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Maryam

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Insgesamt 11 Bewertungen
Bewertung vom 03.08.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns


sehr gut

Botanik des Wahnsinns erzählt von Generationen: vom Leben der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern des Erzählers und von ihm selbst. Es ist eine Familiengeschichte, durchzogen von psychischen Erkrankungen, Einsamkeit, Armut, Depression, Alkoholsucht und Klinikaufenthalten. Eine Chronik des Leids, der Brüche und der Sehnsucht nach Verstehen.
Der Erzähler selbst, umgeben von psychischer Fragilität in seiner Familie, flüchtet nach New York, Paris und Wien. Doch auch dort begegnet er dem „gleichen Menschenschlag“. Die Angst, selbst dem Wahnsinn zu verfallen, bleibt sein ständiger Begleiter.
Was wie ein autobiografischer Roman anmutet, ist zugleich ein vielschichtiger Text über die Geschichte der Psychiatrie und die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft. Der Autor verwebt Erinnerungen und Reflexionen mit Erzählungen aus seinem Arbeitsalltag als Psychologe in einer psychiatrischen Einrichtung. Dabei gelingt es ihm meisterhaft, eine beklemmende Atmosphäre zu erzeugen und die existenzielle Schwere des Lebens seiner Vorfahren in eindrucksvolle innere Bilder zu übersetzen.
Besonders gefallen hat mir die Figur der leitenden Psychologin in der Psychiatrie, in der der Erzähler arbeitet, die durch ihre Unvoreingenommenheit und Menschlichkeit auffällt. Ihre Haltung und ihre Empfehlungen im Umgang mit Patient:innen lassen sich auch auf den eigenen Blick auf andere Menschen übertragen.
Dem Autor geht es um Verständnis und das Finden der eigenen Geschichte. Sehr aufschlussreich sind die Szenen in der Psychiatrie. Er beobachtet genau, sucht nach Erklärungen für sich und für die anderen, will verstehen. Man merkt deutlich die innere Zerrissenheit zwischen seiner Arbeit als professioneller Psychologe und als Laie, der verstehen will.
Immer wieder wechseln sich Episoden aus dem Leben seiner Familie, Szenen aus dem psychiatrischen Klinikalltag und psychologische Reflexionen ab. Dabei gelingt dem Autor das Kunststück, nicht zu urteilen, sondern zu fragen: offen, suchend, tastend. Die Grenze zwischen Fiktion und Biografie bleibt bewusst unscharf. Vielleicht ist es beides.
Der Text ist durchzogen von Zitaten bekannter Autor:innen den Text (Ingeborg Bachmann, Robert Musil, Sylvia Plath, Michel Foucault, Christine Lavant, Alfred Döblin, Siri Hustvedt). Eine gute Empfehlung für eine vertiefende Lektüre für diejenigen, die sich für Literatur interessieren.
Das Buch regt zum Nachdenken an – über das eigene Leben, über familiäre Prägung, über den Umgang mit psychischer Krankheit. Ein Werk, das man mehrfach lesen kann und sollte. Und eines, das auch ohne eigenen direkten Bezug zu Psychologie und Psychiatrie eine große Wirkung entfalten kann. Ich würde es sogar als Schullektüre in der Oberstufe empfehlen.

