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Frie
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Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 05.11.2025
Borrmann, Mechtild

Lebensbande


ausgezeichnet

Was für ein Pageturner!

Lebensbande ist ein eindrucksvolles Stück deutscher Geschichte – eine vielschichtige Erzählung, die vom Zweiten Weltkrieg bis in die frühen 1990er-Jahre reicht.

Im Mittelpunkt steht Lotte, die in der DDR lebt. Schritt für Schritt wird ihre Vergangenheit enthüllt, während sich parallel dazu die Geschichten von Lene am Niederrhein und Nora in Ratingen entfalten. Drei Frauen, deren Lebenswege sich berühren, trennen und schließlich wiederfinden. Erst 1993 löst sich das Geflecht aus Geheimnissen und Schweigen – und die Wahrheit kommt ans Licht.

Mechtild Borrmann verknüpft große Themen mit großer Sensibilität: die fehlenden Rechte der Frauen, Euthanasie im Dritten Reich, Bombennächte, Widerstand und das Leben nach der Gewalt. Besonders stark fand ich, wie sie das Schweigen einer Generation zeigt, die sich von ihren Gefühlen entfremdet hat – etwa im Umgang mit der Vergewaltigung durch russische Soldaten.

Ich kam keiner der Frauen richtig nah, das kenne ich aber schon von meiner verstorbenen Großmutter- das Erlebte wurde weggeschmissen. Für mich passend umgesetzt.

Die Figuren sind glaubhaft, ihre Lebensumstände plastisch beschrieben. Die Autorin versteht es meisterhaft, historische Fakten mit menschlicher Tiefe zu verbinden. Lebensbande ist nicht nur spannend, sondern auch berührend und aufklärend – ein Buch, dass mir in Erinnerung bleiben wird.

Ich bin schon lange Fan von Mechtild Borrmanns Romanen – und dieses Buch zeigt einmal mehr, warum.

Bewertung vom 23.09.2025
Handorf, Anne

Es könnte so einfach sein


gut

Das Äußere dieses Romans ist eine Augenweide: Das schön gestaltete Cover mit Schutzhülle, der leuchtend orangefarbene Vorsatz und der blaue Einband mit oranger Schrift versprechen ein besonderes Leseerlebnis. Hinter dem Pseudonym Anne Handorf stehen Carla Grosch und Volker Jarck, die uns auf den Lebensweg von Vera Albach mitnehmen – von ihrer Kindheit 1947 bis hin zu ihrem letzten Roman im Jahr 2006.

Erzählt wird auf zwei Ebenen: Zum einen in Rückblicken auf Veras berufliche und private Entwicklung, zum anderen in der Jetztzeit, während sie an ihrem finalen Werk arbeitet. Der mühsame Weg zur Bestsellerautorin führt über Verlagswechsel, Rückschläge und die späte Möglichkeit, unter ihrem eigenen Namen und nicht unter einem männlichen Pseudonym zu veröffentlichen. Begleitet wird sie von ihrer Familie und einem verhassten Literaturkritiker, der in ihrem Leben noch eine wichtige Bedeutung haben wird.

Trotz des interessanten Settings bin ich mit Vera als Figur nicht warm geworden. Ihre Schreibblockaden waren für mich eher ermüdend geschildert, sodass ich irgendwann nur noch die Augen rollen konnte. Ihren Mann Leo empfand ich zwar als sympathisch, aber sein beständiger Gleichmut wirkte stellenweise blutleer. Statt der erhofften Konflikte zwischen Männern und Frauen im Literaturbetrieb – gerade in einer Zeit, in der ältere Herren gerne für jüngere Frauen „besser wussten, was richtig ist“ – blieb für mich vieles zu sehr an der Oberfläche.

Die zahlreichen historischen Referenzen fand ich stellenweise spannend, insgesamt jedoch „zu dick aufgetragen“; sie wirkten, als sollte dem Buch damit zusätzliches Gewicht verliehen werden. Besonders interessant war für mich dagegen der Blick hinter die Kulissen des Schreibprozesses: Den Autoren beim „Arbeiten über die Schulter“ schauen zu dürfen, hatte einen gewissen Reiz.

Unterm Strich blieb das Buch für mich jedoch zu seicht. Auch die familiären Konflikte lösten sich, wie erwartet auf - das hat ein bisschen was von Groschenroman.
Schade, das schöne Äußere konnte den eher blassen Inhalt nicht retten.

