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eight_butterflies

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Insgesamt 16 Bewertungen
Bewertung vom 22.08.2025
Allende, Isabel

Mein Name ist Emilia del Valle


ausgezeichnet

Schon ein Jahr ist das letzte Buch von Isabel Allende her und mit „Mein Name ist Emilia del Valle“ wurde mir wieder einmal bewusst, warum ihre Romane so einzigartig sind. Von der ersten Seite an hat mich die Geschichte in den Bann gezogen.
Im Mittelpunkt steht Emilia, die unter ungewöhnlichen Umständen geboren wurde. Als Tochter einer irischen Nonne und eines chilenischen Aristokraten, der nie Verantwortung übernommen hat. Aufgewachsen in San Francisco, von ihrem Stiefvater liebevoll gefördert, entwickelt sie schon früh den Wunsch, zu schreiben. Dass sie sich in einer Zeit, in der Frauen kaum Chancen hatten, als Journalistin durchsetzt, hat mich zutiefst beeindruckt. Ich habe beim Lesen oft innegehalten, um darüber nachzudenken, wie viel Mut und Willenskraft dazu gehörten.
Besonders spannend fand ich den Moment, als Emilia nach Chile reist, in das Land ihrer Wurzeln, das zugleich vom Bürgerkrieg erschüttert wird. Hier wird Isabel Allendes Erzählkunst spürbar. Sie verknüpft die politischen Umbrüche und die Schrecken des Krieges mit den sehr persönlichen Erfahrungen Emilias. Die Szenen an der Seite der Soldaten, die Armut, der Hunger, die Angst, all das hat sich für mich so lebendig und intensiv angefühlt, dass ich das Gefühl hatte, mitten im Geschehen zu stehen. Gleichzeitig bleibt immer Platz für das Menschliche, die Freundschaft und Zuneigung zu ihrem Kollegen Eric, die Suche nach ihrem Vater, die Fragen nach Herkunft und Identität.
Isabel Allendes Sprache ist, wie ich es von ihr kenne, bildreich, voller Wärme und gleichzeitig eindringlich. Ich habe es geliebt, wie detailreich sie Schauplätze und Figuren beschreibt, ohne je ins Überladene zu rutschen. Manche Passagen haben sich fast filmisch vor meinem inneren Auge entfaltet. Besonders die Figur der Emilia ist für mich ein kleines literarisches Geschenk, mutig, widersprüchlich, verletzlich und zugleich stark.
Für mich ist „Mein Name ist Emilia del Valle“ nicht nur ein historischer Roman, sondern auch ein Buch über Selbstbehauptung, über das Recht, den eigenen Weg zu gehen, und über die Kraft von Erinnerungen. Es ist ein Lebensepos, ein Zeitdokument und eine Aufklärung. Das Buch hat mich nicht nur unterhalten, sondern auch berührt und nachdenklich zurückgelassen, ein echter Pageturner.
Ich kann diesen Roman jedem ans Herz legen, der starke Frauenfiguren, atmosphärische Schauplätze und geschichtliche Tiefe liebt. Für mich war es ein echtes Lesehighlight, das sicher noch lange nachklingen wird, ein neues Meisterwerk von Isabel Allendes bester Erzählkunst, ein Jahresjuwel.

