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angie99
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dawo

Bewertungen

Insgesamt 41 Bewertungen
Bewertung vom 08.09.2024
Soul Talk
Vogelsang, Lilia

Soul Talk


gut

Erwartung
Als Gesprächs-Nulpe erwarte ich praktische Anregungen, wie ein Austausch durch gezieltes Fragen schnell(er) in die Tiefe führen kann.

Erster Eindruck
Ansprechendes Layout, übersichtliche Struktur, leicht zugängliche Sprache, gut dosiert mit Humor, Selbstironie, eigenen Erlebnissen und wissenschaftlichen Studien gewürzt.

Nähere Betrachtung
Die Kapitelüberschriften lassen mich das erste Mal stutzen: Small Talk, Eltern, Mentorin und Mentor, Dating, Freunde, Arbeit, Geschwister, Autofahren, Großeltern, Netzwerk, Partnerschaft, Sinn, Deep Talk. Erstens ist dieser Aufbau nicht logisch, sondern eher wild durcheinandergerührt. Zweitens merke ich: huch, Mentoren – hab ich nicht. Netzwerk – hab ich nicht. Großeltern – hab ich nicht mehr. Aber: wo sind die Kinder geblieben?! Kurzum: ich (als mittelalterliche Mutti mit wenig Karriereambitionen) gehöre nicht zur Zielgruppe.
Small Talk: kein unnützes Gerede, sondern die erste Treppenstufe runter in den Deep Talk, was die Autorin nachvollziehbar erklärt. Hier hätte ich mir aber noch viel differenziertere Ausführungen gewünscht, wie man überhaupt mit jemandem ins Gespräch kommt. Und, wenn ein Anfang gemacht ist, wie es dann weitergeht. Die Autorin schlägt Alternativen zu den Standard-Fragen (Arbeit, Hobbys, Haustier,…) vor, z.B.: „Welches nichtmenschliche Wesen ist dir am wichtigsten?“ (S. 32) Leider finde ich diese Umformulierungen nicht wirklich sinnvoll. Auf die Fragen „Wenn du dein Leben lang nur noch ein Musikstück hören / ein bestimmtes Gericht essen dürftest“ wüsste ich selber nicht, was ich antworten sollte und das Gespräch käme tendenziell eher zum Erliegen denn in Schwung.
Dafür werde ich in den Kapiteln Netzwerk und Autofahren fündig, was witzige bzw. ungewöhnliche Eingangsfragen angeht. Ich freue mich von Herzen darauf, mit jemandem darüber spekulieren zu dürfen: „Was, glaubst du, ist das Verrückteste, was je in diesem Raum passiert ist?“ (S. 158)
Eltern / Großeltern / Geschwister: Hier wird es ernst, sehr persönlich und wirklich ganz, ganz tief. Soul Talk vom Feinsten, auch wenn man mit der einen oder anderen Antwort rechnen muss, die einem vielleicht nicht so gefällt.
Sinn: Es erscheint sinn-voll, sich auch selber ab und zu Fragen zu stellen! Vor allem solche, denen wir gerne ausweichen… Gute Idee!
Fragen generell: Einige hören sich so kompliziert an, dass ich fürchte, als erste Antwort nur ein „hä?!“ zu bekommen.
Meine Liste mit Must-Asks fällt nach beendeter Lektüre nicht gerade sehr lang aus. Meine Erwartungen wurden in dieser Hinsicht nicht komplett erfüllt.
Trotzdem bleibt auch etwas hängen: Inspiration für eigene Fragen. Ein Gefühl dafür, was weiterführende, tiefgehende Fragen abseits ausgetretener Pfade ausmacht. Und vor allem: die Motivation, sich überhaupt ans Fragen zu getrauen!

Fazit
Keine „Gebrauchsanweisung“ mit Erfolgsgarantie, aber ein inspirierender, flott geschriebener Ratgeber. Am besten für junge, aufstrebende, kinderlose Menschen geeignet.