Bewertung vom 02.06.2025
Wen, Lai

Himmlischer Frieden


ausgezeichnet

Die junge Lai wächst in einem lebhaften Arbeiterviertel in Peking mit ihren Eltern, ihrem jüngeren Bruder und der zupackenden und streitbaren Großmutter, die sie sehr mag, auf. Der Vater ist ein eher sanfter, zurückgezogener Mensch und von der Kulturrevolution versehrter Wissenschaftler. Die Mutter legt viel Wert auf Äußerlichkeiten und orientiert sich stark am Urteil der Nachbarschaft.
Lai selbst sieht sich als durchschnittlich, weder besonders hübsch noch begabt. Als sie eines Tages auf einen alten Buchhändler trifft, beginnt für sie eine Reise in die Welt der Literatur. Die Szenen in der Buchhandlung haben mir besonders gefallen, aufgrund der vielen literarischen Entdeckungen. Viele Bücher, die Lai empfohlen werden, gehören heute zum Kanon.
Lai ist ein stilles, kluges Mädchen, dass mit einem Stipendium an der Peking-Universität studieren kann. Aber das hat seinen Preis. Als Stipendiatin aus einfachen Verhältnissen muss Lai sich anpassen. Der Druck, unauffällig zu bleiben, ist groß, insbesondere während der Studentenunruhen.
Was diesen Roman für mich so besonders macht, ist die gekonnte Verbindung von Lais persönlicher Geschichte mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen in China, wie die Kulturrevolution unter dem „großen Vorsitzenden“ Mao, sowie die teils desaströsen Folgen für die chinesische Gesellschaft. Gerade die Schilderung der Studentenunruhen und die Ereignisse rund um den Tiananmen-Platz haben mich sehr bewegt. Hier ist der Text besonders kraftvoll und lebendig. Ein Glossar hätte ich mir dennoch gewünscht, um historische Hintergründe leichter nachvollziehen zu können.
Neben den politischen Themen geht es auch um Freundschaft, erste Liebe und Selbstfindung. Mit Gen, einem Jungen aus wohlhabenden, aber lieblos-kaltem Elternhaus hat sie eine toxische Beziehung. Die sich wiederholenden Szenen hätten gerafft werden können, zumal Gen später keine tragende Rolle mehr in ihrem Leben spielt. Schwierig zu lesen waren auch die Szenen mit den Selbstverletzungen und der Gewalt. Vielleicht wäre eine Trigger-Warnung angebracht. Schön dagegen fand ich die Szenen mit Madame Macaw, die Lais Nöte versteht, sie mit ihrer Theatergruppe auffängt und ihr neue Lebensperspektiven aufzeigt. Dabei zeigt sich deutlich, wie Lai sich persönlich weiterentwickelt und sich von den toxischen Beziehungen in ihrem Leben distanzieren kann.
Der Coming-of-Age Roman ist fiktiv, aber stark vom Leben der Autorin inspiriert. Er liest sich wie ein persönliches Zeugnis einer Generation, die zwischen Anpassung und Aufbegehren groß geworden ist. Mich hat das Buch sehr beeindruckt – durch seine ruhige, klare Sprache, seine dichte Atmosphäre und seine große erzählerische Kraft.

Bewertung vom 28.04.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


sehr gut

Liebe und Geheimnisse im kolonialen Malaya

Im Jahr 1947 sitzt Lesley auf der Veranda ihres Hauses in Südafrika. Eines Tages erreicht sie ein Päckchen aus Penang in Malaya, dass ein Buch des Schriftstellers William Somerset Maugham enthält. Als sie das Buch öffnet, kehren die Erinnerungen zurück: an ihr Leben in Penang und die Zeit im Jahr 1921, als Willie Maugham und sein als Sekretär getarnter Geliebter zwei Wochen lang bei ihr und ihrem Mann Robert zu Gast waren.
Anfangs begegnet Lesley dem Schriftsteller mit Misstrauen, doch allmählich beginnt sie, sich ihm zu öffnen. Sie berichtet von ihrer unglücklichen Ehe, ihrer heimlichen Liebesbeziehung zu einem chinesischen Mann elf Jahre zuvor und ihrer Unterstützung chinesischer Aktivisten, die die alte Kaiserdynastie stürzen wollten. Auch das Schicksal ihrer Freundin Ethel, die 1910 wegen Mordes vor Gericht stand, wird in ihren Erinnerungen lebendig.
Das Buch entführt die Leser:innen in die britische Kolonialzeit von Malaya, dem heutigen Malaysia. Das koloniale Leben bestand aus Dinnern, Empfängen und gesellschaftlichen Veranstaltungen; man verfügte über Bedienstete und genoss zahlreiche Annehmlichkeiten. Dennoch war das Leben für viele Ehefrauen eintönig und geprägt von unglücklichen Ehen – was sich auch in der eher ruhigen Erzählweise widerspiegelt.
Lesley versucht immer wieder, ihre männlichen Gesprächspartner auf die Situation der Frauen aufmerksam zu machen: auf ihre Ungleichbehandlung und Unterdrückung.
Die Lage der Männer, die ihre Homosexualität nicht offen leben konnten und dadurch auch ihre Ehefrauen ins Unglück stürzten, hätte ausführlicher beleuchtet werden können. Denn während Männer trotz gesellschaftlicher Normen ihr Leben, auch mit einem Geliebten weitgehend ungehindert gestalten konnten und es auch selbstverständlich taten, waren Frauen erheblich stärker eingeschränkt, wenn sie Männer außerhalb der Ehe trafen. Ob diese unterschiedliche Gewichtung bewusst gesetzt wurde oder nicht, bleibt im Text offen. Die herabblickende Einstellung gegenüber Frauen mag zwar dem damaligen Zeitgeist geschuldet sein, liest sich aber aus heutiger Perspektive befremdlich.
An einigen Stellen hätte die Handlung gestrafft werden können, etwa bei den detaillierten Landschaftsbeschreibungen und den sich wiederholenden Zeugenbefragungen. Ein Glossar zur Erklärung der im Text verwendeten chinesischen und malaiischen Begriffe sowie eine Übersetzung des französischen Gedichts wären ebenfalls hilfreich gewesen. Auch der Umschlag des Buches passt nicht. Das Shophouse auf das sich der Titel bezieht, sieht in Malaysia und auch Singapur anders aus. Die englische Ausgabe zeigt immerhin Dächer im chinesischen Stil.
Der Aufbau des Romans ist insgesamt sehr gelungen, und die Figuren basieren in Teilen auf historisch belegten Persönlichkeiten. Am Rande erfährt man Wissenswertes über Chinas Geschichte und über Sun Yat-sen, den Revolutionär und Staatsmann, der in Penang Zuflucht suchte. Besonders gefallen hat mir, wie sich die Geschichte entfaltet und wie geschickt die Handlungsstränge miteinander verwoben sind. Ebenso gelungen ist, wie sich Stück für Stück aus Lesleys Erinnerungen das Schicksal Ethels herauskristallisiert. Das offene Ende, das dezent andeutet, wie es weitergehen könnte, fand ich sehr schön.