Bewertung vom 01.09.2025
Allende, Isabel

Mein Name ist Emilia del Valle


sehr gut

Isabel Allende entführt uns in ihrem neuesten Roman in das Chile des frühen 20. Jahrhunderts und erzählt die Geschichte von Emilia del Valle, einer unehelichen Tochter eines verschwenderischen Lebemanns. Aufgezogen von ihrer tief religiösen Mutter, die ohne „Fehltritt“ wohl Nonne geworden wäre, wächst Emilia in einem Spannungsfeld zwischen Scham, Konventionen und Selbstbestimmung auf. Eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt ihr Stiefvater, den sie liebevoll Pappo nennt. Er ist Lehrer, unterstützt Emilias Bildung und bestärkt sie darin, eine eigene Meinung zu haben – eine Seltenheit für Frauen ihrer Zeit.
Schon früh entdeckt Emilia ihre Leidenschaft für das Schreiben. Unter einem männlichen Pseudonym veröffentlicht sie zunächst Groschenromane. Ihr Talent bleibt nicht unbemerkt und so darf sie schließlich für eine Zeitung arbeiten; noch unter dem alten Pseudonym. Als in Chile der Bürgerkrieg ausbricht, wird sie gemeinsam mit einem weiteren Journalisten als Kriegsreporterin entsandt. Diese Zeit verändert sie und ihr Schreiben: Fortan veröffentlicht sie unter ihrem eigenen Namen.
Ein großer Teil des Romans widmet sich den Grausamkeiten des Bürgerkrieges – blutige Kämpfe, Amputationen, Folter und Scheinhinrichtungen werden sehr detailliert beschrieben. Allende spart nichts aus, was die Szenen eindringlich, aber teilweise schwer erträglich macht. Hier hätte die Autorin mit weniger expliziten Details und mehr Andeutung ebenso starke Wirkung erzielt.
Neben der packenden Schilderung historischer Ereignisse lebt der Roman von der Entwicklung einer mutigen, selbstbestimmten Frau, deren Liebe zu ihrem Land und zur Literatur in jeder Zeile spürbar ist. Auch die Begegnung mit ihrem leiblichen Vater, der sie schließlich adoptiert, ist ein zentraler Wendepunkt.
Das Ende hingegen wirkt etwas zu knapp und fast mythologisch überhöht, was in seiner Ausgestaltung nicht ganz zum Alter der Protagonistin passt und stark nach einer möglichen Fortsetzung klingt.
Das Cover ist ansprechend, passt aber nicht zum Inhalt des Buches. Ich hätte den Blick auf den beschriebenen Vulkan und die Figur der Emilia in der chilenischen Vegetation besser gefunden.
Fazit:
Ein atmosphärisch dichter Roman mit einer starken weiblichen Hauptfigur, einem eingängigen erzählerischen Stil und einer spannenden historischen Kulisse. Die drastischen Kriegsszenen könnten Leserinnen und Leser mit empfindlicherem Gemüt herausfordern, und das Ende lässt einen leicht unbefriedigt zurück. Dennoch ein fesselndes Buch, das gekonnt Themen wie Selbstbestimmung, Liebe und politische Umbrüche verbindet.

Bewertung vom 23.04.2025
Bilkau, Kristine

Halbinsel


gut

Als Linn bei einem Vortrag zusammenbricht, holt ihre Mutter Annett sie zu sich auf eine kleine Halbinsel am Wattenmeer – in jenes Haus, in dem sie als junge Witwe ihre Tochter großgezogen hat. Vieles hat Annett damals zurückgestellt, um Linn den bestmöglichen Start ins Leben zu ermöglichen. Und tatsächlich schien es zunächst gelungen: Linn geht ihren Weg, reist durch Europa, engagiert sich in Umweltprojekten.