Bewertung vom 03.09.2024
Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1
Douaihy, Margot

Verbrannte Gnade / Die Punkrock-Nonne ermittelt Bd.1


gut

Schwester Holiday ist ein schriller und prägnanter Charakter, der es in sich hat. Ausgestattet mit einer wilden, queeren und vorbelasteten Vergangenheit wurde sie vor einem Jahr von den drei „Schwestern vom Erhabenen Blut“ aufgenommen, einem kleinen Konvent in New Orleans, wo sie seither als Gitarrenlehrerin an der katholischen Schule arbeitet.
Als es in der Schule ein Brand ausbricht, bei dem einer der Hausmeister sein Leben lässt, sieht Schwester Holiday sich dazu verpflichtet, selbst Ermittlungen anzustellen. – Tja, und wenn wir schon bei „anstellen“ sind, sie stellt sich dabei nicht allzu geschickt oder clever an.
Allerdings ist dieses Auf-der-Stelle-treten auch dem Fall an sich geschuldet: die herbeigerufenen Polizei stellt sich dümmer an als die Polizei erlaubt, verdächtig sind prinzipiell alle und damit wiederum niemand, es gibt so gut wie keine Hinweise oder Spuren (außer einem Handschuh, den man nicht ernst nehmen kann) und Motive schon gleich gar nicht, dafür irgendwann einen zweiten und dritten Brand, bei dem es genauso wenig nachzuforschen gibt.
Auf dieser Ebene ist dieses als Krimi bezeichnete Buch deshalb ein wahrer Reinfall. Es macht einfach keinen Spaß, sogenannte Ermittlungen zu verfolgen, die nicht die leisesten Ergebnisse liefern und einen nicht wenigstens ein bisschen mitraten lassen. Selbstredend ist denn auch die Auflösung arg platt geraten und viel mehr Bruder Zufall als Schwester Holidays Spürsinn zu verdanken.

Dann der Schreibstil, auch der ist gewöhnungsbedürftig. Anfangs sehr wortgewaltig, doch mitunter mit eher seltsam aufgeblasen oder verknotet wirkendenden Sätzen, was allerdings auch an einer nicht so gelungenen Übersetzung liegen kann.
Schön atmosphärisch eingefangen sind die Beschreibungen der Stadt New Orleans und die allzeit herrschende Hitze, die sogar dann herrscht, wenn es mal nicht brennt.
Außerdem ist die Figurenzeichnung einiger doch etwas spezieller Charaktere gut geraten, das schlägt sich in einigen bissigen und witzigen Dialogen nieder.

Überraschend tiefgründig ist die Hauptperson Schwester Holiday angelegt. Ich hatte ehrlich gesagt mit einem Abklatsch von „Sister Act“ gerechnet, doch im Gegensatz zu Deloris ist sie ganz freiwillig ins Kloster eingetreten – und warum, das erfährt man in (teilweise etwas zu ausführlichen) Rückblenden. Mit ihren radikalen und zugleich fundierten Ansichten, wie Kirche mit Feminismus und Queerness zusammengeht, hat sie mich somit eher an das lebende Vorbild Nadia Bolz-Weber erinnert. Natürlich gibt es in einem fiktiven Buch Überspitzungen, aber es sind einige wirklich nachdenkenswerte Ausführungen zu Kirche, Glaube und Spiritualität darunter. Nachhaltig beeindruckt hat mich der Satz: „Wenn Strafe binär ist, ist Vergebung queer…“ (S. 51)
Ich hatte den Eindruck, dass hier auch das eigentliche Interesse der Autorin liegt und dass sie nur um der Publikumswirksamkeit willen einen Krimi geschrieben hat. Schade, dass dieser Schuss nach hinten los ging; mir hat der spannungslose, nicht schlüssige Fall die Lektüre versaut.
Ohne der vielversprechenden Hauptfigur eine Detektivrolle aufnötigen zu wollen, die absolut nicht überzeugt, wäre wahrscheinlich ein besseres Buch draus geworden.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die tolle Aufmachung des Buches: nicht nur ein richtiger Hingucker und sehr passend zur Story, sondern in Echt noch mit Prägung! Sowohl optisch als auch haptisch top und für mich wahrscheinlich DAS Cover 2024!

