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Desiree
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Wanne-Eickel

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Insgesamt 138 Bewertungen
Bewertung vom 27.08.2025
Laabs, Laura

Adlergestell


ausgezeichnet

Kurz nach der Wiedervereinigung wird die Erzählerin eingeschult und nicht neben hre Freundin Lenka, sondern neben Charline gesetzt, was das Duo automatisch zu einem Trio macht. Zwischen Aufbruch, Hausaufgaben und Autobahndröhnen des nahen Adlergestells reizen sie die Grenzen der Freiheit aus.
„Adlergestell“ von Laura Laabs inhaltlich zusammenzufassen ist schwer. Es geht um die Vergangenheit, die nahe, aber auch ferne, und es geht um die Gegenwart; vor allem geht es um die vielen verschiedenen Leben, die sich in einer Reihenhaussiedlung bündeln. Es geht ums Kämpfen, ums Rebellieren, und um Freiheit.
Dabei folgen wir nicht nur dem Mädchentrio, sondern auch der erwachsenen Erzählerin. Außerdem kommen ausgewählte Bewohnerinnen der Siedlung zu Wort, unterbrochen von nostalgischer Fernsehwerbung. Das alles schafft eine ganz eigentümliche Stimmung, auf die man sich einlassen muss, was ich sehr gern getan habe. Und da ist eine Ahnung, dass da noch was kommen wird.
Laura Laabs verpasst nicht nur der Erzählerin ihre Eigenarten, auch Lenka und Charline stehen im Mittelpunkt, sowie die Dynamik der Freundinnen, die immer verehrende Ausmaße annimmt. Mit den anderen Figuren, die auch wenn sie nur kurz durchs Bild huschen, genug Fleisch bekommen, um im Gedächtnis zu bleiben, bindet sich ein bunter Strauß an besonderen Charakteren.
Verpackt ist es in eine grandiose Sprache, in Wortkombinationen, die mich aufhorchen ließen; Beobachtungen, die mich in meine Kindheit zurückversetzt haben. Man merkt, dass Laura Laabs vom Film kommt. Sie setzt optische Akzente und weiß, wie sie die Leserschaft bei Laune hält. Manchmal sah ich nur mit halbem Auge hin, wollte eigentlich nicht wissen, was für ein Abgrund sich da wieder im Bürgerlichen auftut. Sie beschönigt nichts, reißt aus der realen Welt, was sie zu packen bekommt und stopft es in den Roman, was es unglaublich authentisch macht und die Gegenwartsszenen an den Puls der Zeit setzt.
Ein Fundstück, dass unbedingt mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte.

Bewertung vom 17.08.2025
Dröscher, Daniela

Junge Frau mit Katze


ausgezeichnet

Ela, aus "Lügen über meine Mutter" ist zurück. Für die inzwischen Frau, die frisch ihre Doktorarbeit abgeben hat, startet eine Odysse. Es beginnt mit Halsschmerzen und Ela verliert nun gänzlich das angeknackste Vertrauen in ihren Körper. Außerdem kann sie es sich gar nicht erlauben, krank zu sein. Sie muss bald ihre Doktorarbeit verteidigen, durch Umstände Japanisch lernen, arbeiten. Über allem schwebt ihre Mutter, wie ein schwarzer Schatten.
Natürlich musste ich "Junge Frau mit Katze" von Daniela Dröscher lesen, nachdem mir der Vorgänger so gut gefallen hat und schon mal vor weg: man kann diesen Roman auch unabhängig lesen oder zu erst. Wie damals bin ich wieder begeistert.
Sprachlich, stilisitisch ist es wieder grandios. Ich liebe Danila Dröschers Art zu schreiben, nahbar, ehrlich, authentisch, komplex, aber gleichzeitig leicht und mit Witz. Das ist auch wieder so, allerdings begrenzt auf Ela, ihren Körper und vor allem auf ihre rätselhaften Krankheiten. Mitunter wurde das herausfordernd.
Ausgesprochen gut gefallen hat mir die Kapitalismus- und Gesellschaftskritik, in die ein kranker Körper einfach nicht reinpasst. Es verdeutlicht, wie wichtig unserer Gesundheit ist und das Vertrauen in diese. Denn Ela hadert sehr, als das Misstrauen in die Medizin, die ihr nicht helfen kann, Überhand nimmt.
Die Mutter spielt augenscheinlich eine untergeordnete Rolle zu spielen, lauert aber immer im Hintergrund, mit ihrem eigenen Verhalten, das auf die Tochter abgefärbt hat und nicht einfach abzulegen ist. Ein wenig schimmert die Studie über Mutter-Tochterbeziehungen durch, allerdings ganz subtil.
Auch die schriftstellerischen Exkurse haben mir super gefallen.
Es ist also anders als "Die Lügen über meine Mutter", Hypohonder sollten es vielleicht mit vorsicht genießen, aber Daniela Dröscher Fans werden auf ihre Kosten kommen.
Nun ist natürlich klar, welches Buch von ihr als nächstes dran ist, nämlich das neu aufgelegte "Der falsche Japaner".

