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Benutzername: 
Jarmusch
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 9 Bewertungen
Bewertung vom 04.12.2012
Schwarzer Frost
Wonschewski, David

Schwarzer Frost


ausgezeichnet

Um es vorweg zu sagen: „Schwarzer Frost“ vom Berliner Romandebütanten David Wonschewski ist nichts für Unbedarfte. Der Leser wird mit einem Ich-Erzähler konfrontiert, der sich um Kopf und Kragen psychologisiert; seine Gedanken springen, zirkulieren, wiederholen sich. Das ist manchmal jenseits von Gut und Böse: Da ist jemand, der nicht aus sich heraus kann und der Leser steht nun 238 Seiten lang in einem sehr unheimlichen Gedankendschungel. Soll er einen depressiven Menschen nüchtern beim Untergehen beobachten? Oder soll er sich ärgern über diesen Protagonisten, der seine Freundin schlägt und sich in Übertreibungen flüchtet, die die Banalität seines Lebens umso deutlicher hervorstechen lassen?
Dabei erinnern die Erzählstrategie (und auch das Thema) an die Kurzgeschichte „Die depressive Person“ von David Foster Wallace. Insbesondere die enervierende Selbstbespiegelung, die latente, aber stets relativierte Aggressivität des offenbarten Selbstmitleids treffen sowohl auf Wallaces wie auch auf Wonschewskis Erzählerfigur zu. Verstörend einfach gelingt es „Schwarzer Frost“, den Gedankenkosmos einer gestörten Persönlichkeit für den Leser plausibel zu erschließen. Und wie bei Wallace auch werden keine Kompromisse an Lesegewohnheiten gemacht. Das ist teils anstrengend, teils herausfordernd, aber wer dran bleibt und sich darauf einlässt, der erfährt etwas über die Brüchigkeit und Pathologie eines Menschen, „der ein Mörder sein könnte“. Wer an Wallace und ähnlich Gestrickten Gefallen findet, sollte sich „Schwarzer Frost“ nicht entgehen lassen.

Bewertung vom 29.11.2012
RUHM!
Keck, Andreas

RUHM!


ausgezeichnet

Andreas Kecks neuer Roman „RUHM!“ kümmert sich nicht darum, was genau Franz Kappa berühmt gemacht hat. In der Mitte des Romans, nachdem man den ambitionierten Kunststudenten über hundert Seiten auf seiner Suche nach Erfolg begleitet hat, klafft eine zeitliche Lücke; dann die Erkenntnis: Franz Kappa ist berühmt, seine Kunstaktionen finden internationale Aufmerksamkeit. Der „RUHM!“ hat Einzug gehalten in Kappas Leben - und doch liest sich der als Künstler anerkannte Protagonist genau wie sein Pendant aus Studienzeiten. Genau darin liegt Kecks Meisterstreich: Er setzt den gleichen Menschen zwei verschiedenen Testbedingungen aus und dokumentiert das Ergebnis.
Dass dieses Experiment gelingt, liegt vor allem an seinem ungewöhnlich plastischen Versuchskaninchen: Beeindruckend leicht ist es, sich in Franz Kappa einzufühlen, wenn er über seinem Mangel an Erfolg schier verzweifelt, nur um sich im nächsten Moment wieder aufzuraffen; wenn er sich abmüht, künstlerischen Antimaterialismus mit seinem bequemen Lebensstil zu vereinen. In diesen Momenten ist Franz Kappa einem am nächsten, weil Keck in ihm erkennen lässt, was wir alle im Grunde sind: Selbst ernannte Individuen im Spannungsfeld zwischen Sorglosigkeit und Profilierungsdrang. Auch in der Liebe ist Kappa zweierlei Kräften ausgesetzt: Auf der einen Seite seine Freundin Iana, Model und scheinbar kulturimmun, auf der anderen ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Olga, deren sanfte, poetische Art Franz‘ Bindung an Iana zunehmend zermürbt.
Mit seinem klaren Erzählstil aus Kappas Perspektive sorgt der Autor für Identifikationspotenzial, mit seiner neutralen Wiedergabe sämtlicher Dialoge den nötigen Raum für Reflektionen.