Bewertung vom 20.08.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


gut

Angeblich begleiten wir in „Am Himmel die Flüsse“ einen Wassertropfen auf seiner wiederkehrenden Reise auf die Erde – ein absolut interessantes Thema, das angesichts sich mehrender Dürren und Starkregenereignissen von großer Aktualität ist.
Dieser Wassertropfen jedoch wird in seine Atome H – H – O zerlegt und auf drei Biographien verteilt: *Narin, Ezidenmädchen, Türkei, 2014 *Arthur, Altertumsforscher, London, Mitte des 19. Jahrhunderts *Zaleekhah, Hydrologin, London, 2018. Dabei schlängelt sich das Element Wasser zwar durch alle drei Geschichten, der erwähnte eine Tropfen taucht allerdings nur sporadisch, willkürlich und ohne tiefere Bedeutung mal hier und mal da auf.
Die drei Protagonisten verbindet dagegen weit mehr als nur ein Wassertropfen. Da sind die Flüsse. Themse und Tigris. Dann Lamassus. Lapislazuli. Gilgamesch. Keilschrift. Riten und Traditionen. Ahnen und Erinnerungen… Die Liste der Berührungspunkte zwischen den Erzählsträngen wird so lang, dass das, was anfangs noch als kunstvoller Aufbau anmutet, irgendwann zur Überkonstruktion kippt. Zwar ist Elif Shafak eine Erzählerin, die ihre Kunst aus dem ff beherrscht. Sie weiß ihre Leserschaft ans Buch zu binden, schreibt flüssig (!) und bildhaft, bringt immer wieder überaus wissenswerte Fakten in ihrer Prosa unter. Doch das, was die Autorin diesmal ihre Figuren und Nebenfiguren erleben und sagen lässt, wirkt nicht mehr lebensecht, sondern vielmehr, als müsse sie einen Katalog abarbeiten.
Dies gilt für die vielen Verbindungen untereinander genauso wie für die verschiedenen Rollen und Bedeutungen, die das Wasser für uns Menschen hat. Das Wasser taucht als Fluss, Regentropfen, Schneeflocke auf, Wasser als Lebensgrundlage, Durstlöscher, Ernährer, Energielieferant, Unfallverursacher, Krankheitsträger, Schmutzbeseitiger, Grab, Archivar, religiöses Symbol, Schatzhüter, Transportweg, Wohnsitz – nichts lässt die Autorin aus, und das ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr bereichernd, sondern ermüdend.
Gleiches passiert auch mit einer Flut an weiteren Themen, die Shafak teilweise krampfhaft bemüht im Text unterbringt – oder sollte ich besser sagen: in ihn hineinstopft?
Symptomatisch wird gegen Ende ein brisantes Thema angeschnitten, das jedoch keinerlei tiefgründigere Auseinandersetzung mehr erfährt, sondern den Roman mit schnellen Schnitten zu einem allzu lieblichen Ende bringt.

„Am Himmel die Flüsse“ basiert auf ausgiebigen Recherchen historischer und zeitgenössischer Quellen. Das ist prima. Und dass die Autorin einige leichte Anpassungen an den historischen Vorbildern vorgenommen hat, die sie im Nachwort auch klar benennt, ist legitim, weil es sich hier ja um ein fiktives Werk und nicht um ein Sachbuch handelt.
Allerdings sind es gerade diese und weitere kleine Realitätsverschiebungen, die die erzählten Geschichten auch so unecht erscheinen lassen. Besonders die Charaktere leiden unter zu geradlinigen Erklärungen und aufgesetzt pathetischen Gesprächen; sie werden nicht greifbar lebendig. Mir waren sie zwar nicht unsympathisch, aber irgendwann einfach egal.
Viele Themen, viele moralische Fingerzeige, viele Fakten und viel Fiktives – all das ist Shafaks neuestes Werk. Weniger wäre wahrscheinlich mehr gewesen.

Bewertung vom 11.07.2024
Ehemänner
Gramazio, Holly

Ehemänner


ausgezeichnet

Schon die Idee dieses Romanes fand ich unheimlich originell: ein Dachboden, der Ehemänner ausspuckt! Und die Lektüre hat mich nicht enttäuscht!