Bewertung vom 14.08.2025
Dröscher, Daniela

Junge Frau mit Katze


ausgezeichnet

Ich habe lange auf dieses Buch gewartet, nachdem ich „Lügen über meine Mutter“ mehrfach las und kaum ein anderes Buch kenne, das mir so aus der Seele spricht, sprachlich und auch atmosphärisch. Nun legt Daniela Dröscher mit „Junge Frau mit Katze“ einen stillen und zugleich kraftvollen Nachfolgeroman vor. Mit großer sprachlicher Sorgfalt und Weite zugleich widmet sich das Buch den Verflechtungen von Körper, Psyche und Herkunft. Im Mittelpunkt steht Ela, inzwischen erwachsen, kurz vor der Promotion und zugleich am Rand ihrer Kräfte.
Was zunächst als diffuse Krankengeschichte beginnt, entwickelt sich schnell zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit weiblicher Verwundbarkeit, mit dem Labyrinth eines Patienten im medizinischen System, mit familiären Altlasten und der Frage, was es heißt, in einer von Leistung geprägten Welt nicht mehr zu „funktionieren“. Dass Ela dabei nicht zur bloßen Beschwerdeführerin wird, sondern als Figur mit Tiefe und Widerspruch gezeichnet ist, macht die Lektüre umso eindringlicher.
Ich habe mich in vielen Momenten in Ela wiedergefunden, in der Erschöpfung, im Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung, in der Suche nach Halt. Doch zugleich war das Buch für mich auch fordernd. Ich hatte aus dem Vorgängerbuch „Lügen über meine Mutter“ bereits tiefe Sympathien für die Figur der Ela und konnte die diffuse Dichte an Beschwerdebildern, Diagnosen und emotionalen Spannungen nur mit Bedrückung wahrnehmen. Vielleicht beabsichtigt, denn Krankheit und die komplexen familiären Verstrickungen sind eben nicht erzählbar in glatt gebügelten Kapiteln.
Besonders beeindruckt hat mich die Sprache der Autorin, ähnlich wie in „Lügen über meine Mutter“. Klar, fein beobachtet, stellenweise lakonisch, dann wieder fast poetisch. Daniela Dröscher schreibt mit einem Ton, der weder dramatisiert noch beschwichtigt, sondern einfach bleibt. Das Gelesene wird wahr.
Ich habe mich gefragt, wie ich das Buch erlebt hätte ohne die Leidenschaft für die Autorin und das vorhergehende Werk. Ich würde fast empfehlen, zuerst „Lügen über meine Mutter“ zu lesen, auch wenn „Junge Frau mit Katze“ ohne auskommt, jedoch wirken die beiden Bücher zusammen.
Ein wirklich notwendiges Buch.

Bewertung vom 04.08.2025
Fonthes, Christina

Wohin du auch gehst


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die man nicht einfach nur liest, sondern erlebt. „Wohin du auch gehst“ von Christina Fonthes war für mich genau so ein Buch. Es hat mich emotional, gedanklich und auch sprachlich mitgenommen auf eine Reise. Und ich habe es nicht nur gelesen, sondern gespürt.
Im Mittelpunkt des Buches stehen zwei Frauen. Bijoux ist eine eine junge queere Frau, die nach einer Krise im Kongo zu ihrer Tantine Mireille nach London geschickt wird. Und Mira, diese Tante, die ein Leben voller Brüche und Verluste hinter sich hat. Beide sind über zwei Generationen eng miteinander verknüpft. Was anfangs wie ein klassischer Konflikt zwischen Alt und Jung wirkt, entfaltet sich Stück für Stück zu einer viel komplexeren Geschichte über Herkunft, Trauma, Selbstbestimmung und darüber, wie schwer es ist, ein freies Leben zu führen, wenn einem die Welt Grenzen setzt.
Mich hat besonders berührt, wie menschlich die Figuren gezeichnet sind. Nichts ist schwarz-weiß. Ich wurde zunächst nicht warm mit der strengen Tantine Mireille, die ihrer Nichte das Leben schwer macht. Doch auch sie bekommt Raum, verstanden zu werden. Das macht die Geschichte so glaubwürdig und auch so schmerzhaft. Sie erwischte mich auch bei meinen eigenen Vorurteilen.
Christina Fonthes schreibt schnörkellos, aber eindringlich. Die kurzen Kapitel, die Perspektivwechsel, die Sprünge in Zeit und Ort (Kinshasa, Brüssel, Paris, London) machen das Buch lebendig. Manchmal hatte ich das Gefühl, gleichzeitig in einem politischen Roman, einem Familienporträt und einer queeren Coming-of-Age-Geschichte zu stecken und alles fügte sich trotzdem zu einem stimmigen Ganzen.
Was mir sehr gefallen hat, war der sprachliche Rhythmus. Immer wieder tauchen Wörter aus dem Lingala auf, die mir anfangs fremd waren, aber mit der Zeit Teil der Erzählwelt wurden. Es fühlte sich an wie ein Eintauchen, nicht nur in eine Geschichte, sondern in eine ganze Kultur.
Inhaltlich ist das Buch nicht leicht. Es geht um Gewalt, Identitätsfragen, religiöse Enge, koloniale Nachwirkungen. Und doch bleibt Raum für Liebe, für Freundschaft, für Aufbruch. Am Ende war ich sehr bewegt und voller Respekt für dieses beeindruckende Debüt. „Wohin du auch gehst“ ist für mich ein Buch, das man nicht einfach wieder ins Regal stellt. Es begleitet einen weiter.
Das Buch ist lesenswert für alle, die sich für interkulturelle Perspektiven interessieren, für queere Geschichten jenseits westlicher Narrative und für Literatur, die nicht nur erzählt, sondern etwas in einem in Bewegung setzt.