Bewertung vom 22.04.2025
Tang, Jiaming

Cinema Love


sehr gut

Dieses Buch erzählt von Männern und ihrer queeren Liebe und die Geschichten ihrer Ehefrauen. Um Frauen, die sich betrogen fühlen und einer Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt.
Im New Yorker Chinatown erinnert sich Old Second an seine Kindheit in einem kleinen Dorf in China ohne Strom und Gas. Eine Kindheit geprägt von harter Arbeit, Gewalt und Armut. Schon früh müssen seine Geschwister und er arbeiten. Sie besuchen die Schule nur kurz und ihr Leben ist vorherbestimmt. Zu dieser Zeit trifft Old Second einen besonderen Freund, Shun-Er. Doch es gibt keinen Raum für persönliche Eigenheiten und eine Liebe, die nicht sein darf.
Eine besondere Rolle spielt das Arbeiterkino in Mawei, dass als geheimer Sehnsuchtsort für die Liebenden dient. Der Filmvorführer, der in Filmen mehr sieht als eine auf Wand projizierte Bilderfolge, wird zum Schutzpatron der geheimen Liebesstätte. Doch die Liebe zueinander und das Arbeiterkino werden Old Second und Shun Er zu Verhängnis.
Jahre später lebt Old Second mit seiner Frau Bao Mei, die im Arbeiterkino an der Kasse saß, in Amerika. Auch Bao Mei trägt ein schweres Schicksal, welches sie mit in ihre neue Heimat nimmt.
Der Roman erzählt über Liebe, Verlust, Trauer und Migration. Von einem entbehrungsreichen Leben chinesischen Arbeiter und Migrantinnen in den USA, deren Perspektiven sich erst Jahrzehnte später vermeintlich zu verbessern scheinen. Zeitlich erstreckt sich die Handlung der Geschichte von den 1980ern in China bis zur Corona Pandemie. Spannend ist, wie Tang viele Handlungsstränge in seinem Text verwebt, die am Ende wieder zusammenfinden.
Die Szene in der Bao Mei die Geschichten all jener Menschen, die ihr Leben gestreift haben in literarischen Briefen weiterschreibt, hat mir sehr gut gefallen: eine prekäre Arbeiterin und Migrantin als Autorin. Bao Mei geht um die Würde eines queeren Lebens und um die Männer, die sie einst im Arbeiterkino vor unerwünschten Fragen und Besuchen schützte.
Leider hat die Spannung des Buches im letzten Drittel deutlich nachgelassen. Am Ende ging alles etwas schnell, sozusagen im Zeitraffer erzählt. Die Zeit- und Erzählerwechsel sind literarisch gut gemacht, allerdings erschweren sie an manchen Stellen das Lesen.
Trotzdem ist dieses Buch wichtig. Es thematisiert Queer Sein, gesellschaftliche Intoleranz, Rigidität und Migration – und es zeigt die persönliche Ebene mit all dem Schmerz und der Wut von Menschen, die ihr Leben nicht leben dürfen.

