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jennyreads

Bewertungen

Insgesamt 19 Bewertungen
12
Bewertung vom 05.05.2025
Killer Potential
Deitch, Hannah

Killer Potential


gut

Jagd nach der Wahrheit

Killer Potential beginnt mit einem echten Knalleffekt: Evie, eigentlich nur zum Nachhilfegeben in Beverly Hills unterwegs, stolpert in ein echtes Albtraumszenario – tote Eltern, eine gefesselte Frau im Haus, Panik, ein Schlag, und plötzlich ist sie nicht mehr bloß Zeugin, sondern mutmaßliche Täterin auf der Flucht. Der Einstieg sitzt: schnell, dramatisch, voller Fragen.

Was als spannungsgeladener Thriller beginnt, entwickelt sich dann aber zunehmend in eine andere Richtung – nämlich zu einem Roadmovie, das mitunter etwas auf der Stelle tritt. Die Flucht dominiert den Mittelteil des Romans, samt gestohlenen Autos, billigen Snacks und zufälligen Begegnungen, während die eigentliche Frage – wer hat die Victors getötet und warum? – eher in den Hintergrund rückt.

Evie, die zu Beginn noch klug, bissig und relativ sympathisch wirkt, verliert zunehmend an Schärfe. Ihre Entscheidungen wirken manchmal schwer nachvollziehbar, ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Auch ihre mysteriöse Begleiterin bleibt über weite Strecken eine leere Projektionsfläche. Zwar bekommt sie später mehr Profil, doch das, was man über sie erfährt, bleibt eher durchschnittlich und reiht sich nicht wirklich überzeugend in die Handlung ein.

Was der Geschichte jedoch gelingt, ist die medienkritische Ebene: Wie schnell jemand in der Öffentlichkeit zur Heldin oder zur Monsterfigur gemacht werden kann, wird klug angedeutet. Auch die Frage, wie wir mit Wahrheit und Schuld umgehen – besonders in Zeiten von Social Media – gibt dem Roman eine interessante Dimension, die man sich stärker ausgearbeitet gewünscht hätte.

Am Ende ist Killer Potential ein Buch mit guten Ansätzen, das aber viel von seinem anfänglichen Schwung verliert. Der Thriller ist durchaus unterhaltsam, aber verschenkt zu viel Potenzial, um wirklich lange im Kopf zu bleiben.

Bewertung vom 05.05.2025
Stars
Kullmann, Katja

Stars


weniger gut

Astroglanz ohne Substanz

„Stars“ von Katja Kullmann beginnt mit einer guten Idee: Carla Mittmann, einst Philosophiestudentin mit großen Plänen, steckt seit Jahren im Kundenservice einer Möbelfirma fest. Nebenbei schreibt sie Horoskope – ohne echten Glauben daran, eher aus Pragmatismus. Als plötzlich ein Umschlag mit zehntausend Dollar vor ihrer Tür liegt, nutzt sie die Gelegenheit und wagt den Sprung ins Astrobusiness. Was als Flucht beginnt, entwickelt sich zu einem beruflichen Erfolg – doch bald stellt sich die Frage, wer hier eigentlich wen lenkt: Carla die Sterne, oder umgekehrt?

So vielversprechend diese Ausgangslage klingt, so ernüchternd empfand ich die Umsetzung. Der Roman braucht lange, um in Fahrt zu kommen. Über weite Strecken bleibt die Handlung vage, Ereignisse plätschern dahin, zentrale Fragen – etwa nach dem Ursprung des Geldes oder Carlas innerem Wandel – bleiben eher blass. Die titelgebende Astrologie spielt zwar eine Rolle, aber mehr als Kulisse denn als tragendes Thema. Tiefergehende Einblicke, sei es in die Szene oder in Carlas eigene Überzeugungen, habe ich vermisst.

Kullmann schreibt durchaus reflektiert, streut kluge Beobachtungen und gesellschaftliche Bezüge ein. Doch diese Elemente verlieren sich oft in der allgemeinen Orientierungslosigkeit der Hauptfigur. Carla ist eine Frau, die zwischen Resignation und Aufbruch schwankt – ein realistisches Bild vielleicht, aber literarisch nicht sonderlich mitreißend erzählt.

Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass der Roman zu viel andeutet, ohne etwas wirklich auszuerzählen. Es fehlt ein roter Faden, der Carla und die Leser gleichermaßen durch die Geschichte trägt. Wer sich für leise Bücher interessiert, die eher Stimmungen als Handlung transportieren, könnte hier fündig werden. Für mich persönlich blieb „Stars“ jedoch hinter seinem Potenzial zurück – atmosphärisch interessant, aber ohne bleibenden Eindruck.

Bewertung vom 14.04.2025
Das Licht in den Wellen
Mommsen, Janne

Das Licht in den Wellen


sehr gut

Von Föhr nach Manhattan

Eine Überfahrt über den Atlantik, zwei Frauen, ein Jahrhundert. In Das Licht in den Wellen erzählt Janne Mommsen die Geschichte von Inge Martensen, die mit fast hundert Jahren ein letztes Mal aufbricht. Begleitet von ihrer Urenkelin Swantje geht es per Schiff zurück nach New York, dorthin, wo Inges bewegtes Leben einst eine radikale Wendung nahm – und wo vielleicht auch für Swantje ein Neuanfang liegt.

Im Zentrum des Romans steht eine leise, eindringliche Lebensgeschichte: Inge, aufgewachsen als Bauerntochter auf Föhr, emigriert nach einem nicht näher benannten Einschnitt in jungen Jahren in die USA. Aus der Nordseetochter wird in Manhattan eine ambitionierte, humorvolle und kluge Frau, die mit Kartoffelsalat Herzen und Türen öffnet – bis hin zur Bewirtung prominenter Persönlichkeiten. Doch der Weg dorthin ist alles andere als einfach. Mommsen schildert ein Leben zwischen Anpassung und Selbstbestimmung, zwischen Heimweh und Neugier, zwischen Pflichtgefühl und Freiheitsdrang.

Was das Buch besonders macht, ist nicht allein der historische Stoff, sondern die Art, wie er erzählt wird: warm, klar, mit viel Gespür für Zwischentöne. Der Ton ist durchweg gefühlvoll, ohne ins Sentimentale abzurutschen. Dass der Roman sich über mehrere Zeitebenen entfaltet – Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerungen und Erzählungen – funktioniert dank der Charaktere ausgesprochen gut. Besonders Inge ist eine Protagonistin, die man nicht mehr vergisst: lebensklug, widersprüchlich, mutig. Auch Swantje, die mit ganz anderen Herausforderungen zu kämpfen hat, wird mit Sorgfalt gezeichnet – ihr inneres Ringen um Orientierung wirkt nie aufgesetzt, sondern glaubwürdig und berührend.

Das Licht in den Wellen ist ein Roman über Abschiede und Aufbrüche, über das Weitergeben von Erfahrungen und die Kraft, die aus der eigenen Geschichte erwachsen kann. Ein Buch, das Mut macht – nicht, weil es einfache Lösungen bietet, sondern weil es zeigt, wie viel in einem Leben steckt. Und wie befreiend es sein kann, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen – egal, ob mit 20 oder mit 99.

Bewertung vom 14.04.2025
Das Parlament der Natur
Darwin, Sarah;Vogel , Johannes;Herrmann, Boris

Das Parlament der Natur


ausgezeichnet

Warum Natur Politik braucht

Sarah Darwin, Johannes Vogel und Boris Herrmann laden zu einem außergewöhnlichen Dialog ein – über das Verschwinden von Arten, die Rolle der Wissenschaft und die politische Sprengkraft der Natur.

Die Grundidee des Buches ist ebenso simpel wie klug: Natur ist nicht nur schön oder nützlich, sie ist zutiefst politisch. Und genau diese politische Dimension steht im Zentrum der Gespräche zwischen der Botanikerin Sarah Darwin (ja, Darwin!), ihrem Mann Johannes Vogel, Direktor des Berliner Naturkundemuseums, und dem Journalisten Boris Herrmann. In klarer, zugänglicher Sprache sprechen sie darüber, warum die Sammlungen in Naturkundemuseen nicht nur Archive der Vergangenheit sind, sondern Werkzeuge für die Zukunft – für Forschung, für Bildung, für Debatten.

In zwei Teilen – Drinnen und Draußen – entfaltet sich das Gespräch mal im Museum zwischen Präparaten, mal unter freiem Himmel im südenglischen Essex. Diese Struktur verleiht dem Buch eine fast filmische Atmosphäre, in der das Persönliche und das Politische immer wieder ineinanderfließen. Herrmann leidet das Gespräch und führt Leser ohne biologischen Hintergrund souverän durch komplexe Themen.

