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UWD
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Bewertung vom 06.08.2020
Das Tagebuch der Menschheit
Schaik, Carel van;Michel, Kai

Das Tagebuch der Menschheit


schlecht

Weder Aufklärung noch Wissenschaft

Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel beanspruchen in ihrem Buch Das Tagebuch der Menschheit erstmals offen zu legen, was die Bibel über die Evolution des Menschen im Allgemeinen verrät.
Seit der Epoche der Frühen Neuzeit und Aufklärung haben jüdische und christliche Theologen mühsam gelernt und gegen Widerstände durchgesetzt, die hebräische Bibel und das christliche Neue Testament mit den ausgefeilten kulturwissenschaftlichen Methoden der Archäologen und Historiker sowie mit den geisteswissenschaftlichen Methoden der Philologen und Theologen zu studieren und zu interpretieren. Aber jetzt maßen sich ein Naturwissenschaftler und ein Historiker an, die hebräische Bibel der Juden und das Neue Testament der Christen nicht mehr im Kontext der doch bereits recht gut bekannten Geschichte des Alten Israel zu entschlüsseln und zu verstehen, sondern ihnen ein nur allzu simples einheitliches evolutionsbiologisches und anthropologisch Modell der Stufen der Entwicklung “des Menschen” im Allgemeinen überzustülpen.
Niemand wird bezweifeln, dass dadurch ein kunterbuntes Potpourri an interessanten Gedanken und “Perspektiven” herauskommen kann. Denn ein so inhaltsreiches und vielschichtiges Buch wie die Bibel generiert auch noch dann eine ganze Fülle von interessanten Gedanken, wenn sie anhand eines allzu simplen anthropologischen Schemas gelesen wird. Aber dabei handelt es sich dann nicht mehr wie zuvor um historisch-kritische Mutmaßungen von hoher Wahrscheinlichkeit, sondern um bloße evolutionistische Spekulationen.
Dass der Evolutionsbiologe Carel van Schaik keine Ahnung von der historisch-hermeneutischen Erforschung der Bibel hat, ist verzeihlich, denn schließlich ist er nicht vom Fach. Aber dass der Historiker Kai Michel sich für ein solches fragwürdiges populistisches Buchprojekt hergibt, ist kaum verzeihlich. Gewiß, man wird es wohl damit erklären können und verstehen müssen, dass er an einen lukrativen Bestseller mitarbeiten wollte, der innovativ und sensationell zu sein verspricht. Aber der inhaltliche Ertrag ist weder aufklärerisch und wissenschaftlich, sondern ideologisch und populistisch ist. Denn da fehlen erkenntniskritische Skepsis und methodische Selbstkontrolle.
Pseudowissenschaftliche Bücher gibt es zuhauf und mit in diesem populären Genre lassen sich leichter Bestseller produzieren als mit seriöser Wissenschaft. Das Lob des angesehenen empirischen Anthropologen Tomasello mag die potentiellen Käufer beeindrucken, aber es ist keinen Pfifferling wert, da vermutlich von historisch-kritischer Erforschung der Bibel ebenfalls keine Ahnung hat. Der evangelische Kirchenhistoriker und Religionstheoretiker Friedrich Wilhelm Graf hingegen hätte es besser wissen müssen. Er hätte bemerken und bedenken müssen, dass die beiden Autoren mit ihrem populistischen Machwerk den Juden die Deutungsmacht über ihre hebräische Bibel und den Christen das primäre Interpretationsrecht für ihr Neues Testament bestreiten. Wer den Juden die Deutungsmacht über ihren Tanach nimmt, greift sie jedoch frontal an. Und das ist in Zeiten eines anwachsenden Antisemitismus in fast ganz Europa ungeheuerlich. Das Existenzrecht Israels würde sich dann aber auch kaum noch halten lassen, da es auf dem parochialen Narrativ des Exodus der Hebräer basiert.

4 von 10 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.