Doch aus einer geplanten Woche zur Erholung werden Monate. Die Mutter ist ratlos, wie sie mit dieser neuen, antriebslosen Version ihrer Tochter umgehen soll. Linn wirkt wie eingefroren. Und doch ist es nicht nur ihre Starre, die auffällt – sondern auch die der Mutter. Annett träumt zwar von beruflichen Veränderungen, von einem anderen Alltag, einem anderen Selbst – aber es bleibt beim Gedanken:

> „Trotzdem, wenn ich eine interessante Ausschreibung lese, stelle ich mir vor, wie dieser neue Alltag aussehen könnte, wo ich wohnen würde, was ich sonst noch tun würde, wer ich sein könnte.“

Auch als Linn später nach Schweden geht, scheint Annett auf Befreiung zu hoffen – doch es ändert sich nichts. Statt sich neu zu orientieren, lebt sie gedanklich weiterhin in der Welt ihrer Tochter. Sie malt sich eine Zukunft als Großmutter aus, sieht sich quasi schon mit Kinderwagen am Deich entlanggehen. Es ist ein Leben in der Vorstellung, nicht in der Realität.

Linn dagegen organisiert im Hintergrund längst ihren Auszug aus der Unterkunft in Berlin. Sie versucht, sich zu lösen – während Annett immer noch über Dinge nachgrübelt, die nicht mehr in ihren Zuständigkeitsbereich gehören. Besonders deutlich wird das, als es im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch etwas zu klären gibt: Annett übernimmt Aufgaben, die eindeutig die ihrer volljährigen Tochter wären. Sie meint es gut – aber sie ist übergriffig.

Linn bringt es in einem Satz auf den Punkt:

> „Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin wie ein Projekt für dich. Ich soll deinen Ehrgeiz befriedigen, den du dir selbst aber nie eingestehen würdest. Ich soll deine Hoffnungen erfüllen.“

Es sind starke Sätze, und doch bleibt der Roman – trotz solcher Momente – seltsam zurückhaltend. Die Konflikte werden angerissen, ausgesprochen, aber selten durchlebt oder gar gelöst. Die Figuren verheddern sich in alten Rollenbildern, reden aneinander vorbei – und das Buch scheint sich mit diesem Status quo zufrieden zu geben.

Der Stil ist schnörkellos, fast nüchtern – das passt zur norddeutschen Küstenlandschaft, in der der Roman spielt. Und doch wünsche ich mir an manchen Stellen mehr Reibung, mehr Mut zum Konflikt. Ich bin selbst keine Mutter, sehe diese Beziehung also als außenstehende Beobachterin – und ich hätte die beiden manchmal am liebsten geschüttelt und gesagt: Redet doch einfach mal miteinander!

Ich hatte mich auf das Buch gefreut, auch wegen der Nominierung für den Deutschen Buchpreis. Doch die Begeisterung der Jury kann ich nicht teilen. Halbinsel hat gute Ansätze, ein stimmungsvolles Setting, und eine psychologisch interessante Konstellation – aber es bleibt mir zu sehr in Andeutungen stecken. Kein schlechtes Buch. Aber eben auch keines, das lange bei mir nachklingt.

Bewertung vom 25.02.2025
Anders, Florentine

Die Allee


sehr gut

Vom Titelbild, gestaltet wie eine grafic novel, blicken uns der Architekt Hermann, seine Frau Isi und die Tochter Isa Henselmann entgegen; darunter sind die im Buch beschriebenen Gebäude in Ost-Berlin, an denen Henselmann beteiligt war, abgebildet.
Florentine Anders beschreibt in 'die Allee' die Geschichte ihrer Großeltern und ihrer Mutter.
In kurzen Kapiteln begleiten wir zunächst die Großeltern ab 1931 und später alle drei bis 1995, dem Jahr, in welchem Hermann Henselmann verstarb.
Henselmann lernt die jüngere Isi kennen und bringt sie dazu, sich von ihm ausbilden zu lassen. Isi wird Mutter von 8 Kindern und ist die meiste Zeit rechte Hand und Sekretärin ihres Mannes.
Hermann Henselmann ist ein unsympathischer Mann; er ist cholerisch, betrügt seine Frau und hängt sein Fähnchen nach dem Wind, um weiterhin für das DDR Regiem tätig sein zu können.
Insbesondere Isa, eines der jüngeren Kinder, muss die Wut des Vaters öfter aushalten.
Die Mutter schützt sie nicht.
Eine der wirklich schlimmen Szenen im Buch ist die Stelle, an der Isa in einer Klinik eingesperrt wird, weil sie angeblich eine Geschlechtskrankheit hat. Dort wird sie quasi täglich im Genitalbereich brutal untersucht. Der Familie scheint das egal, ein Freund ihres Bruders trifft zufällig als Psychologe in der Klinik auf sie und sorgt für ihre Entlassung.

