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Benutzername: 
Günter J. Matthia
Wohnort: 
Berlin

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Bewertung vom 08.06.2010
Lass dich fallen und flieg!
Lenzen, Christof

Lass dich fallen und flieg!


ausgezeichnet

Der Titel dieses Buches lässt auf den ersten Blick eine weitere fromme Rezeptsammlung befürchten. Von wegen! Dies ist ein Werk, das sich widerspenstig der Einordnung in die Rubrik »Ratgeber« entzieht. Christof Lenzen hat einen Erfahrungsbericht geschrieben, der nicht etwa Patentrezepte anzubieten versucht, sondern den Leser einlädt, die eigene Glaubens- und Lebenssituation zu hinterfragen, um so zu ganz persönlichen Ergebnissen zu kommen.
Einfache Lösungen wird man hier vergeblich suchen, mit gutem Grund. Der Autor weiß, worüber er schreibt, denn er ist kein trockener Theoretiker, sondern einer, der mit Menschen umgeht, mit ihren Sorgen, Nöten, aber auch mit ihren Erfolgen und ihrer Freude vertraut ist. Ein Pastor, der seinen »Schafen« sehr nahe ist und der auch sich selbst als Mensch begreift, nicht als abgehobene geistliche Figur auf einem Sockel. Genau das macht dieses Werk glaubhaft, hilfreich, wertvoll.
Ganz konkrete, existentielle Fragen werden nicht ausgespart, zum Beispiel »Was habe ich getan, dass Gott mich so bestraft?« Was hört man nicht alles in manchen frommen Zirkeln, wenn jemand von großem Leid oder Unglück getroffen wird: »Du musst nur glauben…«, »Du musst die Verheißungen Gottes nur abholen…«, »Hast du auch allen vergeben…«, »Trägst du noch Schuld aus der Kindheit mit dir herum…« - es ist, mit Verlaub, zum Kotzen. Letztendlich liegt dann die Schuld bei demjenigen, der eine Katastrophe erleidet. Lenzen versucht nicht, die Diskrepanz zwischen Realität und Verheißungen wegzuerklären, sondern er beschreibt, wie man mit und in diversen Spannungsfeldern leben und trotzdem glauben kann. »Hilfreiche Spannungsfelder« hat er den zweiten Teil des Buches überschrieben. Ein praxisnaher, ein entlastender Abschnitt.
Im dritten Teil geht es dann um eine »fruchtbare innere Haltung«. Warum das »in die Hände spucken« keine fruchtbare Haltung sein kann, hat Lenzen selbst erlebt und nachvollziehbar geschildert. Er rückt so manches zurecht, öffnet den Blick für andere Perspektiven und ermutigt, statt anderen nachzuplappern, selbst zu entdecken, was es mit der inneren Haltung und ihren Auswirkungen auf das persönliche Leben auf sich hat.
Anschließend geht es im vierten Teil um »ganzheitliche geistliche Übungen, die uns bewegen«. »Geistliche Übungen« - für viele ein Schreckenswort, das Assoziationen von Mühsal und Qual weckt. Auch für mich. Dieses Buch hat mir geholfen, eine andere Dimension zu entdecken: Oasen im Alltag, Orte der Erholung, Momente des Auftankens.
Schließlich geht es auf den letzten Seiten um die Einladung, das Geglaubte auch in konkretes Handeln umzusetzen. Wieder ohne Patentrezepte, und auch weiter ohne Rücksicht auf fromme Tabus. Zum Beispiel: Die Bibel als Regelbuch für das Leben? Nein. Lenzen gibt kein einfachen Antworten, weil das Leben so einfach nicht ist.
Mein Fazit: Keine leichte Lektüre, die man mal eben so genießt, sondern vielmehr eine Herausforderung, sich selbst, die eigenen religiösen Traditionen und – gottlob – auch die gemeindlichen Frömmigkeitsstile in Frage zu stellen. Kaum ein Leser wird, wenn er sich auf diese Entdeckungsreise einlässt, unverändert daraus hervorgehen.
Wohltuend ist, das sei noch angemerkt, die »handwerkliche« Qualität des Buches. Sprachlich makellos, frei von Plattitüden und dem leider gerade in christlichen Kreisen weit verbreiteten miserablen schlampigen Stil. Lenzen weiß das Handwerkszeug für ein Buch, die deutsche Sprache, zu handhaben. Layout und Druck passen zu dieser Leistung, die Seiten sind liebe- und kunstvoll gestaltet. Ein rundum gelungenes Werk also.

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