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Desiree
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Wanne-Eickel

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Insgesamt 135 Bewertungen
Bewertung vom 05.08.2025
Rytisalo, Minna

Zwischen zwei Leben


ausgezeichnet

Jenni verlässt ihren Mann, der nicht mal schafft, die Zahnbürste seiner Affäre wegzuräumen, und damit ihr altes Leben. Eigentlich hielten nur die beiden gemeinsamen Kinder, die Gewohnheit, aber vor allem alte Glaubenssätze Jenni in dieser Vernunftehe. Nun wird sie zu Jenny Hill und tritt den steinigen Weg der Selbstfindung an, zwar mit Unterstützung von emanzipierten Märchenprinzessinnen, aber ohne esoterischen Firlefanz.
„Zwischen zwei Leben“ von Minna Rytisalo hat mich überrascht. Ich hatte einen klassischen Selbstfindungsroman einer Frischgetrennten erwartet und habe etwas aufgeschlagen, was ich nicht so recht benennen kann. Es ist feministisch und kämpferisch, aber auch zart und liebevoll. Durch die weiblichen Märchenfiguren, die wir alle kennen, bekommt es eine ganz besondere Note, denn diese Frauen, die als Paradebeispiel des Weiblichen herhalten müssen und uns geprägt haben, erzählen ihre Geschichten ganz anders. Und sie flüstern Jenny ins Ohr, welchen Lügen sie aufgesessen ist und damit auch uns. Was ich einen äußerst geschickt finde, denn so kam auch ich ganz automatisch ins Grübeln.
Gerade die letztes 100 Seiten, die ich in einem Rutsch verschlungen habe, fand ich lesetechnisch besonders spannend, weil ich immer wieder das Gefühl hatte, dass hier das perfekte Ende wäre. Alle Fragen sind beantwortet und Jennys Verwandlung vollzogen. Doch das war nicht das Ende, und was danach kam, passte genau dorthin und das immer wieder. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon mal gelesen zu haben.
Zudem hat es mir sprachlich richtig gut gefallen. Minna Rytisalo hat eine feine Sprache, leicht und doch komplex. Da muss ich tatsächlich den Übersetzer loben, wobei ich mich wie so oft frage, warum nicht eine Übersetzerin bei einer Autorin zum Zug kommt.
Ein toller Roman für alle, die dem internalisierten Frauenbild und der vorherrschenden Misogynie den Spiegel vorhalten wollen.

Bewertung vom 04.08.2025
June, Joana

Bestie


ausgezeichnet

Um bei Content Creatorin Anouk einzuziehen, wird Delia zu Lilly. Doch das alte Leben abzustreifen, ist nicht so leicht wie gedacht. Immer wieder rutscht sie ab und fällt in alte Unsicherheiten zurück, fühlt sie neben der perfekten Anouk erst recht minderwertig. Dass Anouks Leben nicht so schillernd ist, ahnt niemand, zu gut kann Anouk das verbergen, auch wenn das einen hohen Preis hat.
„Bestie“ von Joana June gehört definitiv zu meinen Jahreshighlights! Von Seite Eins hat mich ihr Debüt in den Bann gezogen. Nicht nur ist es sprachlich herausragend - so viele tolle Bilder und kluge Sätze habe ich mir angestrichen. Es ist auch szenisch, atmosphärisch und ich bin komplett ein- und erst mit dem Zuklappen des Buches wieder aufgetaucht. Selten habe ich eine so extreme Sogwirkung erlebt.
Das liegt vor allem an den beiden Protagonistinnen. Delia, die sich als Lilly neu erfinden will, schwankt auf ihrem wackeligen Lügenkonstrukt. Anouk hingegen hält sich selbst und ihre Außenwirkung im eisernen Griff. Beide sind so unterschiedlich und doch gleichermaßen verloren; mit beiden konnte ich mich in gewisser Weise identifizieren, auch wenn sie jünger sind als ich.
Und als wenn das noch nicht für ein grandioses Leseerlebnis ausreichen würde, enttarnt Joana June den Glanz von Social Media, ehrt Theater und Literatur und das Schreiben an sich, stellt Frauen in den Vordergrund, ohne ganz auf Männer zu verzichten, und finden gerade da eine wunderbare Balance.
Ich wollte diese Romanwelt nicht verlassen. Zu sehr sind Delia/Lilly und Anouk mir ans Herz gewachsen und für mich hätte es auch noch weitergehen können, denn das Ende kam nicht plötzlich, aber schnell. Zwar wurden alle wichtigen Fragen beantwortet, manche Ebenen hätten jedoch noch weitererzählt werden können (und das von einer, die offene Enden liebt).
Aber so hat Joana June hoffentlich bald Zeit, sich einem neuen Romanprojekt zu widmen und ich weiß jetzt schon, dass ich es lesen werde.