Das Buch beginnt ganz rasant, gleich auf der ersten Seite wird Lauren mit ihrem ersten Ehemann (von dem sie bis anhin gar nichts wusste), konfrontiert.
Laurens Neugier und ihr unbändiger Wille, den mysteriösen Vorkommnissen auf die Spur zu kommen (und sie zu ihren eigenen Zwecken bestmöglich auszunutzen), hat mir von Anfang Spaß bereitet. Sie hat eine wunderbar selbstironische, anpackende und vorwärtsdenkende Art. Für jede noch so abstruse Situation findet sie eine Lösung – meistens ähnlich abstrus oder sogar noch einen Tick abstruser (darüber kann man natürlich genervt den Kopf schütteln, ich wiederum habe mich einfach köstlich amüsiert).
Außerdem zaubert Debütautorin Holly Gramazio nicht einfach nur einen Ehemann aus dem anderen aus dem Hut und lässt sie nach kürzerer oder längerer Zeit wieder verschwinden, sondern spielt mit der Situation an sich. In wenigen (gut platzierten) Details lassen sich die Auswirkungen von bestimmten, in der Vergangenheit getroffenen Entscheidung nachvollziehen – die Autorin beweist hier einen sehr cleveren und witzigen Umgang mit der skurillen Ausgangslage.
Ideenreich spielt sie die Möglichkeiten durch: Was, wenn sich mit dem Ehemann auch die freund- und nachbarschaftliche Beziehungen ändern – und vielleicht sogar deren Leben? Was, wenn ein „alter“ Ehemann plötzlich in einem neuen Lebensentwurf auftaucht? Was, wenn der neue Ehemann über das seltsame Dachboden-Phänomen mehr weiß, als Lauren recht ist? Was, wenn der Ehemann, der sich als unbrauchbar herausstellt, gar nicht mehr zurück auf den Dachboden will? – Einiges davon ist einfach nur unterhaltsam zu lesen, aber manches gibt auch durchaus Gedankenanstöße, die eigenen Entscheidungen zu hinterfragen. Viele Ehemänner tauchen nur in einem halben Satz auf, weil Lauren sich aufgrund von scheinbaren Nebensächlichkeiten gegen sie entscheidet: doch geht es uns nicht genauso, dass viele Menschen in unseren Leben nur Halbsätze darstellen? Warum eigentlich?!

In meinen Augen „Unterhaltung as its best“, da es neben dem witzigen Plot auch genug Stoff zum Nachdenken gibt. Die Frage „Wie treffe ich Entscheidungen?“ wurde noch selten so kurzweilig beantwortet!

Bewertung vom 20.04.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


gut

Eigentlich wollte ich um diese Neuerscheinung einen Bogen machen. Doch dann war da meine Neugier. Und eine Leseprobe. Und schon hielt ich es dann doch in den Händen.
Denn: Ich liebe Mareike Fallwickls Schreibstil. Er wirkt frisch, unverkrampft und kommt mit starken Bildern daher.
So wurde ich in den ersten Kapiteln von „Und alle so still“, in denen wir Elin, Nuri und Ruth kennenlernen, richtig eingesogen von dieser Wortgewalt und den vielschichtig gezeichneten Charakteren und ich vermutete ein ähnliches Highlight, wie es „Das Licht ist hier viel heller“ für mich gewesen war.

Doch als die eigentliche Handlung einsetzt – Frauen legen sich im stillen Protest auf den Boden – verlor mich das Buch zusehends. Nachdem die Hauptpersonen nämlich noch differenziert eingeführt wurden, übernimmt hier plötzlich Schwarz-Weiß den Stab. Und wie dieses monochrome Bild aussieht, sorgt nicht weiter für Überraschungen: hier die sich aufopfernden, einfühlsamen und solidarisierenden Frauen. Auf der anderen Seite die machtgierigen, gewalttätigen und depperten Männer.
Dass Frauen mehr Care-Arbeit als Mäner leisten, steht außer Frage, und dass diese noch viel mehr gewürdigt gehört, ebenso. Doch ausgehend von dem spannenden Szenario – was passiert, wenn Frauen sich verweigern? – entwickelt Fallwickl eine Dynamik, die ich immer absurder und *sorry for not being sorry* blödsinniger fand.

Diese auf Überspitzung fußenden Entwicklungen lassen für mich auch die Figuren immer unglaubwürdiger erscheinen. Nuri, der genug andere Probleme hätte, wird instant zum Frauen- und Allesversteher. Elin, die in ihrem bisherigen Leben höchstens Self-Care-Arbeit geleistet hat, kämpft für Überzeugungen, die ihre Lebenserfahrungen deutlich überschreiten. Elin funktioniert in meinen Augen nur als Abziehbild für einen weiblichen Körper, der endlich endlich versteht, dass Männer scheiße sind und sie ihr Glück nur bei anderen Frauen finden werden. – Zum Glück der Leserinnen in den hinteren Reihen wird diese Botschaft so laut und deutlich herausposaunt, dass sie auch von ihnen verstanden werden kann. Die Stille finde ich jedenfalls nur im Titel, ansonsten wirkt dieses Buch marktschreierisch auf eine platte und unangenehm aufdringliche Art.
Einzig Ruth überzeugt mich, sowohl als Charakter, als auch in der eindringlich-bedrückend geschilderten Arbeitswelt als Krankenschwester. Doch auch sie löst sich nicht aus eigener Willenskraft aus dem sogenannten System, sie ist einfach nur ein weiteres Opfer davon.