Bewertung vom 25.03.2025
Lorenz, Sarah

Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken


ausgezeichnet

Schicksalsschläge und Poesie mit Mascha Kaléko
Mit der Dichterin Mascha Kaléko als imaginäres Gegenüber entfaltet die Ich-Erzählerin Elisa am Anfang des Buches ihr Leben als Kind im „großen kalten Haus“. Sie zeigt uns die Tragik des Aufwachsens im „großen Haus mit Pool und Therapie“, dass eine Jugendhilfeeinrichtung ist. Erzählt uns von der Mutter, deren Wärme, Kraft und Liebe durch Schicksalsschläge irgendwann erstarrt. Auch sie ist in einem „großen kalten Haus“ aufgewachsen.
Wir erfahren von der ersten großen Liebe der Ich-Erzählerin mit dem „Jungen mit den Augen“ und weiterer Jugendlieben, die alle für die Ewigkeit halten sollen. Dann die Liebe zu Büchern und Gedichten, die ihr den Zugang zu einer anderen Welt ermöglichen, sowohl im Innen als auch im Außen. Die Bücherwelt begleitet sie von ihrem gemütlichen, sicheren Zuhause in die Jugendhilfeeinrichtung, von dort in das Teenie- Zimmer, dass die Mutter für sie hergerichtet hat und selbst nie hatte, auf die Domplatte, in die Punkerunterkünfte und weiter bis in die Gegenwart. Dass sie Buchhändlerin lernt, die Kraft findet, zu studieren und sich selbst befreit ist tröstend und ermutigend.
Aber auch die andere Seite des Lebens bekommen wir zu sehen: Abschiede von geliebten Menschen, der Kontakt zu Drogen und zu vereinsamten, gebrochenen Menschen. Ereignisse und Lebensabschnitte, die unter die Haut gehen. Die Suche nach Liebe, die Sehnsucht nach Sicherheit und einem kleinen Reetdachhaus, die große Angst, die die Ich-Erzählerin immer verfolgt, und die tröstenden Gedichte von Mascha Kaléko durchziehen dieses wunderbare Buch.
Das Buch ist in mehrere thematisch in sich geschlossene und leicht lesbare Kapitel aufgeteilt. Jedem Kapitel ist ein passendes Gedicht von Mascha Kaléko vorangestellt. In kurzen Erwähnungen erfährt man auch etwas über das Leben der Dichterin, ihres Mannes Chemjo und ihres Sohnes Steven. Ein Leben, dass nicht weniger tragisch war, als das der Ich-Erzählerin.
Das Buch hat mir einige Gedichte von Mascha Kaléko nähergebracht, die mir wirklich gut gefallen und sehr schön zu lesen sind. Es sind Texte, die das Leben zeigen und auf ihre eigene Art tröstlich wirken. Am Ende des Buches finden sich Literaturhinweise, in welchem Buch von Mascha Kaléko die Gedichte zu finden sind.