Es geht um weit mehr als nur Biodiversität. Es geht um die großen Fragen: Wie können wir politisch handlungsfähig werden, wenn uns die Zeit davonläuft? Was braucht es, damit Gesellschaften nicht nur erkennen, was auf dem Spiel steht – sondern tatsächlich ins Handeln kommen?

Das Parlament der Natur ist weder Fachbuch noch Manifest. Es ist ein nachdenklicher, dabei zutiefst optimistischer Beitrag zur Debatte um Klima, Artensterben und unsere gemeinsame Verantwortung. Die Gestaltung – mit liebevoll gesetzten Illustrationen, historischen Exponaten und Zeichnungen – verstärkt diesen Eindruck: Hier wird nicht nur gesprochen, hier wird erzählt, gezeigt, erinnert.

Und genau das bleibt: ein Gefühl der Verbundenheit. Mit den Menschen, die Natur bewahren wollen. Mit den Tieren und Pflanzen, die verschwinden. Und mit der Hoffnung, dass wir vielleicht doch noch umsteuern können – wenn wir die richtigen Gespräche führen.

Bewertung vom 07.04.2025
Die Gerüche der Kathedrale
Wauters, Wendy

Die Gerüche der Kathedrale


sehr gut

Der Duft der Vergangenheit

In „Die Gerüche der Kathedrale“ entführt Wendy Wauters ihre Leser mitten hinein in das geschäftige, widersprüchliche Leben rund um die Antwerpener Liebfrauenkirche im 16. Jahrhundert – einem Ort, an dem sich das Heilige und das Alltägliche, das Erhabene und das Grobe eng berührten. Statt klassischer Chronologie oder nüchterner Daten präsentiert Wauters einen atmosphärischen, sinnlich geprägten Zugang zur Geschichte.

Das besondere Augenmerk auf Gerüche – von Weihrauch bis Verwesung – ist kein bloßer Gimmick, sondern Teil eines durchdachten kulturhistorischen Konzepts. Dabei gelingt es der Autorin, wissenschaftliche Tiefe mit anschaulicher Sprache zu verbinden. Die Kathedrale erscheint nicht nur als Ort des Glaubens, sondern auch als Spiegel einer Stadt im Umbruch: Handelsmetropole, religiöser Brennpunkt, sozialer Treffpunkt.

Stärken des Buches sind die interdisziplinäre Herangehensweise und die vielen kleinen historischen Einblicke, die das große Ganze greifbar machen. Durch Illustrationen, Abbildungen und begleitende Materialien (wie Festkalender oder Zeittafeln) wird die Lektüre zusätzlich bereichert.

Trotzdem verlangt die Lektüre eine gewisse Offenheit: Wer sich einen klassischen Geschichtsabriss oder ein durchgängig erzähltes Sachbuch erwartet, wird möglicherweise irritiert sein. Der Fokus auf das Atmosphärische bringt zwar Nähe, verzichtet aber teilweise auf tiefere analytische Kontexte oder größere historische Linien.

Insgesamt ist „Die Gerüche der Kathedrale“ ein bemerkenswert anderes Geschichtsbuch – sinnlich, durchdacht und ungewöhnlich in seinem Zugriff. Besonders empfehlenswert für Leser, die an Alltagsgeschichte, kultureller Anthropologie oder dem Leben zwischen den Zeilen interessiert sind.

Bewertung vom 31.03.2025
Was ich von ihr weiß
Andrea, Jean-Baptiste

Was ich von ihr weiß


gut

Jean-Baptiste Andreas Roman Was ich von ihr weiß nimmt sich viel vor: Er erzählt die Lebensgeschichte des Bildhauers Mimo, seine künstlerische Entwicklung, seine Beziehung zur freiheitsliebenden Viola und bettet all das in den historischen Kontext Italiens im 20. Jahrhundert ein. Doch trotz dieser vielversprechenden Ausgangslage gelingt es dem Buch nicht immer, eine fesselnde Erzählung daraus zu machen.