Das Buch soll eigentlich die Geschichte des Architekten und seine Leistung für die DDR beschreiben. Für das Verständnis fehlen mir im Buch Bilder oder wenigstens links auf entsprechende Seiten im Netz.
Mir sind die DDR Gebäude nicht bekannt - ich konnte also manche Inhalte des Buches nicht nachvollziehen.
Mehr gefesselt hat mich die dysfunktionale Familie. Die mit sich beschäftigten Eltern von 8 Kindern ziehen oft um, entreißen die Kinder dem Umfeld, ziehen in eine Doppel-Wohnung und lassen sich die Kinder selbst erziehen; schicken die Tochter ins Internat.
Isa gehört mein Respekt: dass sie es geschafft hat, unter widrigen Umständen ihre Kinder aufzuziehen und zu einem selbstbestimmten Leben zu finden.
Ich habe in den letzten Monaten einige Bücher gelesen, die das Leben in der ehemaligen DDR beschreiben. Fast ausnahmslos wird Gewalt, Sprachlosigkeit und Bespitzelung beschrieben.
Es ist mir unerklärlich, dass es Menschen gibt, die sich das zurück wünschen.
Selbst die privilegierte Familie Henselmann hat unter dem Regiem gelitten.

Abschießend bleibt neben dem tollen Einband (ich bin Kat Menschik Fan) mehr die Familiengeschichte, denn die Referenzen zur Architektur bei mir haften.
Der distanzierte, eher beschreibende Stil hat für mich keine Nähe zu den Personen aufkommen lassen; das machte deren Handeln noch schlimmer für mich.
Für Ost-Berliner, die die Gebäude kennen, bestimmt ein tolles Buch. Auch für Menschen mit Interesse am Leben in der DDR ist 'die Allee' aufschlussreich. Mir bleibt das Buch aber weniger wegen der Architektur, als mehr wegen der soziologischen Aspekte in Erinnerung. Respekt für Florentine Anders für die Ehrlichkeit und den Mut das alles offen zu legen.

Bewertung vom 02.10.2024
Lindinger, Michaela

Wallis Simpson


sehr gut

Michaela Lindinger liefert mit ihrem Buch „Wallis Simpson“ eine interessante Biografie über eine schillernde Figur des 20. Jahrhunderts.
Das Buch ist auffällig gestaltet und fällt durch die gelungene Gestaltung und gute Haptik auf.
Das Buch hält viele Photos bereit. Leider ist die kleine weiße Schrift auf dem roten Untergrund nicht gut zu lesen.

Durch die neue Informationen und die unkomplizierte Erzählweise gelingt es Lindinger, das Leben von Wallis Simpson, auf kurzweilige Weise zu beleuchten.

Das Buch fällt durch seine historische Kontextualisierung auf, die den Leser nicht nur durch die wesentlichen Ereignisse im Leben der Wallis Simpson führt, sondern auch die politischen und sozialen Hintergründe ihrer Zeit veranschaulicht.
Mir war nicht bekannt, dass sie am Ende quasi ungewollt in diese Ehe mit König Edward VIII. geriet, der -die Gelegenheit beim Schopfe packend- einfach die Krone niederlegte, die er nie wollte.

Es bleibt ein Paar, welches sich in einer Welt voller Erwartungen und Normen behaupten musste. Die eher schlichten emotionalen und psychologischen Dimensionen von Wallis und Edward werden klar beschrieben; ich war zwischen Entsetzen und Mitleid hin und her gerissen. Liebe war jedenfalls nicht das Band zwischen den Beiden. Glücklich waren sie nicht, was man auch den vielen sehr ernsten Photos entnehmen kann.
Bei Edward hat die Erziehung eine Störung in der Entwicklung bewirkt und Wallis hatte eine seltene Erkrankung, die sicher Einfluss auf deren Aussehen und ihr Verhalten hatte. Tauschen möchte ich nicht mit ihnen.

Insgesamt ist „Wallis Simpson“ von Michaela Lindinger eine spannende Biografie und sicher ein Gewinn für jene, die sich für diesen ungewöhnlichen Teil britischer Geschichte interessieren.