Bewertung vom 23.02.2025
Liepold, Annegret

Unter Grund


ausgezeichnet

Franka ist Referendarin und besucht mit ihrer Klasse den NSU-Prozess. Mit dabei ist ihre WG-Mitbewohnerin Hannah, die Gerichtsreporterin ist. Der Prozess bringt Frankas verdrängte Erinnerungen an ihre eigene Vergangenheit und ihre Taten damals zutage. Sie macht sich auf die Reise in ihre damalige Heimat. Dort angekommen, erinnert sie sich an die Zeit mit ihrer dementen Großmutter, im Dorf nur die Fuchsin genannt, und das ambivalente Verhältnis zu ihr. Die Erinnerungen an den während ihrer Grundschulzeit verstorbenen Vater kommen wieder. Dann war da noch Leon, den Franka eigentlich mochte, der sie aber auch nicht so akzeptieren konnte, wie sie war.
In ihrer früheren Heimat kommt sie durch Jule, Ihrer Tante, einem Familiengeheimnis auf die Spur, dass ihr Lebenskonzept erschüttert und sie zwingt, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Die Erzählweise pendelt zwischen Frankas gegenwärtiger Realität und den Erinnerungen an damals. Sie fühlte sich einsam, von der Mutter nicht verstanden und nicht gesehen, in der Schulklasse nicht integriert, vom Geschichtslehrer vorgeführt und nirgends richtig zugehörig. Das ändert sich, als sie Patrick und Janna kennenlernt, die ihre neuen „Freunde“ werden. Bei den Aktionen der Gruppe beschleichen sie dennoch immer wieder Zweifel. Trotzdem merkt Franka nicht, dass sie durch Patrick und Janna immer weiter in die rechte Szene gleitet.
Ein sehr aktuelles Thema zwischen Jugend, Wut und Frustration, die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und dunkle Familiengeheimnisse der Vergangenheit, die bis in die heutige Zeit hineinreichen und Generationen belasten.
Das Buch kann man als politische Botschaft lesen, ohne belehrend zu wirken. Es ist aber auch allein aufgrund seines literarischen Erzählens lesenswert. Der erzählte Wechsel zwischen Frankas Erinnerungen und ihrer Realität erfordert an einigen Stellen Konzentration, ist aber ein Kunstgriff, der das Buch unterhaltsam und lesenswert macht.
Am Anfang hatte ich meine Zweifel, ob das Buch für mich interessant ist. Den Klappentext mit dem Text auf der Buchrückseite zu verbinden, fiel mir schwer. Jetzt bin ich froh, das Buch gelesen zu haben.
Das Titelbild, der Titel und die Farbgebung des Umschlags haben sich mir erst auf den zweiten Blick erschlossen. Das Coverbild erinnerte mich erst an ein Naturbuch und sprach mich auch aufgrund der Farben nicht an. Aber: Der Fuchs steht nicht nur für Verwegenheit und List, sondern auch für die Fuchsin, Frankas Großmutter. Die in Brauntönen gehaltene Farbgebung gibt Hinweise auf den Wald und den Schlamm der Himmelsweiher, die Weiher mit denen Franka Heimat verbindet. Die Farbgebung des Covers gibt nicht zuletzt auch ein Hinweis auf die rechte Szene. Den Titel Unter Grund schließlich kann man auf die Geheimnisse von Frankas Familie beziehen, auf die Karpfen in den Himmelsweihern in Frankas Heimat, Frankas Anschluss an eine verdeckte Gruppe, sowie verschüttete Erinnerungen an die Vergangenheit.

Bewertung vom 22.08.2024
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


ausgezeichnet

Hanna, Zeyna und Cem sind Freunde seit den späten 80er Jahren und wachsen gemeinsam in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet auf. Solange sie zusammen sind, fühlen sie sich wie eine Familie. Herkunft spielt für sie keine Rolle. Hanna, ihre Großeltern, Cem und seine Familie behandeln Zeynas Vater Nabil und Zeyna, die beide vor dem Krieg geflüchtet sind, wie Familienmitglieder.
Hanna und Zeyna teilen das Schicksal, ohne Mutter aufzuwachsen. Während Hanna eher zurückhaltend ist, ist Zeyna immer vorne dabei. Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere ist Zeyna für Hanna wie eine Schwester.
Dann ist da noch Chem. Für Zeyna und Hanna war er immer der Fels in der Brandung und hat vermittelt, wenn sich die beiden gestritten haben. Aber auch an ihm geht der Zwist zwischen den Freundinnen nicht spurlos vorbei.
Mit der Zeit und beeinflusst von äußeren Umständen treten die Unterschiede zwischen den Freunden deutlich hervor. Nach den Morden in Mölln 1992 ziehen die Ereignisse um 9/11 endgültig einen Riss durch die Freundschaft. Cem, seine Eltern und Zeyna und Nabil spüren die Folgen am eigenen Leib. Für Hanna bleibt vordergründig alles beim Alten.
Im Wechsel zwischen vergangener Kindheit und Gegenwart erzählt der Roman von Wahlfamilie, Familie und Freundschaft, aber auch Einsamkeit, Suche nach Verlorenem und Sprachlosigkeit.
Ohne es explizit zu erwähnen, spielt die Gegenwart in der Zeit der Pandemie. Umso verständlicher die Einsamkeit, die manche in dieser Zeit begleitete, die Trennungen, die Stille, die einige nur schwer ertragen konnten.
Den Grund von Zeynas Verschwinden kann man nur erahnen, aber nicht wirklich aufklären. Auch was Hanna in ihrer Einsamkeit umtreibt, lässt sich nur raten. Die Autorin überlässt es den Leser:innen darüber nachzudenken. Das macht den Roman auch so interessant, weil er keine Lösungen oder Erklärungen vorgibt, sondern offene Wege.
Die Geschichte entwickelt einen Sog, wenn man selbst in den Neunzigern und Nullerjahren aufgewachsen ist und die damaligen Ereignisse einem begleiteten: Rassismus, Mölln 1992, 9/11.
Der Roman zeigt auf, wie frühe Verluste Menschen zu Suchenden machen. Suchenden nach Antworten, nach Heimat, nach Familie, nach Zugehörigkeit, nach Verstanden werden.
Der QR-Code mit den Musiktiteln, die die Freunde in ihrem Leben begleitet hat, ist eine besondere Beigabe im Roman.
Eine wundervolle, dicht geschriebene, packende und melancholische Geschichte mit herzerwärmender, poetischer Sprache. Eins der Bücher, die dauerhaft in meinem Bücherregal einziehen werden.

