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Benutzername: 
Stephan Groß
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Bewertung vom 21.11.2010
Deplatziert
Birkholz, Jörn

Deplatziert


ausgezeichnet

Die einen Geschichten handeln von großen Fügungen - andere von alltäglichen Schicksalen kleiner Leute, deren Bedeutung erst durch sorgfältige Beobachtung des Autors erfahrbar wird. So geschehen beim Debütroman „Deplatziert" des Bremers Jörn Birkholz.

Die Gedankenwelt des namenlosen Ich-Erzählers wird nicht in erster Linie monologisch vermittelt, sondern durch präzise Situationsbeschreibungen und pointierte Dialoge heraufbeschworen und begreifbar gemacht. Phasenweise glaubt man fast, im Kino zu sitzen, zum Beispiel in einem osteuropäischen Roadmovie im Kapitel „Kleine polnische Odyssee". Der Held muss sich mit dem zwielichtigen kleinkriminellen Onkel seiner Ex-Freundin herumschlagen, der ihn wie selbstverständlich ins verbrecherische Milieu hinabzieht. Am Ende bleibt nur eine Leiche auf dem Rücksitz seines Kleinwagens. Man spürt die Schwüle und die Bedrohung und fiebert mit.

Dieses actiongeladene Highlight dient allerdings als Kontrast für den nüchtern-ironischen Bericht einer Bremer Lebenswirklichkeit. Wir begleiten den Protagonisten beim Baumarkt-Job, bei Besorgungen und zum Professor und treffen seine Freunde. Doch auch hier ist das wache Auge des Autors Garant dafür, dass keine Langeweile aufkommt. Zu absurd, oder zu absurd alltäglich sind die kleinen Abenteuer, die der Held zu bestehen, oder vielmehr zu erleiden hat. Dabei muss er schon mal einem vermeintlichen Freund Trost spenden über den Verlust einer Liebschaft, was fast zu einer Schlägerei in einem italienischen Restaurant führt. Fehl am Platze fühlt er sich dabei, und deplatziert ist er in der Tat meistens, und doch versucht er verzweifelt, es richtig, und vor allem, es allen Recht zu machen, um irgendwann sein kleines privates Stück vom Glück zu finden. Doch alle Mühe scheint vergebens ...

Die Sinnsuche, die jedes denkende Wesen umtreibt, führt hier in Anlehnung an die Flaubertsche Formulierung zu einem spannungsvollen „Ungleichgewicht zwischen Temperament und Umständen", und aus dieser Distanz schöpft Deplatziert seine Kraft. Der Erzähler ist auch nicht gewillt, diesen Abstand durch Oberflächlichkeiten zu überbrücken, sondern dieses Negativ wird entwickelt, und es kristallisiert sich, auch zwischen den Zeilen, eine positive geistige Heimat heraus – ein Ort, der die Reise lohnt, wie ich finde.

Stephan Groß