Ein zentrales Problem ist das Erzähltempo. Mit über 500 Seiten zieht sich die Handlung stellenweise erheblich. Insbesondere die detaillierten Beschreibungen, die sicher gut recherchiert sind, dominieren den Text so sehr, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen, allen voran die zu Viola, manchmal zu kurz kommen. Viola wird als faszinierende, unkonventionelle Frau eingeführt, bleibt jedoch oft auf Distanz – sowohl zu Mimo als auch zum Leser. Da der Roman aus seiner Perspektive erzählt wird, bleibt sie eine Figur, die er beobachtet, aber deren innere Welt weitgehend verborgen bleibt. Der deutsche Titel Was ich von ihr weiß scheint genau darauf hinzuweisen: Es ist letztlich nur das, was Mimo von ihr versteht, nicht was sie wirklich ausmacht.

Auch die Liebesgeschichte folgt bekannten Mustern: Ein armer, aber talentierter Künstler trifft auf eine reiche, rebellische Adelige, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge auflehnt. Diese Konstellation hätte durchaus Potenzial, doch es fehlt an Überraschungen oder emotionaler Tiefe, die sie über das Klischeehafte hinausheben würden. Die Begegnungen zwischen Mimo und Viola sind oft flüchtig, ihr Verhältnis schwankt zwischen Nähe und Distanz, doch wirklich greifbar wird ihre Verbindung selten.

Ein weiteres Manko ist die Einbettung in die historischen Ereignisse. Zwar wird der Aufstieg des Faschismus thematisiert, doch bleibt er oft eine Kulisse für Mimos persönliche Geschichte, anstatt wirklich in die Handlung integriert zu werden. Während Viola früh die Zeichen der Zeit erkennt, scheint Mimo oft nur reaktiv zu agieren. Hier hätte eine stärkere Auseinandersetzung mit der politischen Dimension der Epoche dem Roman mehr Tiefe verleihen können.

Positiv hervorzuheben ist Andreas Schreibstil. Seine Sprache ist bildhaft und poetisch, ohne ins Überladene abzudriften. Wer sich für kunstvolle Beschreibungen begeistern kann, wird hier auf seine Kosten kommen. Doch wer auf eine packende, emotionale Erzählung hofft, könnte sich an der Langatmigkeit und der distanzierten Figurenzeichnung stören.

Insgesamt ist Was ich von ihr weiß ein ambitionierter Roman mit einer interessanten Grundidee, der jedoch in der Umsetzung nicht immer überzeugt. Die Geschichte verliert sich zu oft in Details und bleibt emotional auf Distanz. Wer sich für das Thema Bildhauerei interessiert und ein Faible für langsame, atmosphärische Erzählungen hat, könnte hier fündig werden – wer jedoch eine fesselnde, tiefgehende Charakterstudie oder eine intensive historische Auseinandersetzung sucht, wird möglicherweise enttäuscht sein.

Bewertung vom 17.03.2025
Der ewige Tanz
Schroeder, Steffen

Der ewige Tanz


sehr gut

Zwischen Kunst und Skandal

Steffen Schroeders „Der ewige Tanz“ beleuchtet das Leben der Tänzerin Anita Berber, die in den 1920er Jahren als eine der auffälligsten Figuren der deutschen Kunstszene galt. In einem Berliner Krankenhaus im Jahr 1928, gezeichnet von Krankheit und der Last ihres exzessiven Lebens, blickt Berber auf ihre Jugend, ihre Beziehung zu ihrer Mutter, die Einsamkeit, die sie als Künstlerin begleitete, und ihre größten Erfolge zurück. Durch diese Rückblicke entwirft Schroeder das Porträt einer Frau, die den Tanz zur Kunst erhob und dabei immer wieder zwischen Bewunderung und Skandal hin- und herschwankte.

Der Roman liefert interessante Einblicke in Berbers Leben und die Atmosphäre der Weimarer Republik. Es wird nicht nur das Streben nach Selbstbestimmung und Anerkennung thematisiert, sondern auch die schwierige Balance zwischen Kunst, Ruhm und den persönlichen, oft destruktiven Exzessen, die Berber begleiteten. Die zahlreichen Begegnungen mit prominenten Persönlichkeiten der Zeit – darunter Otto Dix und Marlene Dietrich – verleihen der Erzählung einen historischen Kontext und unterstreichen Berbers Bedeutung als Künstlerfigur.

