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digitus
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Schwäbische Alb

Bewertungen

Insgesamt 19 Bewertungen
12
Bewertung vom 08.04.2024
Was das Meer verspricht
Blöchl, Alexandra

Was das Meer verspricht


ausgezeichnet

Die Welt bleibt stehen

Ganz große Klasse. Für mich (bis jetzt) mein Buch des Jahres.

Alexandra Blöchl erzählt die Geschichte von Vida (nicht umsonst mit der Konnotation "Leben", die auf einer kargen und einsamen Nordsee-Insel lebt und im Laden ihrer Eltern arbeitet. Sie soll den Sohn vom Nachbarhof heiraten. Alles scheint auf leidlich zufriedenstellende Art vorgezeichnet.

Und dann taucht eine junge Frau auf, die den verlassenen Hof in Sichtweite gekauft hat und herrichtet. Was als schüchternes Herantasten beginnt, entwickelt sich zur Liebesbeziehung zwischen den jungen Frauen, die Horizonte eröffnet, aber auch viel infrage stellt.

Und dann kehrt Vidas Bruder Zander auf die Insel zurück und spätestens ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr wie es war.

Die Autorin zeichnet ihre Figuren plastisch und lässt uns tief in das Seelenleben der Ich-Erzählerin blicken. Das Buch ist ebenso anregend wie packend.

Absoluter Lesetipp.

Bewertung vom 31.03.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Dieses immense Licht

David James Poissant ist ein begnadeter Erzähler, der in diesem Buch eine Familiengeschichte erzählt und dabei vor allem die Abgründe der Protagonistinnen und Protagonisten erzählt.

Wir lernen das Elternpaar Lisa und Richard kennen, im bzw. kurz vor dem Ruhestand, sowie ihre Kinder Michael und Thad mit den jeweiligen Partner:innen.

Alle werden ausführlich vorgestellt und so geschildert dass man sie förmlich vor sich sieht. Viel Unausgesprochenes, viel Leidvolles, viel Unerlöstes ...

Dass es am Ende trotz aller Zerrissenheit ein Happy End gibt, ist nicht unschlüssig, lässt mich aber dennoch irgendwie unzufrieden zurück. Ein offeneres Ende wäre mir stimmiger erschienen, aber es ist wie es ist.

Die Meisterschaft von Poissant und seiner Übersetzerin Sibylle Schmidt wird auf jeder Seite deutlich und deswegen ist das "Sommerhaus am See" trotz der Einschränkung ein Lesetipp

Bewertung vom 18.03.2024
Der Wald
Catton, Eleanor

Der Wald


sehr gut

Sei löwenkühn und stolz

Ganz offenkundig soll dieses Buch zum Bestseller aufgebaut werden mit einer großen Anzeigenkampagne in Printmedien und sozialen Netzwerken. Seit ein paar Tagen kann man dem Titel kaum mehr ausweichen ...

Aber "Der Wald" ist packend geschrieben. Er lebt von der plastischen Schilderung seiner Protagonist:innen: Mira und Shelley, zwei Aktivistinnen einer neuseeländischen Guerilla-Gardening-Initiative, Tony, einem Ex-Aktivisten, dem der Kurs der Initiative inzwischen zu lax und zu unpolitisch ist und schließlich Robert, einem aalglatten Milliardär, aus den USA, der hauptsächlich seinen eigenen Vorteil im Blick hat.

Klingt nach einer Idealismus vs. Kapitalismus Geschichte, die man in unterschiedlichen Plattitüde-Stufen schon x-mal gelesen hat. Das Spannungsfeld Umweltschutz gegen Profit zieht sich durch die über 500 Seiten.

Der nuancierten Erzählweise der Booker-Preisträgerin Eleanor Catton und der Übersetzung durch Meredith Barth und Melanie Walz ist es zu verdanken, dass das Buch nie langweilig wird und selbst der Bösewicht bei aller Kaltschnäuzigkeit und allem Zynismus liebenswerte Züge bekommt.

Für mich (trotz der Marketingkampagne, die mich eher irritiert) ein Lesetipp.