Was mir fehlt, ist das Beispiel einer Frau, die sich durch diese Proteste auf ganz praktische und realitätsnahe Weise aus ihrer „normalen“ häuslichen Care-Arbeit herausschält. Wie sie innere und äußere Widerstände überwindet. Eine, die einen möglichen Weg aufzeigt. In der Theorie dieses Romans müsste es sie geben, denn in diesem Buch ist von „immer mehr Frauen“ die Rede. Doch das Nicht-näher-auf-solche-Frauen-eingehen lässt bei mir den Verdacht aufkommen, dass die Autorin darauf selber keine Antwort weiß: Ist es überhaupt irgendwie möglich, die Arbeit an Kindern, Behinderten, Kranken und Alten einfach so niederzulegen?! Gerade auch im Wissen, dass dann alles vor die Hunde geht?!

„Die Männer haben keine Ahnung, was sie gewinnen könnten, wenn sie mitmachen würden“, sagt Nuri (S. 231) Leider bleibt diese Aussage nicht nur leer, sondern wird eher noch konterkariert, indem Fallwickl mit markigen, scherenschnittartigen Sätzen eine idealisierte Frauensolidarität heraufbeschwört und breitschneisig auf die Männer einhackt.
„Und alle so still“ ist ein bewusst provozierendes Werk, welches – das muss man ihm anrechnen – notwendige Diskussionen zu entfachen vermag. Ob es jedoch auf diese Weise auch anregt, geschlechterübergreifend nach konstruktiven Lösungen suchen (und dieses auch finden werden), das wage ich zu bezweifeln.

Bewertung vom 12.04.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


sehr gut

Jimmy ist ein 12jähriger Außenseiter und Sammler von Weltrang (vor allem von Flippos – Plastikkarten, die sich als Gratis-Beigabe in Chipspackungen versteckten und Ende der ´90er Jahre in Belgien und der Niederlande für einen Hype sorgten). Und ein ehrlicher Finder. Denn unehrlich, das war sein Vater, der Geld veruntreut hat und sich dann aus dem Staub gemacht hat, was nun auf ihn zurückfällt.
Eines Tages tritt Tristan in sein Leben – ein gleichaltriger Junge, der mit seinen Eltern und Geschwistern zu Fuß und mit dem Boot aus dem Kosovo nach Belgien geflohen ist - und Jimmy ergreift die einmalige Chance auf einen Freund mit beiden Händen.
Das neue Buch von Lize Spit ist deswegen einerseits die bewegende Geschichte einer Freundschaft. Einer Freundschaft der Gegensätze: hier die ausländische Großfamilie, da das wohlstandsverwahrloste Einzelkind. Der Freundschaft zweier Jungen kurz vor der Pubertät, die sich über sprachlich-kulturelle Grenzen hinwegsetzt und sich mit kleinen Riten (Paprimatsch) und Gesten ihre eigene Welt erschafft, von der Autorin wunderbar empathisch eingefangen.
Es ist aber auch eine Geschichte, die von Flucht und Migration handelt. Eine, die laut Autorin auf wahren Begebenheiten beruht. Und eine, die sich in diesem Buch auf dramatische Weise zuspitzt und – man ahn ahnt es schon auf den ersten Seiten, obwohl es sich mehr um ein Hintergrundbrummen als um greifbare Sätze handelt – in einer Katastrophe endet.
Dieser unheilvollen Dynamik kann man sich kaum entziehen, das 128seitige Buch ist zügig gelesen und endet in einem Knall, der erst mit dem Zuklappen seine Wucht entfaltet, den ich aber in dieser Form auch als arg effekthascherisch empfand.
Mich haben tatsächlich die leisen Töne in diesem Werk am meisten angesprochen.
Jimmy ist der alleinige Erzähler dieser Novelle und man kann sich keinen besseren vorstellen. Zwar lernt man auf diese Weise die Ibrahimis nur aus seiner Sicht kennen, aber Spit baut so viele Beobachtungen, Zwischentöne und Seitenhiebe mit ein, dass sich der Horror ihrer Fluchterlebnisse in Nebensätzen erahnen lässt.
Jimmy mit seinem ehrlichen, goldenen Herzen muss man einfach gernhaben und an etlichen Stellen möchte man ihn drücken, weil er nicht nur sein eigenes Schicksal so tapfer erträgt, sondern auch gewillt ist, das seines Freundes in eine andere Richtung zu drehen. Seine kindliche Naivität und Unvoreingenommenheit sind es, die der ziemlich trocken daherkommenden Sprache das gewisse Etwas verleihen und die Erzählung in dieser Form funktionieren lässt.
Von mir 4,5 Sterne und eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 12.04.2024
Die Hoffnung der Chani Kaufman
Harris, Eve