Bewertung vom 21.07.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


sehr gut

Beim Stöbern im Buchladen wäre mir „Das Geschenk“ von Gaea Schoeters wahrscheinlich nicht weiter aufgefallen. Zu schmal, zu unscheinbar zwischen all den dicken Romanen, die sich nach stundenlanger Lektüre anfühlen. Was dann auf den ersten Blick wie eine schräge Satire klingt, entpuppt sich als kluges, bissiges, überraschend bewegendes Gedankenspiel über politische Verantwortung, moralische Doppelmoral und die Grenzen unseres gesellschaftlichen Verständnisses von Integration, Umwelt und Macht.
Plötzlich sind 20.000 Elefanten in Berlin, sie sind einfach da. Keine langen Diskussionen, keine Planungsprozesse, sie tauchen auf und mit ihnen ein Problem, das sich nicht mehr ignorieren lässt. Die Regierung unter Kanzler Hans Christian Winkler ist überfordert, genauso wie die Bevölkerung. Es ist ein Geschenk, das man nicht ablehnen kann, aber auch keines, mit dem man weiß, was man anfangen soll. Und genau da beginnt die Geschichte, ihre ganze Kraft zu entfalten. Denn Schoeters nutzt dieses absurde Szenario nicht für billigen Klamauk, sondern als präzise Spiegelung unserer politischen Realität. Wie handeln wir, wenn uns ein Problem trifft, das wir sonst gerne nach außen verlagern? Was passiert, wenn wir gezwungen sind, mit dem „Fremden“ zu leben?
Ich war überrascht, wie schnell ich tief in diese Geschichte hineingezogen wurde. Die Elefanten, so seltsam sie im Kontext wirken, sind dabei keine alberne Metapher, sondern echte Figuren mit Gewicht. Wie sie durch Städte stapfen, nach Nahrung suchen, Wasser trinken, unbeirrt ihren Raum einnehmen, als wären sie schon immer da gewesen. Und plötzlich ist da die Frage, wer sich eigentlich wem anpasst.
Was ich an Schoeters' Stil besonders mochte, war ihre Mischung aus Schärfe und Leichtigkeit. Sie übertreibt nie, sie kommentiert mit einem trockenen, fast beiläufigen Humor, der oft erst im Nachhall trifft. Gleichzeitig steckt in jeder Szene eine messerscharfe Beobachtung unserer politischen Wirklichkeit. Die Diskussionen über Artenschutz, über Flüchtlingspolitik, über Verantwortung und Bevormundung anderer Staaten werden hier nicht theoretisch abgehandelt, sondern durchgespielt. Und das so nah an der Realität, dass es manchmal fast weh tut.
Der Satz „Elefanten sind keine Flüchtlinge“ bleibt hängen. Weil er so klar benennt, was dieses Buch tut. Es schiebt vorsichtig, aber bestimmt unsere moralischen Selbstverständlichkeiten beiseite. Zeigt, wie schnell ein System ins Wanken gerät, wenn es seine Prinzipien nicht lebt, sondern nur verwaltet. Und ganz nebenbei erzählt es von Propaganda, Populismus, von Macht um der Macht willen, von der Schwierigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, wenn alles falsch erscheint.
Ich habe beim Lesen gelacht, gestaunt, mit dem Kopf geschüttelt. Und mich gefragt, warum nicht viel mehr Geschichten genau diesen Ton treffen, diesen schmalen Grat zwischen Unterhaltung und Ernst, zwischen Satire und Reflexion. Gaea Schoeters hat mit „Das Geschenk“ ein Buch geschrieben, das man kaum aus der Hand legen kann, weil es wirklich klug und überraschend menschlich ist.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.07.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