Bewertung vom 14.09.2024
Lanzinger, Caroline

100 Resilienz Tools für den Alltag Einfach und effektiv innere Stärke, psychische Widerstandskraft und Stressresistenz trainieren


sehr gut

Caroline Lanzinger, Psychologin aus dem Klinikbetrieb, legt mit '100 Resilienz Tools für den Alltag' eine wertvolle Übersicht über Strategien und Techniken zur Entwicklung und Stärkung der eigenen Resilienz vor.
Das Inhaltsverzeichnis zeigt auf, bei welchem Themengebiet welche Tools zum Einsatz kommen. Die Autorin lädt ein, nicht alles durch zu arbeiten, sondern sich die Tools raus zu suchen, die einen ansprechen. Es macht Sinn, ein Arbeitsbuch zu nutzen, da es auch Themen zu notieren und zu bearbeiten gibt.
Es finden sich schöne Dinge dabei, auf die ich mich schon beim Lesen freue und deren Effekt ich mir bildlich vorstellen kann.
Da sich das Buch m.E. eher für Fortgeschrittene eignet ( für Themen wie schlechten Schlaf und Prokrastination braucht es aus meiner Sicht mehr Unterstützung), muss man sicher auch einen Blick in die Literaturliste werfen, die etwas ausführlicher und passend zu den Kapiteln gegliedert sein könnte.
Das Buch ist eine umfangreiche Zusammenfassung vieler Ideen, zur Stärkung der Resilienz. Es erfordert aktive Mitarbeit und wartet mit interessanten Ideen zur Auseinandersetzung mit den eigenen Themen auf. Am besten macht man sich 3-4 mal im Jahr eine Erinnerung in den Kalender und schaut noch mal nach, welches Tool gerade in die eigene Lebenssituation passt. Definitiv ein Buch zum Behalten ( Entwicklung braucht Zeit). Inhaltlich 5 Sterne, die wegen der unübersichtlichen Gestaltung zu 4 Sternen werden. Klare Leseempfehlung von mir.

Bewertung vom 09.09.2024
Tambrea, Sabin

Vaterländer


ausgezeichnet

Was für ein tolles Buch.
Ich mag Sabin Tambrea ohnehin als Schauspieler. Seine Augen sind besonders und in deren Tiefe liegt etwas, das ich mir bisher nicht erklären konnte.
Nach diesem Buch verstehe ich auf jeden Fall Teile davon.
Tambrea hat ein Buch über sich und seine Familie geschrieben.
Das erste Kapitel behandelt sein Ankommen in Deutschland nach der Ausreise aus Rumänien. Seine Entwicklung von der Geige über den Chor zum Schauspieler; das zweite Kapitel die Erlebnisse seines Großvaters mit der Securitate und das dritte Kapitel das Zueinanderfinden seiner Eltern, die nach der Flucht des Vaters dann aber fast 2 Jahre getrennt lebten.
Für seine Kindheit und Jugend findet Tambrea sehr bildhafte und berührende Beschreibungen. Er ist sehr ehrlich mit uns als Lesern und schon im ersten Kapitel wird klar, dass er mit seinen vielen Unfällen (sehr trocken erzählt) und Ängsten im Schlaf eine Last trägt, die vermutlich in der Familiengeschichte wurzelt.
Wenn Sabins Großvater Horea in Kapitel 2 seine über 2,5 jährige Haftzeit beschreibt, versteht man nicht nur Sabins Ängste sondern wundert sich, was Menschen alles aushalten können.
Ich wusste nicht, dass Rumänien ein solcher Unrechtsstaat war, und mit welchen Mitteln dort Menschen gequält und geschundenen wurden. Das Kapitel ist als Erlebnisbericht des Großvaters aufgemacht, der in seinem Nachlass gefunden wird.
Die Annäherung von Sabins ehrgeizigen Eltern aneinander beschreibt Kapitel 3. Es ist eine beeindruckende Liebesbeziehung, von der wir etwas lernen können. Beide sind Berufsmusiker und wir erleben mit, wieviel Übung den Meister macht.
Immer mal werden rumänische Sätze eingeflochten, die aber sehr geschickt ins Deutsche übersetzt werden, so dass man alles verstehen kann.
Sehr interessant sind die Erläuterungen zur politischen 'Entwicklung' Ceaucescus und die Auswirkungen seines kranken Geistes auf das bemittleidenswerte rumänische Volk.
Dieses Buch zeigt, warum wir Menschen aus Unrechtsstaaten bei uns aufnehmen müssen und zeigt aber auch, welchen eigenen Anteil diese Menschen dann daran haben, gut hier anzukommen und ein wichtiger Teil der Gesellschaft zu werden. Wie schön, daß das Buch Vaterländer heißt. Ich verstehe es so, dass Deutschland eines davon ist.
Wer Tambrea mag, etwas über den Beruf des Musikers lesen oder etwas über Rumänien zur Zeit Ceaucescus erfahren möchte, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Bewertung vom 01.08.2024
Karnick, Julia