Bewertung vom 11.08.2024
Pollard, Clare

Der Salon der kühnen Frauen


gut

Marie d´Aulnoy lädt in ihren Salon ein, in dem sich hohe Damen und zwei Herren Märchen erzählen. Heute sind die Märchen als Rapunzel, Blaubart und Aschenputtel bekannt. Die Damen nutzen die Geschichten, um sich geschützt und fernab vom Klatsch und den Intrigen am Hof Ludwigs XIV. über ihr Leben nachzudenken. Ein Leben, dass nicht nur voll Glanz, sondern auch von schweren Schicksalsschlägen geprägt ist. Allerdings müssen die hohen Damen mit der Zeit feststellen, dass das Märchenerzählen immer gefährlicher für sie wird und man ihnen auf den Fersen ist.
Wir erhalten Einblicke in das höfische Leben zur Zeit Ludwig XIV., voll von Dekadenz und Opulenz auf der einen Seite, aber auch großer Armut und viel Elend auf der anderen Seite. Vor allen Dingen war Kritik gegenüber dem König lebensgefährlich. Und das Leben einer Frau, egal ob adelig oder nicht, war oft erbarmungslos dem Willen und Eigennutz eines Mannes beziehungsweise ihres Mannes ausgeliefert und damit nicht ungefährlich.
Die Kapitel wechseln sich ab mit Märchen und Handlungen, wobei einige Märchen einen kleinen Hinweis auf die Handlung geben. Das hat mir gut gefallen. An einigen Stellen zogen sich die vielen Märchen etwas, da sie nicht viel zur Handlung oder zur Spannung beitrugen. Die Handlung generell plätschert gerne mal vor sich hin, gewinnt an einigen Stellen dann an Fahrt, um dann wieder abzuflachen.
Sehr gut gefallen hat mir der Einblick in die Welt des ausgehenden 17. Jahrhundert am Hofe des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Aber auch die Welt, in der die Armen leben, ist sehr plastisch beschrieben. Die Beschreibungen der Dekoration hätte an manchen Stellen kürzer ausfallen können.
Ein historischer Roman, der die schöne Fassade, aber auch den Blick hinter die Kulissen in der damaligen Zeit in Frankreich aufzeigt, einige bekannte Märchen einarbeitet und das damalige Leben von vielen Seiten beleuchtet.
Trotz seines historischen Hintergrunds ist das Buch für mich dennoch sehr aktuell. Denn Kritik an Regierenden und ein freies Leben als Frau sind auch heute noch nicht überall möglich. Auch die heimliche Bespitzelung der Bevölkerung ist in anderen Teilen der Welt nicht abgeschafft.

Bewertung vom 08.08.2024
Zischke, Vera

Ava liebt noch


gut

Ava ist 43, hat 3 Kinder, lebt in einem großen Haus mit ihrem Mann, der eine Kanzlei hat. Ihr Mann überlässt die Kinderversorgung und Familienarbeit ihr. Finanziell geht es ihnen gut. Doch Ava fühlt sich in ihrem Leben gefangen und erschöpft durch die Familienarbeit.
Beim Einkaufen im Supermarkt begegnet sie Kieran, der dort Regale einräumt. Für Ava ist Kieran eine besondere Begegnung. Sie schwärmt von ihm und sucht jedes Mal nach ihm, wenn sie einkaufen ist, nur um ihn zu sehen.