Bewertung vom 30.07.2025
Hausmann, Romy

Himmelerdenblau


ausgezeichnet

Als sich Julies Verschwinden zum zwanzigsten Mal jährt, beschließt der Podcast Two Crime, aus dem Fall eine Reportage zu machen. Liv stürzt sich in die Recherche und kontaktiert Julies Vater Theo, der inzwischen an Demenz erkrankt ist. Früher war er Direktor an der Charité, heute haust er verarmt in einer kleinen Wohnung und hat nur noch seine Tochter Sophia, Julies jüngere Schwester. Mit Livs Hilfe hofft er, Julie endlich zu finden und sie nach Hause zu bringen. Und wieder gerät Julies Ex-Freund Daniel in den Fokus.
Romy Hausmann verbindet in „Himmelerdenblau“ True Crime Podcast und Demenz auf erstaunliche Weise. Gerade die Abschnitte aus Theos Perspektive sind herzzerreißen. Wie dieser intelligente, früher so erfolgreiche Mann um Worte ringt, sie verdreht, immer wieder nach Erinnerungen sucht und in solche fällt, die er nicht gebrauchen kann, schmerzt sehr. Sophia bekommt seine Wut, seinen Frust ab und will die Vergangenheit doch einfach nur ruhen lassen. Auch Daniel würde das am liebsten, aber die Rolle des Hauptverdächtigen wird er nicht los.
Gekonnt wechselt Romy Hausmann zwischen den Figuren, gibt jeder ihre eigene Stimme und steigert die Spannung bis zum Zerbersten. Dazu noch das Zwischenmenschliche, die Vater-Tochter-Beziehung und die Freundschaft zwischen Liv und Theo, welche dem Buch noch eine weitere Dimension verleiht. Ich rauschte durch die Seiten, bis kurz vorm Ende, da schlichen sich ein paar Längen ein, aber das sei der ausgiebigen Auflösung verziehen.
Es bleibt ein Thriller, der einer Krankheit, endlich die Bühne gibt, die sie benötigt, weil sie so viele Menschen betrifft, nicht nur als Erkrankte, sondern auch als Angehörige. Und so mancher True Crime Podcast sollte sich ein Beispiel an ihren Skripten nehmen, denn so soll ein Podcast sein. Ich bin gespannt, wie der begleitende Podcast von Romy und Mark Benecke sein wird, denn natürlich werde ich den auch hören. Und jeden weiteren Thriller aus ihrer Feder lesen.