Allerdings bleibt die Erzählung in ihrer Tiefe und Komplexität etwas auf der Strecke. Der Roman konzentriert sich mehr auf die Fakten und Ereignisse des Lebens von Anita Berber und weniger auf eine tiefere Auseinandersetzung mit ihren inneren Konflikten und der Tragik ihrer Existenz. Der Leser erhält viele historische und biografische Details, doch eine emotionale Nähe zu Berber bleibt oftmals aus.

Schroeders Schreibstil ist präzise und lässt sich gut lesen, doch die Erzählweise wirkt gelegentlich etwas distanziert und geht nicht in die Tiefe, die eine so komplexe Persönlichkeit wie Anita Berber eigentlich verdient hätte. Die Ereignisse und Reflexionen über ihr Leben sind gut recherchiert, aber die Erzählung könnte sich an manchen Stellen mehr auf die Atmosphäre und die Entwicklung der Hauptfigur konzentrieren.

„Der ewige Tanz“ bietet dennoch einen spannenden Überblick über das Leben einer faszinierenden Persönlichkeit und ist für Leser, die an der Weimarer Republik und an der Kunstszene jener Zeit interessiert sind, durchaus empfehlenswert. Wer sich jedoch eine intensivere, emotionalere Auseinandersetzung mit Anita Berber und ihrer Kunst erhofft, könnte das Buch als etwas zu oberflächlich empfinden.

Bewertung vom 17.03.2025
Heimweh im Paradies
Mittelmeier, Martin

Heimweh im Paradies


weniger gut

Verloren im Faktenmeer

„Heimweh im Paradies“ verspricht eine atmosphärische Reise in das kalifornische Exil großer deutscher Intellektueller, allen voran Thomas Mann. Was man jedoch bekommt, ist ein Buch, das in seiner nüchternen Faktenfülle und seinem bemüht kunstvollen Stil kaum über das Niveau einer Aneinanderreihung biografischer Notizen hinauskommt.

Martin Mittelmeier hat zweifellos akribisch recherchiert – das zeigt sich in der Vielzahl an Anekdoten und historischen Details, die er zusammenträgt. Leider bleibt es genau dabei: Das Buch ist mehr ein Register der Ereignisse als ein erzählerisches Werk mit Atmosphäre oder innerem Spannungsbogen. Der Leser wird Zeuge dessen, was Thomas Mann im Exil tat, mit wem er verkehrte, wann er welchen Vortrag hielt – doch das Wie, das Erleben, das menschliche Drama dahinter, bleibt blass. Dialoge? Fehlanzeige. Stattdessen werden Beobachtungen nüchtern wiedergegeben.

Der Stil des Autors wirkt teils gekünstelt, was den Text häufig schwerfällig und verkopft erscheinen lässt. Besonders Leser, die sich nicht tief im philosophisch-literarischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts auskennen, könnten sich rasch verloren fühlen. Die Folge: ein Buch, das intellektuell fordern möchte, aber emotional kaum berührt.

Dabei hätte das Thema Potenzial: Die Begegnungen der Exilanten, die Spannungen zwischen Künstlern und politischen Flüchtlingen, die Frage nach Kunst und Verantwortung in Zeiten der Diktatur – all das ließe sich packend, lebendig und aufwühlend erzählen. Stattdessen liest sich das Buch streckenweise fast wie ein Pflichttext, nicht wie eine lebendige literarische Auseinandersetzung.

Wer ein Faible für biografische Daten und intellektuelle Name-Dropping-Exkurse hat, wird hier bedient. Wer jedoch auf eine fesselnde, literarisch anspruchsvolle und gleichzeitig zugängliche Darstellung des Exils hofft, dürfte enttäuscht sein. Heimweh im Paradies verpasst die Chance, mehr als bloße Exilchronik zu sein – und bleibt letztlich ein trockenes Stück Literaturgeschichte.

Bewertung vom 01.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


gut

Familiengeheimnisse und der Preis des Reichtums

Taffy Brodesser-Akner entwirft in ihrem Roman Die Fletchers von Long Island das vielschichtige Porträt einer reichen, jüdisch-amerikanischen Familie, die von einem traumatischen Ereignis aus den 1980er-Jahren – der Entführung des Familienvaters Carl Fletcher – geprägt ist. Jahrzehnte später zeigt sich, wie dieses Erlebnis nicht nur Carl, sondern auch seine Frau Ruth und die drei Kinder nachhaltig beeinflusst hat. Mit einem scharfen Blick für gesellschaftliche Dynamiken und einem Hauch von bitterbösem Humor beleuchtet Brodesser-Akner die Schattenseiten von Privilegien und den Nachwirkungen familiärer Traumata.

