Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
fräulein_jennifee
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 7 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2023
Aenne und ihre Brüder
Beckmann, Reinhold

Aenne und ihre Brüder


sehr gut

Aus der Mitte der Gesellschaft

Zeugnis abzulegen, darüber, wie der Alltag im NS-Regime ausgesehen hat, gehört zu den vielleicht schwierigsten Aufgaben der deutschen Geschichtsschreibung und Bewältigungsarbeit. Plötzlich steht man einem Spektrum aus Graustufen gegenüber, aus dem sich nicht mehr ganz herauslösen lässt, wer denn nun mitgemacht hat, wer eigentlich dagegen war, aber geschwiegen hat, und wer zu den ganz wenigen Mutigen im Widerstand gehört hat. Dieser Aufgabe wendet sich Reinhold Beckmann in Aenne und ihre Brüder zu.

Alles beginnt mit dem Ersten Weltkrieg. Aenne wächst in eine Gesellschaft hinein, die noch immer unter den Folgen des ersten industrialisierten Krieges leidet. Wellingholzhausen, ein tiefkatholisches Dorf in der niedersächsischen Provinz wird zum Brennglas der deutschen Durchschnittsgesellschaft jener Zeit. Noch immer traumatisiert von den Schützengräben, erleben die Wellingholzhausener den Aufstieg Hitlers. Wie überall geben sich Skeptiker und Anhänger dabei die Klinke in die Hand. Beckmann ist hoch anzurechnen, dass er nicht vor dem Eingeständnis zurückschreckt, dass sein angeheirateter Großvater, der Stiefvater der lieben Aenne, sich zeitweise selbst ein Hitlerbärtchen hat stehen lassen.

Mit dem Voranschreiten der NS-Zeit gewinnt das Buch an Sicherheit. Seine Stärken liegen in der scharf formulierten Kritik, vor allem den kirchlichen Institutionen gegenüber. Über allem steht die berühmte Frage, wie es denn nun dazu kommen konnte. Zwar liefert Beckmann hier und dort kleine Hinweise auf mögliche Erklärungen, darunter die alteingesessene des unbeliebten Versailler Vertrages, dennoch maßt er sich nicht an, eine allgemein gültige Antwort darauf gefunden zu haben. Im Gegenteil, an vielen Stellen wird deutlich, wie ein Regime wie das der NS-Diktatur sich etabliert: Schritt für Schritt und unter großem Propagandagetöse.

Aenne und ihre Brüder zeigt eindrücklich, was es hieß, zu jener Zeit in Deutschland zu leben. Als ehrliches, ungeschöntes Bild der Deutschen unter Hitler bildet es das überzeugte SS-Mitglied genau so ab, wie den zweifelnden jungen Familienvater. Es ist die Geschichte einer Familie, wie es sie in Deutschland zu tausenden gibt und gerade das macht sie zu einem lesenswerten Mahnmal künftiger Generationen.

Bewertung vom 29.08.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


gut

Der böse Zwilling

Wer hat nicht schon einmal mit Unbehagen auf das eigene Handy angeschaut, sich fragend, was es wohl über einen weiß? Mila geht noch weiter. Getrieben von der Angst, gecancelt zu werden, löscht sie sich aus dem Internet. Sich selbst “auslöschen”, darum geht es in Jenifer Beckers Debütroman. Und um die Frage nach dem, was danach kommt.

Alles beginnt (und endet) mit Mila. Sie war Autorin und Dozentin, vor allem aber war sie Userin, von Instagram, Facebook, YouTube. Mit der ersten Seite beginnt sie, diese alte Identität abzustreifen wie eine abgetragene Haut. Eine Veränderung, die nicht immer angenehm mitanzusehen ist, denn Becker hat bei Mila alle Antipathieregler voll aufgedreht. Mila ist nicht sympathisch. Mila will nicht sympathisch sein. Als aknegeplagte Einzelgängerin, die ihr Leben isoliert in den Wänden ihrer zugigen Wohnung verbringt, ist sie alles, was wir nicht sein wollen.

Zeiten der Langeweile kreist um Digitalisierung. Um ihre Fallstricke und um das, was sie mit unserer Psyche, mit uns selbst macht. Trotzdem hinterlässt die deutlich formulierte Kritik einen schalen Beigeschmack, denn am Ende des Tages steigert Mila sich in Wahnvorstellungen hinein, die weit über jeden bewussten (oder gesunden) Umgang mit sozialen Medien hinausgehen. Was würde nun passieren, würde man Zeiten der Langeweile mit Schwung ins Silicon Valley werfen, wie der Kollege Philipp Winkler vorschlägt? Was hätten die CEOs von Apple und Google Zeiten der Langeweile entgegenzusetzen? Ganz einfach: Dass Mila paranoid ist. Nicht ganz normal im Kopf. Dass auf dem Rücken einer Verrückten kein Nährboden für ernsthafte Kritik ist. Und das Traurige ist: Sie hätten recht.