Nachdem ihre Tochter einen Unfall im Schwimmunterricht hat, sieht sie Kieran, den Schwimmlehrer ihrer Tochter, im Krankenhaus wieder. Was für Ava anfangs nur eine Schwärmerei ist, entwickelt sich zu einer großen Liebe, die die Jahre überdauert. Ava genießt kurze Zeiten der Freiheit mit Kieran, die sie zuletzt erlebt hat, bevor sie Kinder bekommen hat. Aber auch Kieran trägt sein Päckchen und hat Lebensaufgaben zu bewältigen.
Das erste Drittel des Buches gefällt mir gut. Besonders der Aufbau und die Entwicklung der Geschichte. Ich konnte mich in Avas und in Kierans Geschichte einfühlen. Über das Buch hinweg gab es immer wieder Stellen, die ich schön geschrieben fand, weil die Sätze für mich zeitlos sind. Dass Ava und Kieran ihre Gedanken und Erlebnisse jeweils aus ihrer Sicht erzählen, hat mir sehr gut gefallen. Zeitweise hatte ich dennoch Probleme mich zu orientieren, wer gerade erzählt.
Nach dem ersten Drittel des Buches ging mir einiges zu schnell, war zu glatt oder zu einfach. Vielleicht war es auch zu viel für diesen Text, sodass einiges zu kurz kam. Da war z.B. der berufliche Wiedereinstieg von Ava. Als dreifache Mutter sieben Jahre aus dem Beruf zu sein und dann scheinbar so einfach einen Teilzeitjob als Lektorin zu finden. Das entspricht nicht der Realität.
Die Krebserkrankung ist mir auch zu einfach und schnell abgehandelt. Das wirkt unrealistisch. Ich empfand es als zu viel Drama, das wiederum textlich nicht tief genug ausgearbeitet wurde. Man hätte es auch weglassen können, ohne dass es sich nachteilig für die Geschichte ausgewirkt hätte oder bearbeitet das Thema tiefer.
Die „Aufsteigergeschichte“ von Kieran ist mir zu glatt. Das Literaturstudium und die Herausforderungen als Kind aus einfachen Verhältnissen waren teilweise noch gut dargestellt. Der Master in den USA, der „einfach“ erhaltene Platz an einer der renommiertesten Journalistenschulen und die anschließende Journalistenkarriere fand ich etwas konstruiert. Da muss man schon sehr viel Glück haben. Kierans Laufbahn ist einfach nicht repräsentativ. Selbst die renommierten Journalistenschulen schreiben, dass sie nicht mehr alle Absolventen prominent unterbringen. Ganz zu schweigen von Menschen, die aus einfachen sozialen Milieus im Journalismus aufsteigen wollen.
Ab Seite 140 fliegen die Jahre nur so dahin. Mit dem Alter der Protagonisten habe ich mich deshalb im Laufe des Romans schwergetan. Oft habe ich mich gefragt, wie alt wer jetzt gerade ist, in dieser speziellen Situation bzw. wann was passiert.
Als Film würde sich die Story sicherlich sehr gut eignen. Da hätten die vielen Szenenwechsel über die vielen Jahre besser gepasst. In einem 300-Seiten-Buch die Lebensgeschichte einer Person von 43 Jahren bis in ihre 60er und einer weiteren Person von 24 bis in die 40er zu beschreiben, finde ich ambitioniert. Wichtige Themen sind mir zu kurz gekommen.
Über die Kinder erfährt man und ihre Gefühle erfährt man wenig. E sind eher „Schlaglichter“. Über Kierans Vergangenheit erfährt man nicht viel, über Avas Vergangenheit nichts. Dennoch finden sich gute Ansätze und wichtige Themen im Buch, wie die Tochter, die später als alleinerziehende Mutter lebt. Dann der Sohn, der Herausforderungen hat und die zweite Tochter, die mit einer Frau zusammenlebt.
Aufgrund der inhaltlichen Anmerkungen ist es für mich in erster Linie ein Liebesroman. Durch den Klappentext hatte ich etwas anderes erwartet. In Teilen ist es eine traurige Geschichte mit tränenreichen Szenen, wobei das Ende wieder versöhnlich stimmt. Es hätte auch ein gesellschaftskritischer Roman werden können, aufgrund der im Buch erwähnten wichtigen Themen.
Am Ende hat mich das Buch dennoch tief bewegt und nachdenklich gemacht. Es ist aber ein in erster Linie unterhaltsames Buch. Als Liebesroman völlig in Ordnung. Die benannten Themen, die sehr aktuell sind, finde ich aber zu wichtig, um sie ausschließlich in dieser Form zu verarbeiten. Daher meine inhaltlichen Einschränkungen. Sprachlich betrachtet ist der Roman flüssig und schnell zu lesen.