sehr gut

Ich weiß nicht, wann mich ein Buch zuletzt so langsam, aber eindringlich in seinen Bann gezogen hat wie „Schattengrünes Tal“ von Kristina Hauff. Es war kein lautes „Wow“ nach den ersten Seiten, sondern eher dieses Gefühl, dass sich etwas anbahnt. Etwas, das man nicht benennen kann, aber spürt. Und genau das liebe ich an Geschichten, wenn sie sich nicht aufdrängen, sondern still unter die Haut kriechen.
Lisa war für mich sofort greifbar. Eine Frau, die still mitarbeitet, Verantwortung übernimmt, sich für andere aufopfert, aber nie wirklich im Mittelpunkt steht. Ich habe mich an vielen Stellen in ihr wiedergefunden. Dieses Gefühl, alles am Laufen zu halten, aber trotzdem übersehen zu werden, das hat mich wirklich berührt. Vor allem in der Beziehung zu ihrem Vater, der ihr zwar vertraut, sie aber nie ganz ernst nimmt. Und dann ist da Simon, ihr Mann, der sich mehr und mehr entzieht, in Gedanken und später auch emotional. Auch das kennt man vielleicht, wenn sich der Mensch neben einem langsam entfernt, ohne dass man es gleich merkt.
Und dann kommt Daniela. Und alles kippt.
Anfangs fand ich sie sogar spannend, diese Frau, die plötzlich da ist, im Hotel bleibt, mit allen gut klarzukommen scheint. Ich dachte, vielleicht tut so jemand Lisa sogar gut. Aber das hat sich schnell geändert. Ich hatte ständig ein mulmiges Gefühl beim Lesen. Wie Daniela sich in Lisas Leben schiebt, bei ihrem Vater einschmeichelt, sogar Simons Nähe sucht. Das war so geschickt geschrieben, dass ich manchmal selbst nicht wusste, ob ich mir das nur einbilde. Diese Manipulation geschieht so leise, so unterschwellig, dass man als Leserin genauso in Zweifel gerät wie Lisa selbst. Und das ist das Großartige an diesem Buch. Es lässt einen nicht außen vor, es macht einen zum Teil des Ganzen.
Kristina Hauff hat es geschafft, mich mit einer sehr ruhigen, klaren Sprache komplett in diese Welt zu ziehen. Ich konnte das Hotel richtig vor mir sehen, ein bisschen heruntergekommen, voller Erinnerungen. Der Schwarzwald mit seiner Düsternis, den Nebeln, den stillen Wegen, perfekt für die Art Geschichte, die hier erzählt wird. Ich war beim Lesen tatsächlich oft selbst wie in einem dunklen Tal. Ich wollte raus, aber konnte nicht aufhören weiterzugehen.
Was mir besonders gefallen hat, war die Mehrstimmigkeit. Die Kapitel aus der Sicht von Lisa, Carl, Margret und Simon geben dem Ganzen eine Tiefe, die es noch eindringlicher macht. Ich habe niemanden hundertprozentig gemocht oder abgelehnt, selbst Daniela nicht. Und gerade das hat mich emotional so gepackt. Diese Grautöne, dieses Menschliche, das manchmal so unbequem ist.
Für mich ist „Schattengrünes Tal“ kein klassischer Spannungsroman. Es ist ein psychologisches Kammerspiel, das sich in einen hineinbohrt und lange bleibt. Eine klare Empfehlung für alle, die Geschichten mögen, die zwischen den Zeilen wirken. Und die sich nicht scheuen, auch mal unangenehm nah heranzukommen.