Milas an vielen Stellen überzeichneter Charakter ist die wohl einzige Schwachstelle dieses ansonsten ausgezeichneten Querschnitts unserer Zeit. Zeiten der Langeweile ist ein Sammelsurium aus medialen Querverweisen, ein Meisterstück der Intertextualität. Mila aber ist der böse Zwilling all unserer Sozialängste und nicht jeder ist bereit, sich mit diesem Teil seiner Selbst über 240 Seiten hinweg abzugeben.

Bewertung vom 31.07.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


sehr gut

Lebenszyklen

Alles verläuft zyklisch in der Welt von Das Pferd im Brunnen. Der Morgen geht in den Abend über, es wird geboren und getauft und am Ende bettet man das Haupt auf jenem Totenkissen, für welches man über Jahre hinweg die Haare vom eigenen Haupt gesammelt hat. Valery Tscheplanowa beschreibt all dies mit unaufgeregter Gelassenheit, die für uns der Schlüssel ist in eine Welt, die in diesem Land nur wenige mit eigenen Augen gesehen haben.

Im Zentrum der Erzählung steht Nina, ihre Großmutter. Sie ist ebenso resolut wie sensibel. Auf ihren strammen Fesseln schreitet sie durchs Leben, von den Lehmstraßen ihres Dorfes bis in die große Stadt. Sie ist ebenso erbarmungslos wie sanft. Ihren Sohn straft sie mit Missachtung, während sie ein verletztes Kätzchen liebevoll gesund pflegt, nur um es im nächsten Moment wieder vor die Tür zu setzen. Facetten setzen sich in ihr wie Mosaiksteinchen zu einem großen Ganzen zusammen und ergeben am Ende ein komplexes Bild voller Widersprüche.

Valery Tscheplanowa entwirft Szenerien, die nicht mehr loslassen. In klaren Worten beschreibt sie einmal den eigenen Tod, wie sie ihn sich vorstellt: Vom Nierenversagen, welches das Wasser in die Lungen treibt, über den Herzstillstand bis hin zum Hirntod, auf den langsam aber sicher die Zersetzung aller Körperzellen folgt. Abgeschreckt und fasziniert fragt man sich, wie jemand mit solcher Detailverliebtheit den eigenen Tod, den Tod eines jeden Menschen, vor Augen haben kann und es packt einen die Ehrfurcht vor dieser Autorin, die nicht einmal Themen scheut, vor denen sich ein Großteil der Menschheit sein Leben lang drückt.

Das Pferd im Brunnen besticht mit Intimität, die persönliche Wahrnehmung atmet in jeder einzelnen Seite. Ohne zu verklären, lässt er die Welt des Sozialismus erstehen, wie ihn die Menschen gelebt haben und wird damit zu einem Roman, der heutzutage wichtiger ist denn je.

Bewertung vom 24.07.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


ausgezeichnet

Die intime Revolution

“Denn wenn man aufwächst in emotionaler und sinnlicher Ödnis, wenn dieser Sinn und jener ungenutzt bleibt, dann ist der späte Hunger groß.” Gabriele von Arnims Hunger ist ohne Zweifel unersättlich. Jede Seite, jeder Satz in Der Trost der Schönheit läuft über vor Hunger. Hunger nach Leben. Hunger nach Liebe. Vor allem aber: Hunger nach Schönheit.

Die Seiten fließen dahin wie ein Bachlauf, der bisweilen zu einem reißenden Strom wird. Ohne Kapitel und ohne Schubladen. Ohne Kategorien schafft sie es, sich nie in selbstverliebter Eigenbetrachtung zu verlieren. Ihr mäandernder Stil streift mit unglaublicher Leichtigkeit von Politik über Erinnerungskultur, verweilt einige Absätze bei der Architektur unserer Großstädte und mündet schließlich in die Fotografie. Doch immer wieder ist es die Literatur, die auf kleinen Inseln aus dem Strom ihrer Worte auftaucht, sich zu Wort meldet. Als Gedicht, als Essay oder Roman. Sie ist der rote Faden, der sich wie Seide durch die Seiten des Buches zieht.

