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Wolf
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Potsdam

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Bewertung vom 30.08.2023
Das Ende eines Traumes
Baradit, Jorge

Das Ende eines Traumes


ausgezeichnet

In wenigen Tagen jähren sich die Ereignisse des 11. September 1973 zum 50. Mal. In den Morgenstunden dieses Tages wurde der demokratisch gewählte Präsident Chiles, S. Allende, und seine Regierung der Unidad Popular, durch das Militär gestürzt und eine Jahre anhaltende Blutorgie nahm ihren Lauf. Allende und die hinter ihm stehende Parteienkoalition hatten sich vorgenommen einen Sozialismus zu errichten, der nach Wein und Empanadas, den mit Fleisch gefüllten Teigtaschen, die man an jeder Straßenecke in Chile kaufen kann, schmecken sollte. Dafür hatte er die überwältigende Mehrheit der Stimmen der Chilenen bekommen. Die Hoffnung auf eine Zukunft in Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität währte nicht lange. Mit der verdeckten Unterstützung der US-Regierung wurde der blutigste Staatsstreich in der gesamten Geschichte Lateinamerikas geplant, vorbereitet und höchst präzise ausgeführt.
Der erstmals 2018 veröffentlichte Text von Baradit versetzt die Leserinnen und Leser zurück in die Zeit der Unidad Popular, stellt Programme und Akteure vor, um schließlich die gespannte Atmosphäre im Sommer 1973 und die Ereignisse des Putsches zu schildern. Daran schließt sich ein umfänglicher Teil des Buches an, der den Alltag im Terrorregime von A. Pinochet beschreibt und die Aktionen des Widerstand gegen die Diktatur aufleben lässt. Der Autor spannt den Bogen seiner Darstellung bis zu den Tagen des Plebiszits im Oktober 1988. Damals sah sich der Diktator veranlasst, dem Regime einen neuen Anstrich zu geben und sich einer gewissen Legitimität zu versichern. Jedoch brachte eine deutliche Mehrheit diese Pläne zu Fall und lehnte eine Verlängerung der „Amtszeit“ ab.
Das Buch wurde ursprünglich für ein chilenisches Publikum geschrieben, dass die dunkle Nacht der Diktatur nicht selbst erlebte oder noch zu jung war, um bewusst wahrzunehmen, was dem Land und seinen Menschen geschah. Als Quereinsteiger in die Geschichtswissenschaft und politischer Aktivist verfolgt Baradit daher den Anspruch, nachvollziehbar zu erzählen, wie es in den letzten Monaten der Unidad Popular war und wie es unvermeidlich zum Putsch kam. In dieser Erzählung verliert sich Baradit nicht in akademischen Debatten oder ideologischen Auseinandersetzungen. Angenehm fallen dabei zwei Dinge auf: a) der Autor ist in der Lage, die kenntnisreiche Schilderung der politischen Situation in Chile mit dem Schicksal von konkreten Personen, auch aus der eigenen Familie, zu verbinden und konkrete Akteure zu benennen, ihr Handeln aus dem Dunkel der Vergangenheit zu holen. Im Ergebnis wird für die Leserin und den Leser jenes schwerwiegende Trauma in Umrissen erkennbar, das die Diktatur und der Terror im Leben vieler Menschen dieses Andenland auslösten. b) dieses Vorgehen schafft es, dass auch Leserinnen und Lesern, die mit der Geschichte der Andenländer wenig vertraut sind, zwischen all den Namen, Daten und Ereignissen nicht verloren gehen, sondern den Überblick behalten und in die Lage versetzt werden, eine eigene Bewertung vorzunehmen.
Das Buch von Baradit ist eine „Ausgliederung“ aus einem viel umfangreicheren Vorhaben, das den Autor seit Jahren beschäftigt und für das er viel Lob und Anerkennung durch ein breites Publikum erfahren hat: La Historia Secreta de Chile. Den Titel dieses Vorhabens kann man rasch mit Die geheime Geschichte Chiles übersetzen. Dabei würde diese Übersetzung jedoch nicht den Intentionen des Autors gerecht werden. Für Baradit geht es vielmehr um die Neuerzählung der Geschichte seines Heimatlandes, die, jenseits der akademischen und politischen Dogmen, auch Licht in die bisherigen „blinden Flecke“ der Geschichtsschreibung bringt. Ganz in diesem Sinn bringt das vorgelegte Buch viel Licht in einen dunklen Abschnitt der chilenischen Geschichte und kann selbst Fachleute mit einigen Details überraschen.
Die Übersetzung des Originaltextes hat die Herausforderungen gemeistert und kann durchaus als gelungen bezeichnet werden. Diesem sehr positiven Gesamturteil zur Übersetzung können auch die vereinzelt angetroffenen Ungenauigkeiten nichts anhaben. Gleiches gilt für einige orthografische Fehler, die das Lektorat „überstanden“ haben.
Alles in allem, ein gelungenes, empfehlenswertes Buch, das allen, die sich für die Geschichte der demokratischen Massenbewegungen in Lateinamerika interessieren, zu neuen Erkenntnissen verhilft.
In Zeiten von „wertebasierter Außenpolitik“ kann der Text von Baradit daran erinnern, wie die geopolitischen Interessen des Imperiums sich über universale Werte und Rechte hinwegsetzen, wenn es darum geht, Einfluss „im Hinterhof“ zu sichern und zu erhalten.
Nicht zuletzt möchte der Rezensent darauf aufmerksam machen, dass der 11. September 1973 auch in Deutschland Spuren hinterlassen hat. Die Solidaritätsbewegungen mit dem geschundenen Andenland und die Aufnahme Tausender chilenischer Geflüchteter in Ost- wie Westdeutschland sind ein Kapitel deutsch-deutscher Geschichte, das noch auf seine Aufarbeitung wartet.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.