Bewertung vom 09.08.2025
Kuhn, Yuko

Onigiri


schlecht

Aki möchte mit ihrer Mutter, die an Demenz erkrankt ist, nach Japan reisen.
So steht es im Klappentext von Onigiri von Yoku Kuhn. Da ich nur bis Seite 71 gekommen bin und dann etwas entnervt abgebrochen haben, kann ich nicht sagen, wie die Reise verlaufen ist. Bis dahin war es eine schier endlose Aneinanderreihung von Erinnerungen und Beobachtungen von Aki, die meist völlig unzusammenhängend wirkten und die Reise hat noch nicht begonnen. Dies scheint auch der rote Faden zu sein, nur leider nicht eingebettet in einen Plot, der durchaus gegeben wäre, nämlich die Reise nach Japan, in die Vergangenheit der Mutter. Zunächst geht es nur um Aki und wie sie ihre Kindheit in Deutschland verbracht hat. Mal bei ihrer alleinerziehenden Mutter, mal bei ihren deutschen Großeltern. Irgendwann kommen auch Vater und Bruder vor, aber alles sprunghaft, oft gegenüberstellend, à la arm gegen wohlhabend. Gerade dieses hin und her Gehopse, fand ich sehr anstrengend und es hat mich nicht in die Geschichte finden lassen, sondern dazu verführt Passagen schon früh querzulesen.
Mit diesen 71 Seiten habe ich mehr als ein Drittel gelesen und da sollte, meiner Meinung nach, schon mehr passiert sein. Ich verstehe, dass man ein Setting entwerfen und eine Atmosphäre schaffen möchte, aber das kann man durchaus im Voranschreiten der Geschichte, aber vielleicht habe ich auch das Konzept des Romans nicht verstanden, oder es war einfach nicht meins.
Mich sprechen durchaus unaufgeregte Romane an, dann muss es aber sprachlich, also stilistisch abliefern. Doch auch hier hat es mich nicht beeindruckt. Es wirkt wie ein nüchterner, sehr detailreicher Bericht, der keine Emotionen bei mir weckte.
Ich finde es schade, dass der Roman mich nicht abholen konnte. Vielleicht habe ich auch was anderes erwartet. Als Migrantenkind spiegelt es in mancherlei Hinsicht meine eigenen Erinnerungen und Erfahrungen wider; Japan und dessen Literatur habe ich in den letzten Jahren liebe gelernt, aber „Onigiri“ hat mich leider enttäuscht.

