Von Müttern und Töchtern und über das Schweigen – welch eine ergreifende Geschichte, die den Bogen spannt zwischen 1943 und 2019
Darum geht es
Als Laura in den Papieren ihrer gestorbenen Großmutter Änne ein Bild und weitere Papiere findet, stellt sie schmerzlich fest, wie wenig sie von der jungen Änne weiß. Und weil sie keine Fragen mehr stellen kann, fährt sie nach Schlesien, zu dem Geburtshaus von Änne. In einer zweiten Ebene erzählt Miriam George, wie es damals gewesen war, in Schlesien, im Krieg, auf einem der ehemals reichen Gutshöfen. Änne ist gerade mal 17 Jahre alt, als sich alles ändert.
Mein Eindruck
Ein Buch, das ich schwer weglegen konnte. Laura wandelt auf den Spuren ihrer Großmutter und sucht Antworten, die ihr erklären, warum ihre Großmutter ist, wie sie war. Auch, um ihrer Mutter Ellen bei der Trauerarbeit zu helfen. Und während ich mit Laura über den fast verlassenen Gutshof laufe, kommt der geschickte Schnitte zu der jungen Änne und ihrer Lebensgeschichte, die sich 1943 so dramatisch ändert.
Beide Ebenen sind geschickt miteinander verwoben, voller Geheimnisse, die sich erst am Ende klären. Einem Ende, das sich logisch, aber doch überraschend entwickelt.
Fazit
Der Blick in die Kriegszeit in Schlesien hat mich beeindruckt. Das immer wieder unterschwellig angedeutete Schweigen über diese Zeit sind mir wohlvertraut. Es lohnt sich, zu Fragen, solange es noch Zeit ist.
Ein absolut lesenswertes Buch.
Eine Mutter-Tochter Geschichte zwischen Japan und Deutschland, Erinnerung und Vergessen
Darum geht es:
Eine letzte Reise nach Japan plant die Tochter Aki für ihre demente Mutter Keiko, denn ihre Großmutter, Keikos Mutter, ist gestorben. Vielleicht, so hofft sie, findet ihre Mutter Ruhe und die eine oder andere Erinnerung. In der Vorbereitung der Reise blickt sie auf das nicht einfache Leben ihrer Mutter zurück, zwischen japanischer Kultur und deutschen Schwiegereltern.
Mein Eindruck:
Die Geschichte entwickelt sich leise und langsam, wechselt von dem Jetzt, in dem Aki mit ihrer dementen Mutter Keiko die Reise nach Japan, in das Heimatland ihrer Mutter plant, zum Gestern, wo die Vergangenheit ihrer Mutter erst in Japan und dann in Deutschland beschrieben wird.
Die schwierige Tochter – Mutter Beziehung wird ebenso unaufgeregt erzählt wie die Erlebnisse und Begegnungen in Japan. Über allem schwingt die zunehmende Demenz und die tiefe Traurigkeit, die Keiko schon lange in sich trägt.
Das Leben von Keiko, das sie wohl immer mehr vergisst, entblättert sich so vor den Augen. In einer bildreichen, beeindruckenden Sprache zeigt Yuko Kuhn dieses nicht einfache Leben und insbesondere das Jetzt in der Demenz, wie es Aki beobachtet: »Ich frage mich, ob sich aus den Puzzleteilen, die sie entdeckt, zumindest für einen Moment eine Erinnerung zusammensetzt, bis sie sich etwas anderem zuwendet und ihre Geschichte wieder in alle Himmelsrichtungen auseinanderfliegt.«
Fazit:
Ein Einblick in die japanische Kultur und in eine fortschreitende Demenz, ruhig erzählt. Für mich eine interessante Lektüre, die mir das Land und die Kultur Japan näher brachte. Alles in allem für mich aber zu unaufgeregt erzählt, dennoch für Japan-Interessierte durchaus lesenswert und ein bemerkenswerter Einblick in das Thema Demenz.
Wenn das eigene Kind unerwartet stirbt; literarisch exzellent, aber nur mit starken Nerven und guter Laune ertragbar
Darum geht es
Familie Stenger ist nicht nur von außen betrachtet eine glückliche Familie. Die lebensfrohe Sofie, der hilfsbereite Vater, eine fürsorgliche Mutter. Bis Sofie bei einem Konzert durch einen Anschlag das Leben verliert. Wie damit umgehen in einer digitalen Welt, in einer Welt voller Ressentiments und Vorurteilen? Eine Zerreißprobe für die Eltern und die Gesellschaft.
Mein Eindruck
Ich habe geweint. Mindestens die Hälfte des Buches über. Jan Costin Wagner schafft es eindrücklich, diesen unfassbaren Verlust in Worte zu fassen, die Trauer, die Gedanken der Familie und der Freunde von Sofie werden so greifbar, fast nicht zu ertragen (für mich als Mutter).
Und dann dringen immer wieder die Meinungen der Gesellschaft in diese Trauer. Ein erschreckender, realer, sozialkritischer Blick, der sich in die Geschichte mischt. Teilweise übergriffig. Kann man der Familie des Täters so begegnen?