Bewertung vom 05.03.2024
Elyssa, Königin von Karthago
Vallejo, Irene

Elyssa, Königin von Karthago


ausgezeichnet

Troja und Karthago - Aeneas und Elyssa

Das Buch hat ein wunderschön gestaltetes, aufwändig teils golden gedrucktes und typisch klassisches Diogenes-Verlag-Cover. Schon allein das spricht mich an ...

Und dann erzählt die spanische Autorin Irene Vallejo ebenso poetisch wie wortgewaltig die Aeneis neu. Aus weiblicher Sicht bekommen die ewig aktuellen Themen Krieg, Flucht und Liebe neue Akzente.

Die einzelnen Kapitel werden jeweils aus der Sicht der Protagonist:innen erzählt: Aeneas, Anna (ein Flüchtlingsmädchen, das von der Königin aufgenommen wurde und prophetische Fähigkeiten hat) sowie Elyssa, die Königin von Karthago. Und dann spielt auch noch Eros, der Gott der Liebe, bei dieser Inszenierung mit, schaut zu, lenkt und kommentiert.

Zwischendrin kommt noch Vergil, der Dichter selbst zu Wort, der mit seiner Rolle als von Kaiser Augustus abhängiger Hofdichter hadert und mit einer Schreibhemmung kämpft.

Mich hat selten ein Buch so gefangen genommen. Ich konnte es kaum aus der Hand legen und bin tief eingetaucht in diese im Wortsinne sagenhafte Handlung.

Für mich bereits jetzt mein Buch des Jahres!

Die teils drastischen Schilderungen des Krieges sind stimmig, aber nichts für Zartbesaitete. Dennoch ist das Buch eine gleichermaßen inspirierte wie inspirierende Lektüre.

Volle Punktzahl und unbedingter Lesetipp.

Bewertung vom 03.03.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Nirgends dazugehören

Ein Zufall führte dazu, dass ich unmittelbar vor "Mutternichts" das Buch "Eine Frau" der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux gelesen habe.

Auch da geht es der Ich-Erzählerin um eine Annäherung an die eigene gerade verstorbene Mutter. Das Buch von Annie Ernaux, an das ich - wegen des Nobelpreises - hohe Erwartungen hatte, fand ich erstaunlich belanglos.

Ganz anders das ähnlich schmale Bändchen mit dem Debüt der 1969 in Bozen geborenen Christine Vescoli, die sich auch auf die Reise macht, sich die Lebensgeschichte ihrer Mutter zu erarbeiten. Was war dieses "Mutternichts", dieses Geheimnis, was hat die Mutter verborgen?

Die Mutter habe ihr ihr Nichts hinterlassen, schreibt die Ich-Erzählerin: "existente Inexistenz".

Die Wortgewalt von Christine Vescoli macht es mir als Leser nicht leicht, in das Buch hineinzufinden, die Sprache der Autorin will gleichfalls erarbeitet werden.

Dann aber nimmt sie einen gefangen und lässt einen eintauchen in die Welt von Urgroßmutter, Großmutter und Mutter. Die Mutter, die weggegeben und mit acht Jahren "Dirn" auf einem anderen Bauernhof wurde. Somit gehörte sie nirgends dazu, weder zur Herkunftsfamilie, die ihr immer mehr entrückt noch zum neuen Umfeld.

Manche Schilderungen sind in ihrer Intensität kaum auszuhalten, dennoch ist "Mutternichts" ein unbedingt lesenswertes Buch - keine leichte Kost aber gewinnbringend im Sinne einer Horizonterweiterung.

Bewertung vom 19.02.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


weniger gut

Die Realität hinter der Realität

Mich hat das Buch etwas ratlos zurück gelassen. Es ist flüssig zu lesen, aber es ist schwer, den vielen Rückblenden zu folgen und die Bezüge zum Hier und Jetzt herzustellen.

Georg erhält eine skurrile SMS seines Vaters, die er so deutet, dass dieser eine Affäre hat und mit ihr eine Urlaubsreise antreten will.

Georg, der gerade auf der Hochzeit seines besten Freundes in Kroatien ist, bricht überstürzt auf, um seinen Vater zu stellen.