Bewertung vom 05.08.2025
Rytisalo, Minna

Zwischen zwei Leben


ausgezeichnet

Jenni verlässt ihren Mann, der nicht mal schafft, die Zahnbürste seiner Affäre wegzuräumen, und damit ihr altes Leben. Eigentlich hielten nur die beiden gemeinsamen Kinder, die Gewohnheit, aber vor allem alte Glaubenssätze Jenni in dieser Vernunftehe. Nun wird sie zu Jenny Hill und tritt den steinigen Weg der Selbstfindung an, zwar mit Unterstützung von emanzipierten Märchenprinzessinnen, aber ohne esoterischen Firlefanz.
„Zwischen zwei Leben“ von Minna Rytisalo hat mich überrascht. Ich hatte einen klassischen Selbstfindungsroman einer Frischgetrennten erwartet und habe etwas aufgeschlagen, was ich nicht so recht benennen kann. Es ist feministisch und kämpferisch, aber auch zart und liebevoll. Durch die weiblichen Märchenfiguren, die wir alle kennen, bekommt es eine ganz besondere Note, denn diese Frauen, die als Paradebeispiel des Weiblichen herhalten müssen und uns geprägt haben, erzählen ihre Geschichten ganz anders. Und sie flüstern Jenny ins Ohr, welchen Lügen sie aufgesessen ist und damit auch uns. Was ich einen äußerst geschickt finde, denn so kam auch ich ganz automatisch ins Grübeln.
Gerade die letztes 100 Seiten, die ich in einem Rutsch verschlungen habe, fand ich lesetechnisch besonders spannend, weil ich immer wieder das Gefühl hatte, dass hier das perfekte Ende wäre. Alle Fragen sind beantwortet und Jennys Verwandlung vollzogen. Doch das war nicht das Ende, und was danach kam, passte genau dorthin und das immer wieder. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon mal gelesen zu haben.
Zudem hat es mir sprachlich richtig gut gefallen. Minna Rytisalo hat eine feine Sprache, leicht und doch komplex. Da muss ich tatsächlich den Übersetzer loben, wobei ich mich wie so oft frage, warum nicht eine Übersetzerin bei einer Autorin zum Zug kommt.
Ein toller Roman für alle, die dem internalisierten Frauenbild und der vorherrschenden Misogynie den Spiegel vorhalten wollen.

Bewertung vom 04.08.2025
June, Joana

Bestie


ausgezeichnet

Um bei Content Creatorin Anouk einzuziehen, wird Delia zu Lilly. Doch das alte Leben abzustreifen, ist nicht so leicht wie gedacht. Immer wieder rutscht sie ab und fällt in alte Unsicherheiten zurück, fühlt sie neben der perfekten Anouk erst recht minderwertig. Dass Anouks Leben nicht so schillernd ist, ahnt niemand, zu gut kann Anouk das verbergen, auch wenn das einen hohen Preis hat.
„Bestie“ von Joana June gehört definitiv zu meinen Jahreshighlights! Von Seite Eins hat mich ihr Debüt in den Bann gezogen. Nicht nur ist es sprachlich herausragend - so viele tolle Bilder und kluge Sätze habe ich mir angestrichen. Es ist auch szenisch, atmosphärisch und ich bin komplett ein- und erst mit dem Zuklappen des Buches wieder aufgetaucht. Selten habe ich eine so extreme Sogwirkung erlebt.
Das liegt vor allem an den beiden Protagonistinnen. Delia, die sich als Lilly neu erfinden will, schwankt auf ihrem wackeligen Lügenkonstrukt. Anouk hingegen hält sich selbst und ihre Außenwirkung im eisernen Griff. Beide sind so unterschiedlich und doch gleichermaßen verloren; mit beiden konnte ich mich in gewisser Weise identifizieren, auch wenn sie jünger sind als ich.
Und als wenn das noch nicht für ein grandioses Leseerlebnis ausreichen würde, enttarnt Joana June den Glanz von Social Media, ehrt Theater und Literatur und das Schreiben an sich, stellt Frauen in den Vordergrund, ohne ganz auf Männer zu verzichten, und finden gerade da eine wunderbare Balance.
Ich wollte diese Romanwelt nicht verlassen. Zu sehr sind Delia/Lilly und Anouk mir ans Herz gewachsen und für mich hätte es auch noch weitergehen können, denn das Ende kam nicht plötzlich, aber schnell. Zwar wurden alle wichtigen Fragen beantwortet, manche Ebenen hätten jedoch noch weitererzählt werden können (und das von einer, die offene Enden liebt).
Aber so hat Joana June hoffentlich bald Zeit, sich einem neuen Romanprojekt zu widmen und ich weiß jetzt schon, dass ich es lesen werde.