Die Hoffnung der Chani Kaufman


sehr gut

Die Inhaltsbeschreibung von „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ hatte mir sehr zugesagt, allerdings kannte ich das Vorgängerbuch („Die Hochzeit der Chani Kaufman“) noch nicht und beschloss, zuerst jenes zu lesen: das war die richtige Entscheidung, die ich hiermit nur weiterempfehlen kann!
Denn obwohl „Die Hoffnung der Chani Kaufman“ auch als Stand-Alone funktioniert, sind sich die beiden Roman vom Stil her so ähnlich, dass gilt: wem der zweite Band gefällt, der wird auch den ersten lesen wollen, und da ist es umgedreht doch sinnvoller!

In beiden Büchern steht die in eine jüdisch-orthodoxe Gemeinde hineingeborene Chani im Mittelpunkt des Geschehens. „Die Hoffnung…“ setzt rund ein Jahr nach der „Hochzeit“ an, was ich schade finde, denn gerade Chanis und Baruchs erste Schritte im Eheleben hin zu der erst noch wachsen müssenden Liebe zueinander hätte ich allzu gerne verfolgt (zumal dies im ersten Buch quasi angeteasert wird). Doch Eve Harris Bücher setzen weniger auf Tiefenpsychologie als mehr auf die Dynamik von Dilemmata und so ist es hier der ausbleibende Kindersegen, der die Geschichte in Gang bringt.
In einem zweiten Erzählstrang verfolgen wir, wie es mit den bereits bekannten Figuren Rivka und Avromi weitergeht. Beide hadern auf ihre Art und Weise mit den starren Vorschriften der Religionsgemeinschaft: die von ihrem Mann getrenntlebende Rivka in London, ihr in Ungnade gefallener Sohn Avromi in einer Jeschiwa in Jerusalem.
Sie alle müssen ihren eigenen Weg durch den Dschungel an jüdischen Traditionen und Riten bzw. daraus hinaus finden und der Autorin gelingt es, diese unterschiedlichen Wege nachvollziehbar aufzuzeigen. Sie spart dabei nicht mit Kritik an einem männergemachten und teilweise absurd wirkenden System, verfällt dabei aber nicht in eine plumpe Schwarz-Weiß-Zeichnung, sondern ringt auch dem Leben in der jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft ihre positiven Seiten ab: Stabilität, Zusammenhalt, Lebenssinn, Gastfreundschaft, überschwängliche Feierlichkeiten.
Hier liegt auch genau die Faszination dieser Bücher: wir bekommen einen Blick hinter Türen, die Nichtjuden normalerweise verborgen bleiben. Wir erhalten Einblick in eine Parallelwelt, die geographisch teilweise sehr nah und kulturell doch gefühlte Jahrhunderte weit entfernt liegt.
Die jüdischen Sitten und Eigenheiten fließen so selbstverständlich in den Text ein, dass die kulturelle Schwelle sehr niedrig bleibt, die jiddischen Begriffe werden in einem Glossar erklärt, das man am Ende kaum mehr braucht. Verwundert stellt man an dieser Stelle fest, wie viel man durch diese Lektüre über das Judentum gelernt hat, ohne es zu merken. Denn die „Chani Kaufman“-Bücher sind in erster Linie Unterhaltung und kommen trotz einiger nicht gerade einfacher Themen mit einer bewundernswerten Leichtigkeit daher.
Manches bleibt dadurch – wie bereits angedeutet – etwas oberflächlich: Chani beispielsweise wirkt in diesem Buch blass und streckenweise sogar unsympathisch, mit Baruchs Mutter Mrs Levy gibt es die bereits bekannten und leider ziemlich klischeehaften Zickereien und die Gespräche mit der Heiratsvermittlerin Mrs Gelbman verkommen zu Karikaturen.
Trotzdem überwiegen die positiven Eindrücke einer liebevollen und gleichzeitig lehrreichen Lektüre – falls es irgendwann eine weitere Fortsetzung gäbe, ich würde sie lesen!

