszination der Trad-Wifes zu erliegen. Hannah Lühmann bewertet nicht, lässt den erhobenen Zeigefinger gesenkt und zwingt ihre Leserschaft, sich selbst ein Bild zu machen. Mir lief es auf jeden Fall mehr und mehr eiskalt den Rücken runter... Bedrückend!