Bewertung vom 30.07.2025
Hausmann, Romy

Himmelerdenblau


ausgezeichnet

Als sich Julies Verschwinden zum zwanzigsten Mal jährt, beschließt der Podcast Two Crime, aus dem Fall eine Reportage zu machen. Liv stürzt sich in die Recherche und kontaktiert Julies Vater Theo, der inzwischen an Demenz erkrankt ist. Früher war er Direktor an der Charité, heute haust er verarmt in einer kleinen Wohnung und hat nur noch seine Tochter Sophia, Julies jüngere Schwester. Mit Livs Hilfe hofft er, Julie endlich zu finden und sie nach Hause zu bringen. Und wieder gerät Julies Ex-Freund Daniel in den Fokus.
Romy Hausmann verbindet in „Himmelerdenblau“ True Crime Podcast und Demenz auf erstaunliche Weise. Gerade die Abschnitte aus Theos Perspektive sind herzzerreißen. Wie dieser intelligente, früher so erfolgreiche Mann um Worte ringt, sie verdreht, immer wieder nach Erinnerungen sucht und in solche fällt, die er nicht gebrauchen kann, schmerzt sehr. Sophia bekommt seine Wut, seinen Frust ab und will die Vergangenheit doch einfach nur ruhen lassen. Auch Daniel würde das am liebsten, aber die Rolle des Hauptverdächtigen wird er nicht los.
Gekonnt wechselt Romy Hausmann zwischen den Figuren, gibt jeder ihre eigene Stimme und steigert die Spannung bis zum Zerbersten. Dazu noch das Zwischenmenschliche, die Vater-Tochter-Beziehung und die Freundschaft zwischen Liv und Theo, welche dem Buch noch eine weitere Dimension verleiht. Ich rauschte durch die Seiten, bis kurz vorm Ende, da schlichen sich ein paar Längen ein, aber das sei der ausgiebigen Auflösung verziehen.
Es bleibt ein Thriller, der einer Krankheit, endlich die Bühne gibt, die sie benötigt, weil sie so viele Menschen betrifft, nicht nur als Erkrankte, sondern auch als Angehörige. Und so mancher True Crime Podcast sollte sich ein Beispiel an ihren Skripten nehmen, denn so soll ein Podcast sein. Ich bin gespannt, wie der begleitende Podcast von Romy und Mark Benecke sein wird, denn natürlich werde ich den auch hören. Und jeden weiteren Thriller aus ihrer Feder lesen.

Bewertung vom 15.07.2025
Kitamura, Katie

Die Probe


weniger gut

Als der junge Xavier die Erzählerin, eine gefeierte Schauspielerin, anspricht, ahnt sich nicht, dass er ihr Leben ins Chaos schubsen wird. Er behauptet, er sei ihr Sohn, was unmöglich ist und doch trifft sie sich mit ihm und verheimlicht es sogar ihrem Mann Tomas, der sie dann im Restaurant erwischt.
So beginnt „Die Probe“ von Katie Kitamura und wer meint nach so einem chaotischen Anfang, geht es nicht schlimmer, der hat weit gefehlt. Zunächst hatte ich mich sehr auf den neuen Roman von Katie Kitamura gefreut, denn der Vorgänger „Intimitäten“ hat mir vor ein paar Jahren ausgesprochen gut gefallen, aber das schlug schnell um.
Zunächst stolperte ich über zahlreiche Formulierungen, die teilweise nicht durchdacht, teilweise hölzern wirkten, was ich allerdings auf die Übersetzung schiebe, denn „Intimitäten“ wurde von Kathrin Razum übersetzt, „Die Probe“ von Henning Ahrens (und erneut stellt sich mir die Frage: Wieso muss ein Mann eine Autorin übersetzen?)
Trotzdem habe ich weitergelesen, denn ich war auch neugierig: wie geht es mit der Erzählerin, dem angeblichen Sohn und Tomas weiter? Erst lief es in geregelten Bahnen, aber dann kam Teil zwei und meine Verwirrung wurde übermächtig. Plötzlich ist Xavier tatsächlich der Sohn und zieht sogar bei der Erzählerin und Tomas ein. Und als ich mich gerade damit abgefunden hatte, stellt sich heraus, dass die Erzählerin absolut unzuverlässig ist. Normalerweise macht mir das nichts aus. Im Gegenteil: ich finde es spannend. Hier hat es mich gestört. Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, warum Xavier jetzt doch der Sohn ist. Und dann hat Tomas sich komplett anders verhalten als zu Anfang. Alles brach irgendwie auseinander.
Wahrscheinlich ist genau das gewollt, eine unzuverlässige Erzählerin, die eine Welt erschafft, die uneindeutig bleibt. Aber ich hatte das Gefühl, es ist nicht richtig durchdacht und zum Schluss wurde noch eine ganz neue Figur eingeführt, die wohl der Auslöser für das Ende sein soll. Die angepriesene Spannung basierte nur auf der herrschenden Verwirrung und die Auflösung des Ganzen habe ich so nicht in der Geschichte wahrgenommen.
Nun würde ich unter Umständen den Roman noch mal lesen, um zu schauen, ob ich diese Auflösung darin wiederfinde, doch dafür konnte es mich sprachlich nicht genug überzeugen.