Sie übt Kritik. Vor allem an sich selbst. Darf man in Zeiten des Krieges noch Cappuccino trinken? Oder sich in die Fluten des Mittelmeers stürzen, die so viele Menschen mit sich in den Tod gerissen haben? Sie gibt keine ausformulierten Antworten. Sie stellt den Zweifeln in den Raum und sät damit den Keim zur Selbstreflexion. Ihre Waffe sind schneidend scharfe Komposita: Sie spricht von FastNichtGläubigen, dem HerrSein oder gar der AgapantenSchönheit. Diese Wortbilder schneiden gerade deshalb so scharf, weil sie weder für sich kämpfen, noch in aller Härte zusammenstehen. Sie sind sanft - und sickern damit umso tiefer ins Bewusstsein der Leserin.

Ihre Kritik ist sanft, aber bestimmt, gerade weil sie bei sich selbst beginnt. Sie schreibt über ihre kalte Mutter, über den durch Abwesenheit glänzenden Vater. Vor allem aber schreibt sie über sich selbst, über ihr tiefes Bedürfnis nach Zuwendung. Sie schreibt über die humpelnde Dicke aus Kindertagen, über die opiumbenebelte Braut und immer wieder über die Mauer aus Schweigen in ihrer Familie. So zu schreiben erfordert Mut und in ihrem Mut keimt die Hoffnung darauf, dass man sich befreien kann aus dem Korsett aus Kindertagen.

Der Trost der Schönheit lässt die Leserin hungrig zurück. Gierig macht sie sich Notizen, will alles und noch mehr in sich aufsaugen. Es ist eines dieser Bücher, bei denen man merkt, wie sie einen verändern. Plötzlich hat man das Gefühl, die ewig selben Gebäude in seiner eigenen Straße mit anderen Augen zu sehen, nimmt die kleinen Stiefmütterchen in Nachbars Vorgarten wahr oder das Vogelgezwitscher auf dem Weg zur Arbeit. So kommt es am Ende der Lektüre zu einer kleinen, intimen Revolution - und da aller Anfang bei jeder Einzelnen beginnt, erscheint plötzlich ein Silberstreif am Horizont.

Bewertung vom 12.06.2023
Bergleuchten
Seemayer, Karin

Bergleuchten


sehr gut

Ein Tunnel, Europa zu einen


Fünfzehn Kilometer soll er lang sein, der Tunnel, der künftig Italien an Nordeuropa anbinden wird. In nur acht Jahren soll das legendäre Gotthardmassiv bezwungen werden. So zumindest, wenn es nach Luis Favre geht, der im Oktober des Jahres 1872 nach Göschenen kommt und dort mit seinen Plänen die geliebte Ordnung der Göschener Bürger durcheinanderbringt. Viele, allen voran die Fuhrhalterfamilien, stehen dem Projekt skeptisch gegenüber.

Inmitten dieser Wirren lernen wir Helene kennen, eine gewitzte Fuhrhalterstochter, die über den Bau des Tunnels alles andere als unglücklich ist, kann sie so doch endlich mehr im Geschäft ihres Vaters aushelfen. Helene gehört zu den Charakteren, zu denen man schnell Sympathie fasst. Sie reibt sich an den Fesseln der Gesellschaft, sie provoziert Dorfklatsch und rügt die Klatschtanten, wo sie nur kann. Seemayer gelingt der heikle Drahtseilakt, Helene gleichzeitig modern und aufgeschlossen zu zeigen, ohne dabei die Grenzen der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu überschreiten.

Bergleuchten hat viele Lesarten. Eine davon ist zweifelsfrei die eines luftig leichten Liebesromans. Die Romanze zwischen Piero und Helene ist packend, birgt aber in sich kaum unvorhersehbare Wendungen, was den Verlauf der Erzählung in einigen Teilen vorhersehbar macht. Doch Seemayer hat die Liebesgeschichte in einen soziokulturellen Kontext eingewoben, vor dem sie Fragen stellt, die uns auch heute noch beschäftigen: Kann und sollte man Fortschritt aufhalten? Was macht er mit uns? Und wie entstehen eigentlich Subkulturen? Bei Seemayer sind die Antworten auf diese Frage Perspektivsache. Ein Fuhrhalter steht dem Bau des Tunnels vielleicht weniger aufgeschlossen gegenüber als ein Gastwirt, der dank der in die Stadt strömenden Arbeiter endlich einmal alle Zimmer vermieten kann. Und ein Italiener, dem von den Einheimischen nichts als Misstrauen entgegen gebracht wird, wird sich lieber unter anderen Italienern aufhalten.