Denn ist es Kunst, was dieser Franz Kappa macht? Und was unterscheidet bei aller Kontinuität den jungen und den etablierten Kappa voneinander? Bereitwillig öffnet man ersterem sein Herz und verstößt ihn mit Anbruch der zweiten Hälfte so instinktiv wieder, dass es gut hundert Seiten braucht, bis das Zünglein an der Waage gefunden ist: die Selbstverständlichkeit, mit der Kappa nun jeden Auswurf seiner Kreativität – mit ausdrücklicher Zustimmung des Publikums – als Kunst deklariert, ohne jemals zu hinterfragen.
Ob es das letztlich nicht doch ist, darüber lässt sich mit Sicherheit ergiebig streiten und diskutieren. Was aber außer Frage steht, ist die enorme Weiterentwicklung, die Keck mit seinem zweiten Roman unter Beweis stellt. Im Vergleich zum Debütroman „Schneeblind“ ist „RUHM!“ sprachlich diffiziler, thematisch universeller – und vor allem weniger greifbar: Die Paraphrase wird dem Roman nicht gerecht. Man muss ihn lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.11.2012
Eimerduschen, m. 1 Audio-CD
Rescue, Robert

Eimerduschen, m. 1 Audio-CD


ausgezeichnet

Ein wenig skeptisch war ich ja doch bei diesem Titel: „Ein Opfer packt aus“. Man kennt ja diese Romane, die das Opferdasein ihrer wehleidigen Protagonisten schonungslos ausweiden und letztlich vom Sadismus des Lesers leben. Aber in „Eimerduschen“ geht es nicht um die größtmögliche Anzahl an Unfällen & Missgeschicken pro Seite. Im Gegenteil:

Extrem lakonisch schildert Robert Rescue, Berliner Lesebühnenautor, aus der Ich-Perspektive allzu menschliche Alltagssituationen aus dem Wedding. „Das ist doch dieser Berliner Slum, wo nur Arbeitslose und sonstige Gescheiterte ihr Dasein fristen“, wird es Rescues „Protagonisten“ an den Kopf geworfen. Er bejaht.

Gemeinsam haben all die Geschichten, egal ob sie im Jobcenter, auf der Straße oder im trauten Heim spielen, dass der Autor nicht allzu gut darin wegkommt – ein „Opfer“ zwar, aber dessen Erlebnisse so trocken heruntererzählt, dass man
1) beinahe daran zweifeln könnte, dass dem Autor an einer humoristischen Wirkung gelegen ist und man
2) nicht glauben kann, dass irgendetwas in diesem Buch nicht 1:1 so passiert ist, selbst das unfreiwillige Gespräch mit zwei Auftragskillern nachts im Hof.

Rescue verfällt nicht in ein plattes Schema. Seine Opfergeschichte haben genug Ecken und Kanten, trainieren die Lachmuskeln; und ganz nebenbei jubelt er seinen Lesern ein, zwei Geschichten unter, die auf den zweiten Blick weniger lustig als vielmehr äußerst menschlich sind.

Meine Empfehlung für alle, die Robert Rescue noch nie live gesehen haben: Erst die CD anhören. Mit der unvergleichlich stoischen Vortragsweise im Ohr ist jeder Text auch beim Selberlesen besser.

Bewertung vom 29.11.2012
CKLKH Fischers Grosse Kannibalenschau
Fischer, Christian

CKLKH Fischers Grosse Kannibalenschau


ausgezeichnet

Um 1900 hatten Franzosen, Engländer und sogar Holländer und Belgier die „Bürde des weißen Mannes“ auf sich genommen und sich ihren Platz an der Sonne gesichert, indem sie allerlei Kolonien „gründeten“. Selbstverständlich wollten auch die Bismarckdeutschen am Hype um Tabakplantagen, Christusverbreitung und Handabhacken teilhaben. Plötzlich gab es exotische Früchte zu kaufen, exotische Tiere konnte man in den überall entstehenden Tierparks bewundern – und die passenden (oder passend gemachten) exotischen Menschen noch dazu.
Genau diese Völkerschauen thematisiert CKLKH Fischers „Große Kannibalenschau“. Der Coup seiner fiktiven Geschichte mit teilweise realem Personal besteht in der Herauslösung der Zurschaugestellten aus ihrem Opferstatus. Die von Heinrich Hermann mittels Vertrag von Deutsch-Neuguinea in den Hamburger Zoo gelockten „Kannibalen“ pochen plötzlich mithilfe zweier Anwälte auf die Einhaltung eben dieses Vertrages. Der Leser verfolgt in zwei zeitversetzten Erzählsträngen Hermanns Reise nach Deutsch-Neuguinea und den weiteren, durchaus komischen Verlauf dieser unerhörten Situation. Das Herz der Finsternis lauert dabei nicht im Dickicht neuguinesischer Mangrovenwälder, sondern inmitten der vermeintlichen Zivilisation. Die ständig beschworenen Werte und überlegenen Sitten werden durch die Handlung unterminiert – vor allem, wenn etwa der Anblick der doch sehr menschlichen Rundungen der Wilden bei den Bürgerinnen und Bürgern stets zu Hitzewallungen aller Art führt. Für die sie aber wegen ihrer Konventionen keine Worte finden.