Bewertung vom 11.03.2024
wir sind pioniere
Erdmann, Kaleb

wir sind pioniere


ausgezeichnet

keine majuskeln kein punkt kein komma überhaupt keine satzzeichen höchstens mal ein abschnitt
sicher ein prätentiöses ar***h der sowas schreibt und das dann auch noch wir sind pioniere betitelt als wäre er der sprachpionier der neuzeit einer der denkt das sei jetzt literatur nur weil er für sein aufgeblasenes blabla keine satzzeichen verwendet
aber dann lese ich es doch abschnitt für abschnitt seite für seite und wider erwarten bekomme ich es weder mit gähnender inhaltsleere noch mit triefender bedeutungsschwangerheit oder bedeutungsschwangerschaft zu tun sondern nur mit einer profanen menschenschwangerschaft sowas passiert ja mal

sie freut sich in stuttgart und ich in graz aber dann schicke ich doch ein smiley ein ganz normales smiley nicht mit herzaugen oder offenem mund oder großen augen nur ein sympathisch lächelndes smiley ein zufriedenes glückliches von innen erfülltes smiley das große gefühlsausbrüche gar nicht nötig hat wie es ein na ja man könnte sagen gottvertrauen hat ein smiley in der blüte seines lebens das gerade erfahren hat dass es vater werden wird seite 10

ich merke dass dass das mit den pionieren eher ironisch gemeint ist so wie eigentlich das ganze buch und dass es gar nicht mal so prätentiös ist und der autor vielleicht auch gar kein ar***h wobei ich das nicht beurteilen kann weil ich ihn nicht persönlich kenne aber sein buch gefällt mir das kann ich beurteilen
außerdem ist es nun mal so dass ein stream of consciousness ohne satzzeichen mehr streamt als mit
ich streame deshalb mit bruckner von einem eurovision song contest public viewing in graz mit einem zwischenstopp in münchen nach stuttgart und mit vero zu ihrem wochenendlover nach mannheim mit dem sie schluss machen soll oder muss

ich rufe mich zur ordnung ich fange an mit dem zurechtlegen ich leg mir was für keno zurecht zum thema offene beziehung und elternschaft da sind solche wörter wie ruhe und verantwortung und gemeinsamkeit und entscheidung und bald habe ich einen kleinen haufen mit guten wörtern seite 66

dieses buch hat keine satzzeichen aber mehrere haufen gute wörter es ist originell unheimlich witzig und geht nah
nah an grazer sehenswürdigkeiten, mannheimer architekturbesonderheiten und den dorfbrunnen im rewe to go
nah an seine figuren und ihre abgefahren alltäglichen probleme
nah an nidoscreens und vergeigte chancen
nah an versicherungsrechnungen schwerlastregale und die widrigkeiten des erwachsenwerdens
nah an das phänomen deutsche bahn und die unsicherheiten von lebensplänen
nah an lina dina sina oder doch jacques und eine erdrückend unsichere zukunft

interessant wie eine beschissene situation manchmal nur sekunden braucht um sich zu einer katastrophalen situation zu entwickeln denke ich seite 163

fakt ist das lesen hat mir großes vergnügen bereitet das ist wohl dann ein funfact und deshalb 5 sterne

funfact sagt bruckner in meinem kopf er sagt es quasi achtzig mal am tag funfact und oft sind die facts gar nicht fun sondern er erklärt mir bloß wie eine oberleitung funktioniert oder eine ampelschalte oder eine french press oder zwischenmenschliche beziehungen seite 62