Überhaupt steht über allem das wachsende Misstrauen den Fremden gegenüber. Zu hunderten strömen sie zur größten Baustelle Europas. Während die Göschener einerseits nur allzu bereitwillig an ihnen verdienen, so machen sich andererseits schnell Vorbehalte breit. Unzivilisiert seien sie und ungewaschen, machten zu viel Lärm und nähmen dem Herrgott damit auch noch den heiligen Sonntag. Überdies vergriffen sie sich an den Frauen. Auch hier sind es für Seemayer die persönlichen Erfahrungen, die Erlebnisse eines jeden Einzelnen, die den Umgang mit den Italienern prägen. Sie porträtiert den verletzten Knecht, der sich nach einer persönlichen Kränkung zu einem eingefleischten Italienerhasser entwickelt, ebenso gekonnt wie die Mädchen, die neugierig und offen über den neuen italienischen Markt schlendern.

Die Antwort, dass es allein unsere persönlichen Erfahrungen sind, die uns im Umgang mit Fremden und mit, ja, man muss es sagen, Integration prägen, mag zu kurz gegriffen sein, aber es ist sicher die Antwort, in der wir uns am besten wiederfinden. Das ist letztlich, was Seemayers Roman lesenswert macht - über die Liebesgeschichte hinaus.

Bewertung vom 07.06.2023
Das Mädchen im Zitronenhain
Brauer, Antonia

Das Mädchen im Zitronenhain


weniger gut

Zitronen, traumhafte Landschaften und verwunschene Schlösser - damit bringt Antonia Brauers Mädchen im Zitronenhain alles mit, was eine gute Sommerlektüre ausmacht. Wir begleiten Vicki aus dem München der Nachkriegszeit hinaus bis nach Gardone Riviera, wo auf die energische Künstlerin schon bald die große Liebe wartet.

Professor Blocherer, ihr Förderer an der Kunstakademie, attestiert Vicki am Tage ihres Abschlusses, dass sie es einmal weit bringen würde. Und es stimmt, mit ihrem Eisenschädel gewinnt sie auch bald die Sympathien eines jeden Lesers. Sie ist unbedarft, bis zu einem gewissen Grad sogar naiv, ohne in die Falle der Einfältigkeit zu tappen. Sie setzt ihren Willen mit einer solch charmanten Beharrlichkeit durch, dass man sich beim Lesen so manches Mal wünscht, selbst einen Teelöffel dieser magischen Gabe zu besitzen. Die ersten Kapitel wecken einen unstillbaren Hunger auf mehr, seien es Gelato, Mortadella oder eben Zitronen.

Doch so schnell die Euphorie in diesem Fall aufbrandet, umso schneller verpufft sie wieder. Jeder Liebhaber guter Sommerunterhaltung leckt sich die Finger nach den Geheimnissen rund um das verfallene Grandhotel und die angrenzende verwunschene Villa, nur um am Ende herb enttäuscht mit leeren Händen dazustehen. So viel Potenzial die Erzählung zu Beginn auch aufbaut, so viel lässt sie im Laufe der Handlung am Wegesrand liegen. Statt der streng gehüteten Familiengeheimnisse bekommt man eine umfassende Beschreibung des Wiederaufbaus des Hotels mitsamt Finanzplänen und Geschäftsstrukturen serviert, die für einen Roman ebenso interessant sind wie die Börsenkurse für den örtlichen Häkelverein. Einschneidende Katastrophen wie Stürme und Erdbeben werden innerhalb weniger Seiten abgehandelt, ohne sichtbaren Eindruck auf die Erzählung oder die Protagonisten zu hinterlassen. Am Rande mitgeteilte Andeutungen flattern wie lose Bänder eines Maibaums durch die Seiten des Buches. Betrügt Toni Vicki mit seinen Barbekanntschaften? Vermutlich. Hat sich Traudl in Antonio verguckt? Wer weiß. Und was ist überhaupt in jener Nacht in Malcesine zwischen Vicki und ihren Eltern vorgefallen? Ihr Bruder Josef weiß es, aber der Leser sitzt weiterhin im sprichwörtlichen Dunkeln.

Nicht nur die losen Enden unaufgerollter Erzählstränge lassen die Erzählung über die eigenen Füße stolpern, auch die Zeitsprünge zwischen den einzelnen Kapiteln treiben den Leser zeitweise an den Rand der Verzweiflung. Über mehrere Kapitel hinweg werden drei Zeitebenen untereinander jongliert, wobei zwei von ihnen schlussendlich ohne Auflösung ins Leere laufen.

