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Benutzername: 
Claudia Grothus
Wohnort: 
Osnabrück

Bewertungen

Bewertung vom 06.10.2021
Inmitten der Nacht
Alam, Rumaan

Inmitten der Nacht


ausgezeichnet

Unserer Zeit auf die Haut geschrieben!
Je weniger man über den Inhalt dieses Buches weiß, desto besser. Der Klappentext und die Ankündigungen genügen vollkommen:
Eine Familie in einem Ferienhaus. Auf einmal stehen am späten Abend zwei Fremde vor der Tür und behaupten, es wäre ihr Haus, in der Stadt sei der Strom ausgefallen und sie müssten jetzt hier wohnen. Aber was sie sagen, lässt sich nicht verifizieren, denn alle Mediennetze sind ausgefallen.
Soviel sollte reichen, um das Interesse an der Geschichte zu wecken, ohne zu verraten, wo sie uns hinführt. Die Leserin oder der Leser sollten genauso ahnungslos bleiben, wie die handelnden Personen. Nur so wird eine Überraschung erlebbar, die eigentlich ja gar keine ist.
Anfangs wunderte ich mich darüber, dass der Autor seine Protagonisten anscheinend nicht besonders mag. Wobei „mögen“ auch nicht der richtige Ausdruck ist. Eher scheint er von ihnen nichts zu erhoffen.
Die Protagonisten selbst geraten fast unmerklich, aber auch unvermeidbar, in eine Situation, in der das wegfällt, was ihnen ihr Leben lang das Gefühl von Kontrolle verschafft hat: Informationen über ihre Welt. Und sie versuchen, einfach weiterzumachen mit ihrem Tag, das zu tun, was sie immer getan haben, was man eben tut. Sie halten sich an Formen und Werten fest, an Gewohnheiten, an vermeintlichen Weisheiten, an kleinen Genüssen. Aber da ist ein Teil von ihnen, der es weiß, der schlussfolgert, und sie versuchen, diesen Teil irgendwie in Schach zu halten.
Rumaan Alam holt dieses Gefühl, es zu wissen, aber nicht wissen zu wollen, es kommen zu sehen, aber irgendwie davon auszugehen, dass es doch nicht kommt, fast genüsslich an die Oberfläche. Überdeutlich und stetig zunehmend fesselnd. Stumpfe Normalität wird unaufhaltsam durch eine als absurd empfundene Realität unterwandert. Und diese Realität ist da draußen, während wir drinnen Kuchen backen. Sie klopft an die Tür. Wir haben dieses Klopfen erwartet und sind trotzdem überrascht, dass es tatsächlich jetzt soweit ist.
Letztendlich beschreibt „Inmitten der Nacht“ das aktuelle Lebensgefühl aller Menschen, die sich darüber im Klaren sind, was gerade mit unserem Planeten passiert.
Die leise, sich Zeit lassende, lakonische Eindringlichkeit dieses Buches ist ganz große Erzählkunst!
Ein Roman der unserer Zeit auf die Haut geschrieben ist. Unbedingt lesen!