Fazit
Die Folgen einer unbegreiflichen Tat und die Hinterbliebenen gehen unterschiedlich mit ihrer Trauer um. Ein literarisches Kunstwerk, das mir tief unter die Haut ging. Am besten zu lesen, wenn man danach jemanden in den Arm nehmen kann. Aber zu 100% lesenswert.
Eine Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn und auf der Reise zu sich selbst
Darum geht es
Sieben Jahre schon ist Torran in Indien verschwunden und Anne, seine Mutter auf der Suche nach ihm. Dafür hat sie ihren Mann und ihr Heim aufgegeben und verteilt -immer wieder- Plakate in den indischen Dörfern, wo Torran vielleicht gesehen worden sein könnte. Da findet ihre Nichte eine Spur und gemeinsam machen sie sich auf die hoffentlich letzte Suche nach Torran in die indische Bergwelt.
Mein Eindruck
Die Ungewissheit kann einem den Atem nehmen, so empfinde ich die Teile aus Annes Sicht. Ich begegne ihr an einem Wendepunkt, an dem sie langsam überlegt, ob sie die Hoffnung aufgibt. Sie begegnet in Masuri Liam, der als Rucksacktourist und Vogelzeichner unterwegs ist. Er malt ihr einen Purpurnektarvogel, einen »sunbird«. Die Doppelbedeutung wird erst später offensichtlich.
Die Sprache von Penelope Slocombe ist bildgewaltig, farbenprächtig und zeichnet ein buntes Bild von dieser besonderen Gemeinschaft, die in Indien ihr Heil sucht: die Rucksacktouristen, die Feiernden, die Suchenden und die Verlorenen.
Und mir ganz unbekannt: die Fälle von verschwundenen Personen, die sich laut der Autorin Anfang der 1990iger Jahre häufen.
Fazit
Die Trauer und die Suche von Anne geht einem ans Herz. Sie auf dieser letzten Spur zu begleiten durch augenscheinlich wunderbare Natur gleicht einer Urlaubsreise und einer Trauerbegleitung zugleich. Für Liebhaber von Indiens Bergwelt, für Rucksacktouristen (oder zur Warnung) und für berührende Lesestunden.
Ein Buch über Grausamkeit, Freundschaft, Stärke und das Leben
1944 in Norwegen. Die deutschen Nazis haben das Land besetzt und Gefangenen- und Zwangsarbeiterlager eingerichtet. Einige Norweger dienen sich der deutschen Besatzung an, manche übernehmen die brutale Gesinnung, andere engagieren sich im Widerstand. Die junge Birgit zieht von Oslo in den Norden, um als Krankenschwester zu arbeiten. Sie freundet sich mit Nadia an, die aus der Ukraine von den Deutschen verschleppt wurde und nun in der Fischfabrik schuften muss. In dem Krankenhaus, in dem Birgit arbeitet, hilft eine Widerstandsgruppe, u.a. geflohenen, russischen Kriegsgefangenen und sie schließt sich der Gruppe an.
Ungefähr zwei Drittel des Buches erzählen von den letzten Kriegsjahren 1944/45 in der nordnorwegischen Kleinstadt. Der ruhige, aber intensive Erzählstil und die Charakterisierung von Nadia und Birgit und von vielen anderen Personen machen diese schwierige Zeit (be-)greifbar. Sowohl die leisen Töne zwischenmenschlicher Annäherung als auch die brutale Realität unter der Besatzung ziehen mich in die Geschichte hinein und machen sie lesenswert.
Die Erfahrungen der Frauen in der Kriegszeit prägt auch ihr Nachkriegsleben. Davon erzählt das letzte Drittel des Buches, das mich trotz der eindrücklichen Erzählweise nicht wirklich fesseln konnte. Hier flacht der Spannungsbogen meiner Meinung nach ab, die Geschichte wirkt konstruiert und an mancher Stelle vorhersagbar. Wobei ich die Geschehnisse, die geschildert werden (und die ich nicht spoilern möchte), für glaubhaft und in der damaligen Zeit realistisch halte.
Umrahmt wird die Erzählung von Birgit durch Prolog und Epilog in der Jetzt-Zeit (den ich nicht gebraucht hätte), der an die anderen Bücher von Trude Teige anknüpft, insbesondere an »Als Großmutter im Regen tanzte«, in dem die Geschichte von Birgits Freundin Tekla in den Kriegsjahren erzählt wird. So ist es folgerichtig, dass auch in »Wir sehen uns wieder am Meer« im Regen getanzt wird.
Mein Fazit: ein bedrückendes und wichtiges Buch über das Entsetzliche, was Menschen anderen Menschen antun können und ein Plädoyer für die Freundschaft und das Leben. Oder wie es Birgit sagt: »Aber das Leben ist nicht nur das, was geschehen ist. Es ist auch das, was geschieht und noch geschehen wird.«
Für das Hörbuch kann ich sagen: Die angenehme Stimme von Yara Blümel unterstützt die Geschichte.