Bewertung vom 26.06.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Gerade lebt Toni noch mit Jakob in der Stadt und verzweifelt an ihrem Wunsch, endlich schwanger zu werden, im nächsten Moment wacht sie als Antonia mit einem Baby auf der Brust in ihrem Heimatdorf auf, mit Jugendliebe Adam. Zwei Leben, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Plötzlich hat Antonia das Kind, das sie sich immer gewünscht hat, nur mit dem falschen Mann in einem falschen Leben, während Toni droht sich und Jakob an ihrem Kinderwunsch zu verlieren.
Anne Sauers „Im Leben nebenan“ habe ich entgegengefiebert. Als Buchmensch hat sie mein Lesen so sehr bereichert, da ist ihr Debütroman ein Muss. Und ich wurde nicht enttäuscht. Für mich ist es zu Recht ein Spitzentitel geworden. 
Die Kinderfrage ist eine der Essenziellsten des Lebens und gerade Frauen scheinen nicht wirklich die Wahl zu haben. Anne Sauer stellt das Leben mit Kind und das mit unerfülltem Kinderwunsch gegenüber. Wie ist es plötzlich Mutter zu sein und mit dieser größten aller Veränderungen klarkommen zu müssen? Wie ist es andererseits, wenn der Wunsch nach einem Kind verblasst, weil es einfach nicht klappt und man an die Grenzen der Kapazitäten kommt?
Sie hat dabei nicht zwei gleiche Realitäten komponiert, sondern feine Stellschrauben verändert, die im ersten Moment irritieren, aber keinesfalls die Wahrhaftigkeit aushebeln. Sie vergrößern vielmehr das Spannungsverhältnis und ermöglichen ein Eintauchen in zwei ganz unterschiedliche Welten, gelebt von einer Figur, die sich den Gegebenheiten anpassen muss.
Doch nicht nur thematisch hat es mich auf vielfältige Weise abgeholt und emotional so sehr angefasst, dass ich es manchmal nur häppchenweise lesen konnte. Auch sprachlich ist es absolut gelungen, aber da habe ich nichts anderes erwartet. Anne Sauer ist eine grandiose Autorin, der man ihre ausgiebige und vielseitige eigene Lektüre anmerkt. Sie weiß, was funktioniert – sprachlich, aber auch, welche Geschichten wir noch brauchen – vielen Dank für diesen wunderbaren Roman.
Ich hoffe, dass noch viele weitere folgen.