Bewertung vom 15.07.2025
Kitamura, Katie

Die Probe


weniger gut

Als der junge Xavier die Erzählerin, eine gefeierte Schauspielerin, anspricht, ahnt sich nicht, dass er ihr Leben ins Chaos schubsen wird. Er behauptet, er sei ihr Sohn, was unmöglich ist und doch trifft sie sich mit ihm und verheimlicht es sogar ihrem Mann Tomas, der sie dann im Restaurant erwischt.
So beginnt „Die Probe“ von Katie Kitamura und wer meint nach so einem chaotischen Anfang, geht es nicht schlimmer, der hat weit gefehlt. Zunächst hatte ich mich sehr auf den neuen Roman von Katie Kitamura gefreut, denn der Vorgänger „Intimitäten“ hat mir vor ein paar Jahren ausgesprochen gut gefallen, aber das schlug schnell um.
Zunächst stolperte ich über zahlreiche Formulierungen, die teilweise nicht durchdacht, teilweise hölzern wirkten, was ich allerdings auf die Übersetzung schiebe, denn „Intimitäten“ wurde von Kathrin Razum übersetzt, „Die Probe“ von Henning Ahrens (und erneut stellt sich mir die Frage: Wieso muss ein Mann eine Autorin übersetzen?)
Trotzdem habe ich weitergelesen, denn ich war auch neugierig: wie geht es mit der Erzählerin, dem angeblichen Sohn und Tomas weiter? Erst lief es in geregelten Bahnen, aber dann kam Teil zwei und meine Verwirrung wurde übermächtig. Plötzlich ist Xavier tatsächlich der Sohn und zieht sogar bei der Erzählerin und Tomas ein. Und als ich mich gerade damit abgefunden hatte, stellt sich heraus, dass die Erzählerin absolut unzuverlässig ist. Normalerweise macht mir das nichts aus. Im Gegenteil: ich finde es spannend. Hier hat es mich gestört. Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, warum Xavier jetzt doch der Sohn ist. Und dann hat Tomas sich komplett anders verhalten als zu Anfang. Alles brach irgendwie auseinander.
Wahrscheinlich ist genau das gewollt, eine unzuverlässige Erzählerin, die eine Welt erschafft, die uneindeutig bleibt. Aber ich hatte das Gefühl, es ist nicht richtig durchdacht und zum Schluss wurde noch eine ganz neue Figur eingeführt, die wohl der Auslöser für das Ende sein soll. Die angepriesene Spannung basierte nur auf der herrschenden Verwirrung und die Auflösung des Ganzen habe ich so nicht in der Geschichte wahrgenommen.
Nun würde ich unter Umständen den Roman noch mal lesen, um zu schauen, ob ich diese Auflösung darin wiederfinde, doch dafür konnte es mich sprachlich nicht genug überzeugen.

Bewertung vom 26.06.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Gerade lebt Toni noch mit Jakob in der Stadt und verzweifelt an ihrem Wunsch, endlich schwanger zu werden, im nächsten Moment wacht sie als Antonia mit einem Baby auf der Brust in ihrem Heimatdorf auf, mit Jugendliebe Adam. Zwei Leben, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Plötzlich hat Antonia das Kind, das sie sich immer gewünscht hat, nur mit dem falschen Mann in einem falschen Leben, während Toni droht sich und Jakob an ihrem Kinderwunsch zu verlieren.
Anne Sauers „Im Leben nebenan“ habe ich entgegengefiebert. Als Buchmensch hat sie mein Lesen so sehr bereichert, da ist ihr Debütroman ein Muss. Und ich wurde nicht enttäuscht. Für mich ist es zu Recht ein Spitzentitel geworden. 
Die Kinderfrage ist eine der Essenziellsten des Lebens und gerade Frauen scheinen nicht wirklich die Wahl zu haben. Anne Sauer stellt das Leben mit Kind und das mit unerfülltem Kinderwunsch gegenüber. Wie ist es plötzlich Mutter zu sein und mit dieser größten aller Veränderungen klarkommen zu müssen? Wie ist es andererseits, wenn der Wunsch nach einem Kind verblasst, weil es einfach nicht klappt und man an die Grenzen der Kapazitäten kommt?
Sie hat dabei nicht zwei gleiche Realitäten komponiert, sondern feine Stellschrauben verändert, die im ersten Moment irritieren, aber keinesfalls die Wahrhaftigkeit aushebeln. Sie vergrößern vielmehr das Spannungsverhältnis und ermöglichen ein Eintauchen in zwei ganz unterschiedliche Welten, gelebt von einer Figur, die sich den Gegebenheiten anpassen muss.
Doch nicht nur thematisch hat es mich auf vielfältige Weise abgeholt und emotional so sehr angefasst, dass ich es manchmal nur häppchenweise lesen konnte. Auch sprachlich ist es absolut gelungen, aber da habe ich nichts anderes erwartet. Anne Sauer ist eine grandiose Autorin, der man ihre ausgiebige und vielseitige eigene Lektüre anmerkt. Sie weiß, was funktioniert – sprachlich, aber auch, welche Geschichten wir noch brauchen – vielen Dank für diesen wunderbaren Roman.
Ich hoffe, dass noch viele weitere folgen.