Fischer gelingt es angenehmerweise, ohne erhobenen Zeigefinger eine skurrile Geschichte moralisch zu grundieren. Zu den Höhepunkten zählen sicherlich die Momente, wo sich Deutsche und Kannibalen so recht nicht mehr unterscheiden lassen und sich in ihren jeweiligen vermeintlich angestammten Eigenschaften übertrumpfen. Und so ist die „Große Kannibalenschau“ von CKLKH Fischer einer der besten historischen Romane der letzten Jahre. Wer sich mit der kolonialen Vergangenheit und Mentalität eines untergegangenen Reiches unterhaltsam beschäftigen will, kommt an Fischers „Große Kannibalenschau“ nicht vorbei – muten die Bismarckdeutschen und ihr Gehabe heutzutage doch durchaus exotisch an.
Eine echte Völkerschau eben.

Bewertung vom 28.11.2012
Land, Luft und Leichenschmaus
Sabottka, Thomas

Land, Luft und Leichenschmaus


ausgezeichnet

Eigentlich ist der Bürgermeister mit den Vorbereitungen für die bevorstehende Ankunft der Investment-Gruppe beschäftigt. Doch dann die Schreckensnachricht: Eine Bewohnerin hat einen Eindringling auf ihrem Grundstück mit einem Squash-Aufschlag in den Swimming-Pool befördert. Die Leiche muss verschwinden, bevor der hohe Besuch eintrifft!
So der Auftakt zu „Land, Luft & Leichenschmaus“, dem neuen Roman von Thomas Sabottka, der in einem atemberaubenden Tempo die schöne Fassade eines beschaulichen Dorfes namens Brieskau-Finkenwalde vor dem Leser aufbaut – um sie anschließend mit diebischem Vergnügen Stück für Stück einzureißen. Innerhalb von rund 50 Seiten etabliert der Autor ein gutes Dutzend Charaktere und gibt mit den ersten Toten bereits den Anstoß für die Sisyphos-Arbeit des Bürgermeisters: all die Leichen wieder unter den Teppich zu kehren. Mit der Ankunft eines jungen Mannes, der im Dorf aufgewachsen ist und nun Antworten auf gewisse Fragen sucht, kocht die dunkle Vergangenheit Brieskau-Finkenwaldes wieder hoch: Fremdenhass, Korruption, heimliche Liebschaften, Amoklauf-Pläne, Pädophilie und allerlei sonstige offene Rechnungen. Hinter jeder Haustür lauert ein dunkles Geheimnis, das nach und nach ans Licht drängt.
Gekonnt vermischt Sabottka Mystery-Elemente mit Zutaten des herkömmlichen Heimatkrimis, wodurch das ganz und gar (ost-) deutsche Brieskau-Finkenwalde gelegentlich an einen Stephen-King-Roman gemahnt – bevor der nächste, verlässlich makabere Todesfall wieder die Atmosphäre einer Splatterkomödie heraufbeschwört. Die einzelnen Szenen sind kurz und prägnant wie in einem Blockbuster, was zwar manchen Charakter in seinen stereotypen Eigenschaften belässt, aber dafür einen erzählerischen Sog entwickelt, dem schwer zu widerstehen ist: Während immer mehr Leichen in Kühltruhen, Gräbern und Plastiksäcken verschwinden, fliegen die Seiten vorbei, bis sich die verschiedenen Einzelschicksale in einem Western-artigen Showdown entladen.

Wenn man danach – ein wenig außer Atem – das Buch aus der Hand legt, geht es einem ein bisschen wie nach „Pulp Fiction“: Die Frage, was da jetzt eigentlich passiert ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Denn „Land, Luft & Leichenschmaus“ lässt sich nicht auf eine Geschichte herunterbrechen. Es ist vielmehr eine rabenschwarz zusammengefügte Collage von Einzelschicksalen, von Satiren auf Eingesessene und Zugezogene, Althippies und Gutbürgerliche, Ossies und Wessies. Man könnte auch sagen, es ist eine köstliche Abrechnung – mit fast allem.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.