Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Willy Birn
Wohnort: 
Frankfurt

Bewertungen

Bewertung vom 26.03.2009
Wen du liebst
Rudorf, Sonja

Wen du liebst


ausgezeichnet

Wer vom Altkönig (so heißt einer der höheren Berge des hessischen Mittelgebirges namens Taunus) auf Frankfurt am Main blickt, dem kann die Stadt mit ihren aus der Rhein-Main-Ebene wachsenden Hochhaustürmen wie das Urbild von Stadt, wie ein gigantisches San Gimignano erscheinen. Doch wie die dreizehn mittelalterlichen Türme in jenem toskanischen Städtchen wenig von städtischer Zivilisation, sondern vor allem vom eifersüchtigen gegenseitigen Belauern der Ehrbarkeit zeugen, so stößt auch Ruth, Protagonistin in Sonja Rudorfs neuem Roman "Wen du liebst", rasch an die Grenzen der Metropolenanonymität. Kaum fand sie, herabsteigend aus dem Taunus, in Frankfurt die amuour fou ihres Lebens (ausgerechnet in der Kirschtortenbar eines Kindertheaters), da wird aus dem Getriebe der Großstadt ein Theater des Überwachens und später auch, wie sich zeigen wird, des Strafens. Die sozusagen verlängerte Wohngemeinschaft, die sie sich mit bester Studienfreundin, Gatten, Ehemann der Freundin und ein paar Kindern in einem Taunusdörfchen eingerichtet hat, entpuppt sich zu einem Vieleck ungeahnten, eifersüchtigen Begehrens und am Ende eingestanden Scheiterns an unbedingter Leidenschaft samt der angedeuteten Möglichkeit eines schmalen (oder ist es ein schaler) Trostes, eines Entkommens.
Der Roman ist ungemein tempo- und spannungsreich geschrieben, voller überraschender, verblüffender Perspektivenwechsel, setzt den ja gar nicht so seltenen Versuch, es in der Mitte des Lebens noch einmal zu versuchen (wozu reifer, auch scharfer Sex ohne Zweifel dazugehört), und kündet nicht zuletzt von der Fähigkeit der Autorin, den Charme, aber auch die Öde so manchen Ortes in Frankfurt und Umgebung zu skizzieren. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: "Wen du liebst" ist kein Heimatroman, dennoch hat er Lokalkolorit, und das trägt zu seiner Lebendigkeit bei. Die Schilderung eines Jahresballs des Tennisclubs im Taunusdörfchen samt anwesendem Dorfpriester, der seine Finger nicht von den offenbar wohlgestalten Hüften der Protagonistin lassen kann, hat regionalspezifische wie allgemeingültige Qualitäten. Und die Szene, wie zwei der Romanfiguren in einem trostlosen Arbeitszimmer Photos von der Verzückung der Romanheldin im Computer entdecken, jener Verzückung, die sie eben gerade nicht mit ihnen teilt, das hat etwas Herzabdrückendes.
In Frankreich ist der Roman "Die Prinzessin von Clèves" aus dem Jahre 1678 wieder in den Mittelpunkt des literarischen Interesses gerückt. Wenn man alle Proportionsunterschiede gebührend berücksichtigt, dann steht Rudorfs "Wen du liebst" in dieser Tradition der psychologischen Literatur, auch wenn die Konsequenzen, die von den Romanfiguren aus ihren Leidenschaften gezogen werden, bei Rudorf gänzlich anders sind. Soll man sagen: zeitgemäßer?

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.