Bewertung vom 29.05.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

Hai will von einer Brücke in East Gladness springen, doch Grazina hält ihn davon ab. Die an Demenz erkrankte Frau holt Hai in ihr Haus und sie gehen einen Deal ein: Er darf bleiben, muss sich aber um sie kümmern. Gemeinsam schaffen sie es ihren Alltag zu bestreiten: Hai kommt auf die Beine, sucht sich einen Job und hin und wieder steigt er mit Grazina hinab in ihre Vergangenheit.
Wenn Ocean Vuong ein Buch schreibt, muss ich es lesen, denn seit 2022 hallt sein Romandebüt „ Auf Erden sind wir kurz grandios“ nach. Bei „Der Kaiser der Freude“ wird es noch schlimmer sein, auf eine wundervolle Weise.
Wieder hat mich dieser junge Autor tief beeindruckt mit seiner Beobachtungsgabe und den Worten, die er aneinanderreiht wie Perlen auf einer Kette. Worte, die ein kaputtes Leben zeichnen, ein schmerzhaftes Leben, welches doch gelebt und durchgestanden wird. Nicht nüchtern, nicht einfach, aber weiterhin.
Dieser Roman wird bevölkert von Losern, die mir fast alles ans Herz gewachsen sind. Nicht nur Hai und Grazina, deren Freundschaft so liebevoll und einzigartig ist, sondern auch die ganze Belegschaft des HomeMarket, wo Hai arbeitet. Es sind alles Individuen, die meinen Kopf okkupiert haben und sie alle vereint ihr Versagertum. Sie gehören zu den Menschen, die nichts geschenkt bekommen und trotzdem weiter machen.
So verzaubernd die Sprache ist, so berührend die Charaktere sind, gibt es Stellen und Szenen, die mir einfach das Herz zerdrückt haben, die mich schwer schlucken ließen und die so wahr sind, als hätte Ocean Vuong in die Leben einzelner Personen geblickt. Aber natürlich gibt es auch absurde und komische Begebenheiten. Diese Kombination macht „Der Kaiser der Freude“ in meinen Augen zu großer Literatur. Das einzige Manko: Gelegentlich bin ich an Feinheiten in der Formulierung hängen geblieben, was wohl der Übersetzung geschuldet ist.
Ich sehne mich schon jetzt nach weiteren Worten aus Ocean Vuongs Feder.

Bewertung vom 08.05.2025
Kullmann, Katja

Stars


sehr gut

Als ein Stein durch Carlas Schlafzimmerfenster donnert und ein Karton mit zehntausend Dollar vor ihrer Wohnungstür steht, verändert sich alles. Bisher fristete sie ein eher überschaubares Leben mit langweiligem Bürojob nach Exmatrikulation, Gelegenheitssex mit Jugendfreund und immer gleichen Tagesabläufen. Das einzig Besondere ist Cosmic Charly, ihr Alter Ego, mit dem sie für Menschen in die Sterne schaut. Nun zieht sie die Sache als Astrophilosophin neu auf und bekommt ungeahnte Aufmerksamkeit.
Ich muss gestehen, ich habe nicht wegen des Horoskop-Astrologie-Themas zu „Stars“ von Katja Kullmann gegriffen und hätte ich tatsächlich gewusst, welch großen Umfang es einnimmt, wohl gar nicht, aber ihr lakonischer und witziger Schreibstil hat mich beim Reinlesen direkt gepackt. Anfangs war die Sterndeutung auch eher so nebenbei, erst im Verlauf nahm es, wie in Carlas Leben, immer mehr Raum ein und da war ich schon zu sehr drin in der Geschichte, dieser Ende Vierzigjährigen, die augenscheinlich ihr Leben an die Wand gefahren hat.
Wie gesagt, ist es weniger die Geschichte, der Plot, als ihr Schreibstil, ihre Beobachtungen, die sie dann in passgenaue Worte kleidet, bei denen ich dachte: ‚Ja, genau das‘ oder ‚hm, das ist mir noch nie aufgefallen, aber ja’. Zum Ende hin wurde es immer esoterischer, plötzlich glaubte die Wissenschaftlerin Clara schon selbst an ihr Horoskop, was wenig verwundert, wenn man bedenkt, wie viel Erfolg sie damit hat. Der Schluss hat mich dann aber wieder versöhnt.
Außerdem unternimmt sie den ein oder anderen philosophischen Ausflug, verpackt in Alltägliches mit dem Blick aufs große Ganze, was ich spannend fand. Da stört es mich auch nicht, dass nicht alle Fragen beantwortet werden, denn das passiert in unserem Dasein selten, egal wie ausgiebig und lange wir suchen: den eigentlichen Sinn unserer Existenz können wir dann doch nur mutmaßen.
Ein anspruchsvoller Roman, sprachlich herausragend, der viele wichtige Fragen stellt, zu denen wir selbst die Antworten finden müssen.