Bewertung vom 29.05.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

Hai will von einer Brücke in East Gladness springen, doch Grazina hält ihn davon ab. Die an Demenz erkrankte Frau holt Hai in ihr Haus und sie gehen einen Deal ein: Er darf bleiben, muss sich aber um sie kümmern. Gemeinsam schaffen sie es ihren Alltag zu bestreiten: Hai kommt auf die Beine, sucht sich einen Job und hin und wieder steigt er mit Grazina hinab in ihre Vergangenheit.
Wenn Ocean Vuong ein Buch schreibt, muss ich es lesen, denn seit 2022 hallt sein Romandebüt „ Auf Erden sind wir kurz grandios“ nach. Bei „Der Kaiser der Freude“ wird es noch schlimmer sein, auf eine wundervolle Weise.
Wieder hat mich dieser junge Autor tief beeindruckt mit seiner Beobachtungsgabe und den Worten, die er aneinanderreiht wie Perlen auf einer Kette. Worte, die ein kaputtes Leben zeichnen, ein schmerzhaftes Leben, welches doch gelebt und durchgestanden wird. Nicht nüchtern, nicht einfach, aber weiterhin.
Dieser Roman wird bevölkert von Losern, die mir fast alles ans Herz gewachsen sind. Nicht nur Hai und Grazina, deren Freundschaft so liebevoll und einzigartig ist, sondern auch die ganze Belegschaft des HomeMarket, wo Hai arbeitet. Es sind alles Individuen, die meinen Kopf okkupiert haben und sie alle vereint ihr Versagertum. Sie gehören zu den Menschen, die nichts geschenkt bekommen und trotzdem weiter machen.
So verzaubernd die Sprache ist, so berührend die Charaktere sind, gibt es Stellen und Szenen, die mir einfach das Herz zerdrückt haben, die mich schwer schlucken ließen und die so wahr sind, als hätte Ocean Vuong in die Leben einzelner Personen geblickt. Aber natürlich gibt es auch absurde und komische Begebenheiten. Diese Kombination macht „Der Kaiser der Freude“ in meinen Augen zu großer Literatur. Das einzige Manko: Gelegentlich bin ich an Feinheiten in der Formulierung hängen geblieben, was wohl der Übersetzung geschuldet ist.
Ich sehne mich schon jetzt nach weiteren Worten aus Ocean Vuongs Feder.

Bewertung vom 08.05.2025
Kullmann, Katja

Stars


sehr gut

Als ein Stein durch Carlas Schlafzimmerfenster donnert und ein Karton mit zehntausend Dollar vor ihrer Wohnungstür steht, verändert sich alles. Bisher fristete sie ein eher überschaubares Leben mit langweiligem Bürojob nach Exmatrikulation, Gelegenheitssex mit Jugendfreund und immer gleichen Tagesabläufen. Das einzig Besondere ist Cosmic Charly, ihr Alter Ego, mit dem sie für Menschen in die Sterne schaut. Nun zieht sie die Sache als Astrophilosophin neu auf und bekommt ungeahnte Aufmerksamkeit.
Ich muss gestehen, ich habe nicht wegen des Horoskop-Astrologie-Themas zu „Stars“ von Katja Kullmann gegriffen und hätte ich tatsächlich gewusst, welch großen Umfang es einnimmt, wohl gar nicht, aber ihr lakonischer und witziger Schreibstil hat mich beim Reinlesen direkt gepackt. Anfangs war die Sterndeutung auch eher so nebenbei, erst im Verlauf nahm es, wie in Carlas Leben, immer mehr Raum ein und da war ich schon zu sehr drin in der Geschichte, dieser Ende Vierzigjährigen, die augenscheinlich ihr Leben an die Wand gefahren hat.
Wie gesagt, ist es weniger die Geschichte, der Plot, als ihr Schreibstil, ihre Beobachtungen, die sie dann in passgenaue Worte kleidet, bei denen ich dachte: ‚Ja, genau das‘ oder ‚hm, das ist mir noch nie aufgefallen, aber ja’. Zum Ende hin wurde es immer esoterischer, plötzlich glaubte die Wissenschaftlerin Clara schon selbst an ihr Horoskop, was wenig verwundert, wenn man bedenkt, wie viel Erfolg sie damit hat. Der Schluss hat mich dann aber wieder versöhnt.
Außerdem unternimmt sie den ein oder anderen philosophischen Ausflug, verpackt in Alltägliches mit dem Blick aufs große Ganze, was ich spannend fand. Da stört es mich auch nicht, dass nicht alle Fragen beantwortet werden, denn das passiert in unserem Dasein selten, egal wie ausgiebig und lange wir suchen: den eigentlichen Sinn unserer Existenz können wir dann doch nur mutmaßen.
Ein anspruchsvoller Roman, sprachlich herausragend, der viele wichtige Fragen stellt, zu denen wir selbst die Antworten finden müssen.