Bewertung vom 12.07.2025
Szántó, Henrik

Treppe aus Papier (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die einen still begleiten. Leise, unaufgeregt, aber tief. „Treppe aus Papier“ von Henrik Szántó gehört für mich genau in diese Kategorie. Der Roman hat mich auf eine ganz eigene Weise berührt, vielleicht gerade, weil er nicht laut ist, sondern nachhallt. Und weil er eine Frage stellt, die mich nicht mehr loslässt: Was würde ein Gebäude erzählen, wenn es könnte?
Die Entscheidung, das Haus selbst als Erzähler auftreten zu lassen, fand ich zunächst ungewohnt. Der Einstieg war für mich eher vorsichtig. Ich musste mich an diese raumbezogene, fast zeitlose Perspektive erst gewöhnen. Aber je weiter ich las, desto mehr ergab alles Sinn. Die Geschichte ist nicht linear. Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich, verschränken sich an bestimmten Orten, wie in einem Echo, das durch die Wände klingt.
Besonders beeindruckt hat mich die Figur der Irma, als Kind im Nationalsozialismus groß geworden, mit all den Zwängen, den Schuldgefühlen, dem Schweigen. Und dann die Begegnung mit der 15-jährigen Nele, die heute mit ihren Eltern in der Wohnung lebt, die einst Ruth Sternheim gehörte, Irmas jüdischer Freundin. Diese generationsübergreifende Verbindung, dieses vorsichtige Annähern der beiden, das ist so feinfühlig erzählt, dass ich mehr als einmal schlucken musste.
Nele ist eine Figur, die ich sofort mochte. Klug, aufmerksam, unbequem, im besten Sinne. Ihre Fragen sind nicht naiv, sondern mutig. Und sie stellt sie dort, wo viele lieber schweigen würden, nämlich in der eigenen Familie. Die Ablehnung, die ihr da entgegenschlägt, hat mich wütend gemacht und gleichzeitig daran erinnert, wie schwer es manchmal noch heute ist, über die eigene Geschichte zu sprechen. Oder über das, was verschwiegen wurde.
Sprachlich ist das Buch etwas Besonderes. Kein übertriebener Pathos, kein pädagogischer Zeigefinger, stattdessen eine poetische, fast träumerische Sprache, die dennoch klar bleibt. Ich habe viele Stellen zweimal gelesen, weil sie in wenigen Sätzen so viel sagen. Es sind oft die kleinen Beobachtungen, die einen treffen. Eine Bewegung, ein Blick, ein Satz zwischen den Zeilen.
„Treppe aus Papier“ ist ein Buch über Erinnerung, über Verantwortung und über die Macht der Orte. Es zeigt, dass Geschichte nicht abgeschlossen ist, sondern weiterlebt, sich einschreibt in Wände, Böden, Menschen. Für mich war es nicht nur eine Lektüre, sondern eine Erfahrung. Und eine Einladung, eigene Fragen zu stellen an das, was war. Und an das, was daraus geworden ist.

Bewertung vom 10.06.2025
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


ausgezeichnet

Schon nach den ersten Seiten war mir klar, dass mich dieses Buch auf ungewöhnliche Weise bindet. Die feinfühlige Annäherung an zwei Frauenleben, die unterschiedlicher kaum sein könnten und sich doch auf eine Weise begegnen, die zutiefst berührt, zog Parallelen zu meinem eigenen Lebensverlauf.
Sina, die im Alltag zwischen Mutterrolle und Lehrberuf fast zerbricht, landet in einem Schlaflabor, weil sie seit Jahren nicht mehr zur Ruhe kommt und nachts nicht in den Schlaf findet. Janis ist die Nachtwache in ebendieser Klinik, lebt in einem selbstgewählten Rhythmus fernab vom Gewohnten aber auch fernab von echter Nähe. Als sich die beiden in einer Nacht begegnen, beginnt eine leise, aber intensive Freundschaft, die beiden den Anstoß gibt, eingefahrene Wege zu hinterfragen.
Was mich besonders überzeugt hat, ist die große Authentizität der beiden Hauptfiguren. Man merkt sofort, dass die Autorin ihnen mit viel Empathie und einem genauen Blick begegnet. Die Themen, die sie aufgreift sind Schlaflosigkeit, Erschöpfung, gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, aber auch die heilende Kraft echter Verbundenheit. Und dies nah an der Lebensrealität vieler Lesender. Dabei gelingt es der Autorin, all das weder dramatisch aufzubauschen noch zu verharmlosen. Stattdessen bleibt sie ganz nah bei ihren Figuren und gibt ihnen Raum, sich zu entwickeln.
Sprachlich ist der Roman ruhig und unaufgeregt, klar und sehr stimmig und in einer besonderen Weise fesselnd. Sehr überzeugend fand ich die Verbindung von inneren Zuständen und dem Motiv des Schlafs, der Schlaf als Sehnsuchtsort, als Spiegel der Seele, als Symbol für Loslassen oder Festhalten.
Ein stilles, eindringliches Buch über Erschöpfung, Aufbruch und die Kraft unerwarteter Begegnungen. Für alle, die sich manchmal selbst verlieren und wiederfinden wollen. Eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 10.06.2025
Berkel, Christian