Die Handlung beginnt temporeich mit der Entführung Carls und ihrer unmittelbaren Folgen, bevor sich der Roman stärker auf die Lebenswege der drei Kinder Beamer, Nathan und Jennifer konzentriert. Dabei behandelt Brodesser-Akner große Themen wie generationenübergreifendes Trauma, den American Dream, familiäre Dysfunktionalität und soziale Ungleichheit. Der Erzählton schwankt zwischen satirischem Humor und tiefgründigen Reflexionen, was den Roman sowohl unterhaltsam als auch nachdenklich macht.

Die Charaktere sind gut gezeichnet, wenn auch nicht immer sympathisch. Beamer, ein erfolgloser Drehbuchautor, Nathan, ein neurotischer Anwalt, und Jennifer, die mit ihrem Platz in der Welt hadert, kämpfen allesamt mit den Erwartungen, die ihre privilegierte Herkunft an sie stellt, sowie mit den unausgesprochenen Folgen der Entführung ihres Vaters. Trotz ihrer individuellen Konflikte und Geheimnisse wirkt manches vorhersehbar, und einige Episoden – besonders Beamers Exzesse mit Drogen und Affären – ziehen sich zu sehr in die Länge.

Der Roman ist sprachlich gelungen und bietet viele scharfsinnige Beobachtungen über Reichtum und die damit verbundene Isolation, doch die 600 Seiten hätten gut von einer strafferen Struktur profitiert. Manche Szenen wirken überflüssig und die Thematisierung der Entführung bleibt stellenweise mehr Aufhänger als zentraler Aspekt der Geschichte. Dennoch überzeugt der Roman durch seinen satirischen Witz, die bittersüße Absurdität und die universellen Fragen, die er aufwirft: Wie sehr prägt uns unsere Herkunft? Und können Privilegien ein Segen und Fluch zugleich sein?

Die Fletchers von Long Island ist ein ambitionierter Familienroman, der sich mit den großen Themen des Lebens befasst und dabei unterhält und nachdenklich macht. Trotz einiger Längen und stellenweiser Vorhersehbarkeit ist es ein lesenswerter Roman für alle, die vielschichtige Familiengeschichten und Gesellschaftskritik schätzen.

Bewertung vom 24.02.2025
bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
Lovrenski, Oliver

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann


gut

Jugend am Abgrund

Oliver Lovrenskis "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann" will atemlos und brutal ehrlich sein – eine schonungslose Momentaufnahme jugendlicher Rastlosigkeit und Perspektivlosigkeit in Oslo. Die vier Freunde, die zwischen Drogen, Gewalt und einer tiefen, fast verzweifelten Loyalität zueinander gefangen sind, werden als verlorene Seelen einer reichen, aber gleichgültigen Gesellschaft gezeichnet.

Das Buch besticht durch seinen fragmentarischen Stil und eine konsequente Kleinschreibung, die den Eindruck eines rohen, spontanen Erfahrungsberichts verstärkt. Doch genau hier liegt auch eine der Schwächen: Während die Sprache die ungeschliffene Realität widerspiegeln soll, bleibt sie oft floskelhaft und stilisiert. Die Kapitel sind extrem kurz, was zwar die Rastlosigkeit der Charaktere transportiert, andererseits aber auch Tiefe und Reflexion verhindert.

Thematisch bewegt sich das Buch auf vertrautem Terrain: Drogen, Gewalt, kaputte Familien, toxische Männlichkeit und das Gefühl, nicht dazuzugehören. Doch es bleibt oft an der Oberfläche. Die Charaktere verschwimmen ineinander, ihre Schicksale berühren, ohne wirklich unter die Haut zu gehen. Was bleibt, ist ein raues, wütendes Buch, das wichtige Themen anschneidet – aber nicht immer die emotionale Tiefe erreicht, die es anstrebt.

"bruder, wenn wir nicht familie sind, wer dann" ist in temporeiches, stilistisch auffälliges Debüt, das die Schattenseiten einer Jugend im Ausnahmezustand beleuchtet – aber oft mehr Lärm macht, als es wirklich erzählt.

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