Das letzte Drittel des Romans schließlich hetzt durch die Erzählung, als gälte es, eine Medaille im Schnellerzählenkurzstreckenlauf zu gewinnen. Litten auch die ersten zwei Drittel bereits an latenter Oberflächlichkeit, bricht diese Krankheit so kurz vor dem Ziel vollends aus, wobei vorher tiefgreifend wichtige Figuren wie Sondermüll an den Straßenrand gespuckt werden.

Das Ende des Romans lüftet immerhin das Geheimnis rund um die wenig aufregende Handlung, denn offenbar hat man sich detailgetreu an das Leben von Hiki Mayr gehalten, wobei sich, dem Anschein nach, beim Verfassen des Romans wenig künstlerische Freiheit genommen wurde. Diese Loyalität gegenüber den Fakten ist es, die das Mädchen im Zitronenhain vollends zu Fall bringt.

Bewertung vom 09.05.2023
Der Traum vom einfacheren Leben
Fredriksson, Anna

Der Traum vom einfacheren Leben


sehr gut

Wem gelten denn nun meine Sympathien? Der lebensfrohen, aber oft auch einfältigen Sally? Josefin, die mitten in den Zwanzigern steckt und von einem Projekt zum nächsten springt? Oder doch Vanja, die vor jedem Konflikt am liebsten davonläuft und dabei ein Herz nach dem anderen bricht? Auch im zweiten Teil der Jahreszeiten-Saga von Anna Fredriksson bin ich immer wieder über diese Frage gestolpert.

Frederiksson entführt den Leser in das schwedische Fischerörtchen Kivik, wo Josefin, Sally und Vanja, drei Frauen, die derselben Familie entstammen, jedoch unterschiedlicher nicht sein könnten, mit den großen Fragen des Lebens kämpfen, um am Ende ihren Platz in der Welt zu finden. Dabei geht es um Liebe ebenso wie um verletztes Vertrauen und die Frage, was Familie eigentlich bedeutet - und was sie sein kann, wenn man sich ihr nur anvertraut. Am Ende der Reise wartet dann die Entdeckung, dass Probleme gelöst werden können, sobald man gemeinsam an einem Strang zieht.

Zwischenzeitlich wirkt die Handlung des Romans in einigen Teilen recht konfus. Beinahe hat man den Eindruck, als hätte Frederiksson selbst nicht immer gewusst, wohin sie mit diesem zweiten Teil eigentlich will. So folgt man Josefin nach Kopenhagen, wo diese einen Job annimmt, den sie nur wenige Kapitel später wieder aufgibt. Dennoch wirkt mindestens das Geheimnis rund um Vanjas Vergangenheit faszinierend genug, um zum Weiterlesen zu motivieren. Dennoch machen sich die drei Heldinnen beim Leser nicht immer beliebt. Zu häufig treffen sie unüberlegte Entscheidungen, und laufen damit sehenden Auges in ihren eigenen Untergang. Doch oft sind es am Ende gerade diese Fehlentscheidungen, die eine Ebene eröffnen, auf der sich der Leser mit ihnen identifizieren kann. Vor allem Vanja wirkt allein dadurch, dass sie ihrer Angst vor dem Tod nachgibt, weitaus menschlicher und nahbarer.

Es ist Frederikssons Stil, der das Buch zu einem Lesegenuss sondergleichen macht. Sie hat sich einem schonungslosen Realismus verschrieben, der einem an so mancher Stelle geradezu unter die Haut geht. Etwa, wenn es Josefin vor den “nichtssagenden” Gesprächen mit den Nachbarn graut und sie sich lieber auf die Couch werfen würde, um eine Serie zu “glotzen”. Was auf den ersten Blick vielleicht Unverständnis hervorruft, verwandelt sich bei näherem Hinsehen in eine Tür zur Seele der Protagonistin.

Zwar ist der Silberstreif am Horizont gegen Ende des Romans noch in verhaltenen Pastellfarben gehalten, dennoch stammt er aus der Feder (oder viel mehr dem Pinsel) von Vanja Larsson. Er steht für Verantwortung, für die Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter. Vor allem aber steht er für die Hoffnung, die Schatten der Vergangenheit endlich als das zu begreifen, was sie sind: Eine Möglichkeit, die Zukunft in helleren, bunteren und freundlicheren Farben zu gestalten.