Sputnik


ausgezeichnet

In „Sputnik“ erzählt Christian Berkel die Lebensgeschichte eines Mannes, der auf der Suche nach seiner Identität ist, erzählt durch die Stimme seines fiktiven Alter Egos Sputnik. Geboren im Jahr 1957, zur Zeit des Starts des sowjetischen Satelliten, wird Sputniks Leben von familiären Spannungen, historischen Ereignissen und der eigenen künstlerischen Entwicklung geprägt. Der Roman gliedert sich in drei Abschnitte.
In der Kindheit lebt Sputnik mit seiner Mutter Sala, einer Halbjüdin mit von den Nazis geprägter Vergangenheit, und seinem Vater Otto, einem ehrgeizigen, aber strengen Arzt. Die Nachwirkungen von Krieg und Exil lasten schwer auf der Familie und prägen Sputniks frühes Leben. Früh fasziniert vom Theater, erwacht in ihm der Wunsch, Schauspieler zu werden.
Als junger Erwachsener zieht es ihn nach Frankreich, ein Sehnsuchtsort, an dem er Freiheit und Zugehörigkeit sucht. Doch auch dort bleibt er ein Fremder. Diese Erfahrung bringt ihn zurück nach Berlin.
Im dritten Teil schildert Sputnik seinen Weg als Schauspieler in Deutschland. Zwischen Proben, Regiekonzepten und privaten Beziehungen verschwimmen die Grenzen zwischen Bühne und Realität. Immer wieder taucht die Vergangenheit auf, in der Familie, im Erbe der Eltern, in alten Freundschaften. Die Grenze zwischen Fiktion und Biographie verschwimmt. Was war wirklich? Was ist Erinnerung? Was Fiktion?
Die Schilderungen der Kindheit sind atmosphärisch und berührend. In der Mitte verliert das Buch für mich etwas seinen Fokus. Die Ausflüge in Drogen- und Sexualerfahrungen wirken stellenweise unnötig ausgedehnt und hätten nicht in dieser Detailliertheit erzählt werden müssen. Das wirkt eher distanzierend, vielleicht weil genau hier deutlich wird, wie sehr Berkel sich über sein Alter Ego Sputnik auch schützt.
Der Roman ist weniger eine klassische Erzählung mit stringenter Handlung als vielmehr ein Versatzstück aus Erinnerungen und Reflexionen. Besonders eindrucksvoll gelingt es Berkel, seine Sprache klar und zugleich poetisch zu halten. Man spürt seine Erfahrung als Schauspieler in den Bildern, in der Beobachtungsgabe, in der Fähigkeit, auch Unsagbares anzudeuten bzw. auch mal präzise auszusprechen.
Die Begegnungen mit alten Bekannten aus den ersten beiden Teilen der Trilogie „Der Apfelbaum“ und „Ada“ schlagen nachvollziehbare Brücken. Besonders gelungen finde ich die Szene rund um das gemeinsame Schauen der Serie „Holocaust“, in der sich verschiedene Generationen und ihre Sichtweisen auf Vergangenes reiben. Hier blitzt das eigentliche Potenzial des Buches auf, zu zeigen, wie Erinnerung funktioniert, wie sie verhandelt, verteidigt, verschwiegen wird.
Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck. Das Buch ist sprachlich sehr stark, inhaltlich stellenweise aber etwas ausufernd. Bei aller mutigen Offenheit und den teilweise auch mitreißenden Passagen kann mich das Buch im Gegensatz zu den Vorgängerromanen nicht ganz abholen.