Bewertung vom 18.04.2025
Tang, Jiaming

Cinema Love


ausgezeichnet

Yan Huas und Bao Meis Leben hängen auf ungewöhnliche Weise zusammen. Dreh- und Angelpunkt ist Old Second, der seine Homosexualität nur in einem Arbeiterkino in der chinesischen Provinz Fuzhou ausleben kann. Dort lernt er Yan Huas Ehemann kennen und lieben. Als Yan Hua das herausfindet, kann sie es nicht ertragen und trifft eine folgenreiche Entscheidung, die erst sie selbst und dann Bao Mei und Old Second, die inzwischen verheiratet sind, nach Amerika bringt, wo sie Jahrzehnte später wieder aufeinandertreffen.
Den Inhalt von „Cinema Love“ von Jiaming Tang zusammenzufassen ist schwer, denn alles ist verwoben; es gibt unzählige Abschweifungen und Perspektivwechsel, genauso wie Figuren. Die zentralsten sind Old Second, Yan Hua und Bao Mei, aber es gibt noch viele andere „Sissys“, wie schwule Männer in China bezeichnet werden und Einwanderer, die in den Staaten auf ein besseres Leben hoffen und dabei nicht nur von den Weißen ausgebeutet werden.
Hauptthema ist die Liebe, nicht nur die Verbotene zwischen den Männern, die im Dämmerlicht des Kinos zueinanderfinden muss, sondern auch die nicht Romantische der Ehefrauen, welche die Sexualität der Männer durchaus akzeptieren, aber in gewisser Weise Zuneigung, Kameradschaft und Wertschätzung erwarten.
Was das Buch zu etwas Besonderem macht, ist die Sprache. Schon ab der ersten Seite wird man bombardiert mit Vergleichen, Metaphern, manchmal nur Beobachtungen und Eindrücken, die den Roman nahbar machen. Dabei nutzt Jiaming Tang kein hochgestochenes Vokabular, sondern setzt auf Simplizität, was noch eindrücklicher ist. Sofort fing der Projektor in meinem Gehirn an zu rattern.
Zugegeben manchmal verschwamm der rote Faden und ich geriet ins Taumeln, wusste nicht wo, wann und vor allem wem ich gerade folgte, allerdings kann das Absicht gewesen sein, um zu verdeutlichen, wie stark die Leben dieser Menschen zusammenhängen.
Ein Roman, den mich an Ocean Vuong erinnerte und den ich bestimmt noch mal lesen werde.