Bewertung vom 06.03.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Der Klappentext von „Yellowface“ tönte so vielversprechend, dass ich dieses Buch letztes Jahr schon zu meinem absoluten „Must-Read 2024“ erklärt und seinem Erscheinungstermin regelrecht entgegengefiebert hatte. Wer darf was schreiben, was veröffentlichen? – diese Frage interessiert mich alleine schon aufgrund meiner eigenen Schreiberfahrungen brennend und aufgrund der spannenden Ausgangslage eines geklauten Manuskripts erwartete ich einige neue Denkanstöße.
Nach einem mitreißenden Einstieg tritt die Story jedoch zusehends auf der Stelle. Es mag für Außenstehende interessant sein, einen Einblick in die Mechanismen des Verlagswesens zu bekommen, ich empfand es als monotone Berichterstattung bereits bekannter Prozesse.
Ich-Erzählerin June Hayward ist zwar ein ambivalenter Hauptcharakter ohne Heldenglanz, doch ihre Motive sind so durchschaubar, dass sie trotzdem viel zu glatt wirkt. Der mehr erklärende als erzählende Ausdrucksweise der Hauptfigur und lasche Dialoge tun ihr übrigens, dass dieser wunderbar flüssig geschriebene Roman in weiten Teilen zu einem glitschigen Einheitsbrei verkommt.
Ich vermisse Ecken, Kanten, Spitzen und Tiefen. Stattdessen spulen die Figuren und Social-Media-Beiträge ein geradlinig zurechtgelegtes Pro- und Contra-kulturelle-Aneignungs-Programm ab. Im letzten Viertel zieht das Tempo auf der Handlungseben zwar nochmals an, doch sogar der künstlich aufgebauschte Höhepunkt endet vorhersehbar.
Überhaupt bleiben die Überraschungen fast vollständig aus. Sicherlich schneidet Rebecca F. Kuang wichtige und aktuelle Themen wie Hass im Netz und Diskriminierung an, vermag es, Diskussionen in Gang zu bringen, verschiedenen Argumente zu beleuchten. Allerdings geht die Tiefe ihrer Darstellung kaum über das hinaus, was schon der Klappentext verrät – und das ist für 380-Seiten-Werk eine zu magere Ausbeute.
Trotz der aufsehenerregenden Grundproblematik und den belehrenden Ansätzen bleibt „Yellowface“ deutlich hinter meinen Erwartungen zurück.
Die drei Sterne gibt es in erster Linie für den Mut des Verlages, eine Kritik an den eigenen Marktstrategien zu veröffentlichen – denn der Hype um dieses Buch ist wohl die eigentliche (Real-) Satire dahinter.

Bewertung vom 19.02.2024
Himmelwärts
Köhler, Karen

Himmelwärts


ausgezeichnet

„Himmelwärts“ hat geschafft, was nur wenige können: Es hat mich zu Tränen gerührt. Denn Toni-Peperoni hat schwere Vermissung – und Karen Köhler beschreibt diese so intensiv, nah und einfühlsam, dass die Leere, die Tonis Mutter hinterlassen hat, alleine beim Lesen schmerzt.

Nein, es gibt in diesem Buch nicht nur Trauriges. Es gibt auch beste Freundin YumYum, ein kosmisches Radio, Erlebnisperlen auf Lakritzschnecken, Snackgeheimhaltung, Sternschnuppensichtung und Grasfühlung.

Karen Köhler navigiert ihre Leserschaft mit charmanten Sprachwitz in einem Kapitel-Countdown von 10 bis 0 durch die gesamte Gefühlspalette. Wo mich die Autorin in „Wir haben Raketen geangelt“ mit ihrem flapsigen Schreibstil nicht ganz erreicht hat, fand ich hier jede ihrer Wortschöpfungen innovativ und bereichernd.

Allerdings: „Himmelwärts“ ist nicht Ponyhof. Nicht nur, dass der Tod ein wichtiges, aber auch sensibles Thema ist, das nicht jedes Kind gleich gut verkraftet, so ist auch die unkonventionelle, nicht leicht zugängliche Erzählweise ein Grund, warum ich dieses Buch erst ab dem Teeniealter empfehlen würde. – Dann aber wärmstens!

Hier entfaltet sich eine sehr tiefgründige Geschichte, die es schafft, schön, tröstlich, traurig und schön traurig zugleich zu sein. Ein unvergessliches Leseerlebnis!