Bewertung vom 26.05.2025
Hughes, Siân

Perlen


ausgezeichnet

„Perlen“ ist eine fragmentarische Erzählung über das belastete Leben von Marianne, das durch das Verschwinden der Mutter früh erschüttert wird. Wie Perlen reiht die Autorin Bruchstücke zusammen, welche die Auswirkungen der Ereignisse aus Mariannes Leben zusammensetzen und die Marianne als Erinnerungen durchs Leben treiben. In Rückblicken, aufgereiht wie Perlen, und poetisch verdichteten Erinnerungen folgt der Roman Mariannes Entwicklung von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Sie versucht, mit dem unerklärlichen Verschwinden der Mutter umzugehen, gleichzeitig die Verantwortung für ihren jüngeren Bruder zu tragen und sich in einer Welt zurechtzufinden, die sie zunehmend als fremd empfindet. Besonderes Gewicht erhält das mittelalterliche Gedicht „Pearl“, das Mariannes Mutter liebte und das Marianne später als eine Art seelische Verbindung zu ihr begreift. Die Suche nach Bedeutung, nach Antworten und innerem Halt zieht sich wie ein stiller Strom durch die gesamte Erzählung. Als Marianne selbst Mutter wird, beginnen sich die Bruchstücke ihrer Erinnerung und die offenen Fragen zu fügen.
Was bleibt von diesem Leben nach dem großen Verlust, prägt dieses melancholische Buch, das durch die beschriebenen Erinnerungen in sich wirkt, fast leisetretend, mit Zwischentönen. Die Autorin kommt ohne Drama aus, schreibt zurückhaltend und dezent. Die feine Sprache, die Stimmungen fast ziseliert, lassen mich beim Lesen schwimmen und mich treiben in der Geschichte. Die Charaktere sind ausnahmslos glaubwürdig herausgeschält, mit großer Sensibilität und psychologischer Tiefe.
Rundum lesenswert!

Bewertung vom 30.04.2025
Suter, Martin

Wut und Liebe


ausgezeichnet

Martin Suter ist einer der größten Erzählkünstler und er beweist dies mit seinem neuen Roman erneut. Wieder legt er ein Werk vor, das eigenständig für sich steht und welches ähnlich wie zuletzt „Melody“ wendungsreich und unaufgeregt erzählt. Das Buch bewegt, macht nachdenklich und bleibt auf angenehm unspektakuläre Weise spannend.

Als seine große Liebe Camilla ihn verlässt, weil sie ihn und seine brotlose Kunst nicht weiterhin zu finanzieren gedenkt, stürzt Noah in eine tiefe Krise. Camilla sucht ihr Glück in einem Leben, das Wohlstand und Sicherheit verspricht. Noah, verlassen und verzweifelt, trifft auf Betty, eine wohlhabende, ältere Witwe, die sich nicht nur nach Trost, sondern auch nach Rache sehnt. Aus dieser Begegnung entwickelt sich ein riskantes Arrangement, das Noahs ohnehin schon wackeliges Leben endgültig ins Wanken bringt.

Suters Stil ist gewohnt präzise und gelassen. Er erzählt die Geschichte mit ruhiger Hand, aber großer innerer Spannung. Die Zerrissenheit des Protagonisten Noah und seiner Bekanntschaft Betty pflegt der Autor sprachlich sehr gut aus, so dass sie in ihren Schwächen glaubhaft dargestellt sind. Die beiden starken, widersprüchlichen Gefühle Wut und Liebe bleiben immer zwei Seiten der Medaille und werden von Suter zugleich so aufbereitet, dass sie in ihrem Vermögen stark zu binden bedeutsam werden.

“Wut und Liebe“ ist vielleicht nicht Suters raffiniertester Roman, aber sicher einer seiner unterhaltsamsten. Zwischen leiser Melancholie und scharfsinnigem Witz changierend, zeichnet er ein Bild von Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben und davon, wie leicht man sich auf diesem Weg selbst verliert.