Bewertung vom 06.04.2025
Hall, Clare Leslie

Wie Risse in der Erde


sehr gut

Mit 17 verliebt sich Beth in Gabriel. Doch diese erste große Liebe zerbricht nach nur einem Sommer. Dreizehn Jahre später lebt Beth mit ihrem Mann Frank auf einer Farm. Sie ist glücklich, so glücklich, wie man sein kann, nachdem man den einzigen Sohn verloren hat. Und dann kehrt auch noch Gabriel zurück, mit seinem Sohn Leo. Beth muss erkennen, dass ihr Leben mehr ins Straucheln geraten ist, als sie gedacht hat und dass ihre Liebe zu Frank so anders ist als die zu Gabriel.
„Wie Risse in der Erde“ von Clare Leslie Hall ist anders, als ich erwartet hatte und doch genauso. Es geht um eine Dreiecksbeziehung, um Liebe, aber auch um Verlust und Tragödien im Leben. Die fünf Teile des Romans haben jeweils ein Oberthema, in welches man mit den dazugehörigen Emotionen eintaucht.
Beth als Erzählerin war mir dabei nicht immer sympathisch. Sie wusste, was sie da anrichtet, und tat es trotzdem, sehenden Auges, wie es so schön heißt.
Ich fand die Zeitform nicht gut gewählt. In der Rückschau hätte ich das stimmiger gefunden, doch der Roman ist in der Ich-Perspektive Präsenz geschrieben, zumindest in der Übersetzung, die sowieso etwas holpert. Auch bemitleidet sich Beth sehr und ihren armen Frank, aber nicht (nur) wegen des Todes ihres Sohns Bobby. Im Verlauf mochte ich sie immer weniger und auch nach dem Ende, welches keine Fragen offenlässt (zum Glück), kann ich sie nicht wirklich nachvollziehen. Aber ich muss Protagonist*innen nicht mögen.
Der letzte Teil des Buches ist auf jeden Fall der Stärkste. Er hält viele Überraschungen und Wendungen bereit, vielleicht auch gerade deswegen, weil es am Anfang wie eine missglückte Dreiecksbeziehung daherkommt. Sprachlich ist es solide, obwohl ich die Übersetzung etwas zäh fand.
Alles in allem ist das Buch eine gute Lektüre, die im Nachgang vielleicht ein bisschen mehr Tiefe hätte haben können, aber trotzdem angenehme Lesestunden beschert hat. Trotz der anspruchsvoll scheinenden Themen ist es doch kurzweilig.

Bewertung vom 31.03.2025
Frank, Rebekka

Stromlinien


ausgezeichnet

Enna und Jale sind 17, als ihre Mutter Alea nach 38 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Doch am Entlasstag verwindet nicht nur sie, sondern auch Jale. Ennas Leben steht kopf. Die beiden Mädchen hatten über all die Jahre nur sich und ihre mürrische, schweigsame Oma Ehmi. Sie gegen den Rest der Welt, galt es immer.
„Stromlinien“ von Rebekka Frank ist voller Geheimnisse, die tief im Schlick der Elbe stecken und die wir als Lesende langsam zutage fördern. Es geht um viel mehr als die beiden verschwundenen Frauen und die Gründe dafür reichen weit in die Vergangenheit zurück.
Meist folgen wir Enna, die bei der Suche nach Jale fast verrückt wird und sich entgegen ihrer Gewohnheiten von Luca helfen lässt. Aber da ist auch der Erzählstrang von Gunnar, Aleas Großvater, dessen Teeanger-Entscheidungen noch Auswirkungen auf seine Großenkelinnen haben wir; von Jale, die sich nicht mit dem Schweigen ihrer Familie abfindet und von Alea, die immer versucht alles richtig zu machen. All diese Erzählstränge hängen zusammen und umfassen ein ganzes Jahrhundert Familiengeschichte. Getragen wird das von eindrücklichen und atmosphärischen Schilderungen der Elbe und ihrer Natur.
Rebekka Frank ist eine großartige Erzählerin. In den 500 Seiten habe ich nicht eine Sache, eine Nebenhandlung, eine Kleinigkeit gefunden, die ich als langweilig oder gar unnütz empfunden habe. Von Anfang an gibt sie ein rasantes Tempo vor, das nur durch das Setting im Marschland nicht zu reißerisch wird. Und wenn ich auch manchmal etwas skeptisch war (38 Jahre Haft in Deutschland etc.) ist alles am Schluss doch stimmig, selbst die Auflösungen der verschiedenen Vermissten- und Todesfälle.
Ein wirklich beeindruckender Roman, der in das Marschland entführt und einen alles um sich herum vergessen lässt. Ich werde Rebekka Frank definitiv im Auge behalten.