Darum geht es
Um nichts. Wala Kitu ist Mathematiker und beschäftigt sich mit dem Nichts. Der Millionär John Sill spielt nicht nur den Schurken, den Bösewicht a la Dr. No, sondern er ist es auch. Und schurkenmäßig will er als Nächstes in Fort Knox eindringen, wo das Gold der USA lagert (wobei Gerüchte sagen, dass es da nicht liegt). Aber Sill will nicht das Gold, sondern das Nichts, das dort ebenfalls lagern soll.
Um damit umzugehen, engagiert er Kitu, der ihn in den kommenden Wochen begleiten muss.
Mein Eindruck
Gerade am Anfang wirft Kitu bzw. der Autor Percival Everett mit mathematischen Philosophien und Mathematikern nur so um sich. Wer dies nicht versteht, weil ihm der mathematische Hintergrund fehlt, sollte stoisch weiterlesen, sie erhöhen nur den Reiz der Geschichte für die Wissenden. Ansonsten liest sich diese Schurkengeschichte kurzweilig und unterhaltsam. Der Schurke ist böse, wie ein James Bond Schurke zu sein hat. Der introvertierte Mathematiker taut langsam auf und sorgt sich um die Folgen, was denn passiert, wenn man das Nichts auf die Menschen anwendet.
Wortspiele oder besser gesagt: Missverständnisse gibt es zuhauf, Tote auch.
Fazit
Eine mathematische Fachsimpelei über die Frage, was nichts ist. Gepaart mit einer Schurkengeschichte, geschrieben in einer herrlich pfiffigen Art, die mich immer wieder schmunzeln lässt. Mir hat es sehr gefallen.
20000 Elefanten in Berlin – ein unwillkommenes Geschenk schlägt politische Wellen
Darum geht es
An einem Tag tauchen in Berlin afrikanische Elefanten auf. Nicht einer, nicht zwei, sondern 20000 Elefanten hat ein afrikanischer Staat der Regierung in Berlin geschenkt, weil sie sich mit einem Gesetz gegen das Töten von Elefanten in die staatseigenen Geschäfte einmischen. Denn in dem afrikanischen Staat sind die Elefanten eine Plage.
Nun also auch in Berlin. Die Koalition, die auf wackligen Beinen steht, und insbesondere ihr Kanzler, müssen sich damit auseinandersetzen, denn die Elefanten dürfen nicht eingesperrt und erst recht nicht getötet werden.
Mein Eindruck
Welch ein Einstieg in das Buch: da badet ein Elefant in der Spree. Ich mochte die Grundidee, einfach mal Elefanten in Berlin auszusetzen. Das Drama nimmt in der Stadt seinen Lauf und immer wieder begegnen mir Elefanten.
Die Geschichte ist rund und leicht erzählt, die Ideen sind intelligent und erschreckend pragmatisch. Gaea Schoeters ist mit »Das Geschenk« eine unterhaltsame Lektüre gelungen, die pointiert die Politiker zeigt, die mit dieser befremdlichen Situation umgehen müssen. So fragte ich mich im Verlauf des Buches immer mehr, mit welchen Elefanten wir heute umzugehen haben.
Fazit
Mit knapp 140 Seiten ist dieses Buch kurzweilig und hat doch Tiefgang. Politische Unterhaltung auf hohem Niveau.
Ein toter Arbeiter in den Ziegelwerken – Mord oder sozialistische Verschwörung?
Wien, 1881: In den Ziegelwerken wird ein Toter gefunden. Obwohl sich der Täter stellt, befürchtet der Polizeipräsident eine sozialistische Verschwörung. Gerade erst wurde der Zar bei einem Attentat getötet und die Hochzeit des österreichischen Thronfolgers steht kurz bevor. Nicht auszudenken, wenn hier in Wien ein Anschlag geplant würde. Er setzt seinen Sonderermittler Leopold Kern auf den Fall an.
Kern, immer noch vom offiziellen Polizeidienst suspendiert, kehrt dahin zurück, wo er nie wieder sein wollte: zum Wienerberg, in die unmenschliche Welt der Lehmziegelwerkstätten, in der er in seiner Jugend geschuftet hat.
Der Krimi beschreibt eindrücklich die Verhältnisse, unter denen die Arbeiter damals lebten und die Ziegel herstellten. Die wienerischen Ausdrücke verleihen der Geschichte einen historischen und österreichischen Charme, der einen gleich in die Zeit und nach Wien versetzt. Zahlreiche, detaillierte Ortsbeschreibungen geben Orientierung in der Stadt. Die Ermittlungen wenden sich, neue Aspekte tauchen auf, Altes muss anders bewertet werden. Der Showdown am Ende ist gut vorbereitet und ebenso spannend geschrieben wie das ganze Buch.
Alles in allem ein historischer Krimi, der tief in die Realität der Arbeiter um 1881 eintaucht und mit einer Geschichte voller Wendungen glänzt.
Benutzer