Man sieht sich


ausgezeichnet

Julia Karnick kann einfach gut schreiben. Atemlos habe ich mich durch dieses Buch gelesen; wollte nicht, dass es zuende geht, mochte aber auch nicht aufhören.
Nicht nur, dass die Autorin eine 'flotte' Schreibe hat bei der man ihr leicht folgen kann und will, so hat sie auch wunderbare Beschreibungen parat. Es würde mich nicht wundern, wenn es etwas aus diesem Buch in eine Aphorismen Sammlung schafft, so zB: "Je älter man wird, desto mehr wird Glück zu etwas, das auch immer ein bisschen wehtut".

Außerdem habe ich das Gefühl, meine Fantasie 'anwerfen' zu können, da nicht alles en Detail beschreiben wird.
Es ist kein Liebesroman, es ist auch keine coming of age Geschichte. Es ist mehr: ein Buch über Beziehungen; über Dinge, die uns prägen; über Gefühle und die Erlebnisse, die diese beeinflussen; über Treue, Freude, Trauer, Angst und Liebe. Ein Buch, das auf jeder Saite, die unser Leben ausmacht, spielt.
Neben den beiden wichtigsten Personen, Frie und Robert hat Julia Karnick auch weitere Protagonisten gut entworfen: Herrn Selk, den väterlichen Freund von Robert; hier können wir mal Luft holen und die Dinge aus der Distanz des Alters betrachten oder Emma, die Tochter von Frie, die sehr treffende und witzige Kommentare abgibt.
Einzig das Ende des Buches kommt mir etwas zu früh: ich hätte den Beiden auch die ruhige Phase der Liebe gegönnt und gerne darüber gelesen.
Das Buch ist sehr schön gestaltet, die drei roten Blöcke, das Paar, welches durch einen weißen Strich getrennt ist; der knappe, eingängige Titel. Das Buch ist ein Hingucker.
Von mir gibt es 4,5 Sterne und eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 14.06.2024
Dahmen, Tobi

Columbusstraße


ausgezeichnet

Das ist ein beeindruckendes Buch, nicht nur bezogen auf sein Gewicht.
Ich bin überrascht, daß ein so schweres Thema so gnadenlos gut umgesetzt werden kann.
Natürlich hatte ich etwas Respekt, da die Themen zweiter Weltkrieg und 3. Reich keine leichten sind.
Tobi Dahmen nimmt sich Anhand von Unterlagen seiner Familie (hier insbesondere Briefe und Fotos) seine Familiengeschichte vor und arbeitet diese in Form einer Grafic Novel auf.
Dieses Buch ist das beste Beispiel dafür, daß eine Grafic Novel nicht einfach ein Comic ist, sondern eine Form der literarischen Bearbeitung von Themen mit Hilfe von Bildern.
Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch in der Schule den Unterricht zum Zweiten Weltkrieg ergänzen könnte, weil ich glaube, dass Jugendliche über die Bilder einen besseren Zugang zum Thema finden und wenn man das Glossar beim Anschauen und Lesen mitbenutzt, erhält man sehr viele Informationen. Selbst ich, die ich mich schon intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt habe, konnte durch dieses Glossar noch mal etwas dazu lernen.
Das Buch weist beeindruckende Anlagen auf, nämlich auch ein Bild- und Textquellenverzeichnis, eine Literaturliste und Leseempfehlungen.

Mir gefällt der Zeichenstil und es gibt beeindruckende Stellen zB bei den Kriegsszenen oder Lotte mit schwerer Erkrankung: Tobi Dahmens unbewegte Bilder können ohne Worte ein Kaleidoskop an Emotionen transportieren.

Ich empfehle es jedem der sich für Familiengeschichte interessiert; jedem der sich für den Zweiten Weltkrieg interessiert; jedem der Graphic Novels mag. Ich bin auch der Meinung, dass es sich als Geschenk eignet, trotz des schwierigen Themas.
Ich bin wirklich restlos begeistert. Von mir gibt 5 pralle Sterne und eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

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