Bewertung vom 23.07.2024
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Pia und Jakob werden wegen ihres Sohnes zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Ihr Sohn Luca soll etwas mit einem Mädchen gemacht haben, als er mit ihr allein war. Die Eltern versuchen, Lucas Version der Geschichte von ihm zu erfahren. Er schweigt. Pia und Jakob werden aus dem Elternchat der Klasse entfernt. Mit dem Vorfall beginnt Pia, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass das Verhalten von Kindern widersprüchlich sein kann.
Ihr kommt eine Vorahnung, die in ihrem eigenen Trauma und das ihrer Herkunftsfamilie begründet liegt. Ihre kleine Schwester Linda ist bei einem Unfall oder dessen Folgen gestorben. Pias Eltern schweigen darüber.
Lindas Tod hinterlässt viele Fragen um die Todesursache, die ambivalente Beziehung zu ihrer Adoptivschwester Romi und deren Rolle bei Lindas Tod. Es baut sich ein Gedankenstrudelstrudel um Pia auf, der ihren Mann, ihren Sohn und ihre Eltern immer weiter mit hineinzieht. Vor diesem Hintergrund wird Pia gegenüber Luca immer misstrauischer.
Der Roman thematisiert keine einfachen Themen: Trauer, Ungewissheit, Schuld, Widersprüchlichkeit von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, unverständliches Verhalten von Kindern und Trauma Verarbeitung. Es zeigt sich, wie Schweigen über etwas Unbegreifliches im Inneren eines Menschen weiterarbeitet und zerstörerisch wirkt. Sogar in den Abgrund ziehen kann. Es geht um die Illusion einer heilen Kindheit. Ein Verlust, der ein Leben begleitet und aus dem sich ein Verdacht aufbaut. Man spürt deutlich das Misstrauen, dass sich wie ein dunkler und nicht greifbarer Faden durch die Geschichte zieht.
Als Lesende:r muss man aushalten, dass es keine eindeutigen Antworten auf alle Fragen gibt. Manchmal gibt es keine Antworten. Vieles bleibt ungesagt, wie im richtigen Leben. Es ist meisterlich, wie die Autorin ein psychologisches Drama entwirft. Nichts ist schwarz oder weiß in dieser Geschichte. Sie erarbeitet die Gedanken oder vielmehr das Gedankenkarussell der Familie, dass einem der Atem stehen bleibt.
Da ist Luca, der erstmal schweigt. Pia, die als Kind ihre beiden Schwestern über alles geliebt hat. Sie verzeiht lange Romis unerklärliche Verhaltensweisen. Pias Schwester Romi ist ein Adoptivkind aus einem Heim. Auch sie will als Kind Fragen beantwortet haben: Ob man sie bedingungslos liebt und ob sie sich der Liebe und Aufmerksamkeit der Mutter sicher sein kann.
Das Ungesagte und das Schweigen um Lindas Tod und Romis damaliges Verhalten holt Pia durch Luca und der Zwischenfall in der Schule wieder ein. Man fragt sich beim Lesen des Romans: Was passiert gerade mit Luca und was mit Pia? Was ist wirklich mit Linda passiert? Was hat Romi getan und was Luca? Oder was haben sie nicht getan?
Pias Mutter wollte einem Kind ohne Familie eine Chance geben. Nach Lindas Tod ändert sich ihr Verhalten und ihre Einstellung gegenüber Romi. Sie sieht in ihr das Dunkle, genauso wie Pia später in Luca. Pias Vater, der seinen Anteil daran sieht, dass er gearbeitet hat, die Kinder ein Dach über dem Kopf hatten, etwas zum Anziehen, zum Essen und Spielzeug. Und Pias Mann Jakob, der in der Situation mit Luca scheinbar ruhig und umsichtig reagiert. Aber auch er ist nicht ganz gefeit, von der subtilen Illusion seiner heilen Kindheit.
Der Roman ist gefühlvoll und poetisch geschrieben, direkt aus dem Leben und dem Alltag mit Kindern. Die Reflektiertheit mit der sich Pia gegen Ende der Geschichte entwickelt, hat mir gefallen. Dennoch gibt es nicht die einzige Wahrheit auf die Fragen in der Geschichte. Vieles bleibt offen und ungeklärt. Trotzdem ist die Geschichte für mich rund. Unbedingte Lesempfehlung!