Dabei entdeckt er im Sinnieren während der Fahrt weitere Ungereimtheiten: ist sein Vater ein Agent, ist er schwer krank, hat er noch eine zweite Familie?

Sind das alles Hirngespinste oder ist es Realität?

Wie gesagt: Flüssig zu lesen, aber irgendwie fehlt mir die Pointe. Ich habe das Buch gelesen, aber weiß nicht so recht, was es sein soll: Möchtegern-Road-Movie mit einem Hauch Coming-of-Age?

Nichts halbes und nichts ganzes. Schade irgendwie.

Bewertung vom 12.01.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


sehr gut

Zueinander hin ...

Wie großartig beginnt dieser Roman: Zwei Menschen, die sich durch die Fenster ihrer Wohnungen beobachten ohne zu bemerken, dass sie sich wechselnd gegenseitig beobachten. Und das so feinsinnig, gleichermaßen zurückhaltend und wortgewaltig beschrieben, dass es mich als Leser sofort gefangen nimmt.

In den weiteren Kapiteln lernen wir die Figuren dann genauer kennen: Jack Baker, einen Fotografen und Elisabeth Augustine, die ein Konzert im "Empty Bottle" besucht, weil sie herausgefunden hat, dass jener Fotograf, den sie heimlich beobachtet, dort Fotos macht.

Letztlich heiraten sie und wollen eine moderne Ehe führen. Und dabei stehen ihnen immer wieder Erfahrungen aus der eigenen Lebensgeschichte und Strukturen aus den Herkunftsfamilien im Weg. Das alles ist mit großer Intensität und Sympathie für die Figuren erzählt.

Keine leichte Kost für nebenher. Dennoch (trotz oder gerade wegen der gut 700 Seiten) ein abwechslungsreicher und lohnender Lesestoff.

Bewertung vom 01.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Filmreif - kalter Krieg hautnah erlebt

Das Buch von Ben Macintyre erzählt eine wahre Spionagegeschichte, die schon auf den ersten Seiten wie ein Achtionthriller daherkommt.

Leserinnen und Leser erhalten Einblicke in den KGB und lernen die Lebensgeschichten von Menschen kennen, die in dieser Welt leben.

Wir lernen Oleg Gordijewski kennen, der die Tätigkeit im KGB praktisch in die Wiege gelegt bekommt, weil bereits sein Vater Agent im sowjetischen Geheimdienst war. Er legt eine mustergültige Karriere hin, auch wenn er - getriggert durch das hautnahe Miterleben des Mauerbaus in Berlin - immer eine gewisse innere Distanz zum System der Sowjetunion hält.

Und so wird er schließlich Doppelagent und findet sich in der Folge zwischen den Geheimdiensten Russlands, der USA und Großbritannien wieder.

Gordijewski ist eine reale Figur der Zeitgeschichte und so bewegt sich das Buch von Ben Macintyre zwischen Sachbuch und Roman, ist - wie der Guardian laut einem Hinweis auf dem Cover schrieb - ein "Non-Fiction-Thriller".

Der schriftstellerischen Kunst des Autors (und der gelungenen Übersetzung) ist zu verdanken, dass das Buch von Anfang bis Ende flüssig, ja geradezu "süffig" zu lesen ist.

Absoluter Geschenktipp für Menschen, die sich für Spionage-Thriller begeistern können!

Bewertung vom 14.11.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


ausgezeichnet

Sich Geschichte erarbeiten - Familienerbe in Polen

Der 1985 geborene und in Brooklyn, New York lebende Journalist Menachem Kaiser macht sich auf in eine Reise in die Vergangenheit seiner Familie, insbesondere des acht Jahre vor seiner Geburt verstorbenen Großvaters.

Das Cover mit der am Henkel aufgehängten mit Gebrauchsspuren versehenen Email-Tasse vor grünem Hintergrund hat mich sofort angesprochen.

Irgendwie gerät der Autor auch eher zufällig in seine Familiengeschichte hinein, weil er 2010 beruflich im Baltikum zu tun hatte und auf der Rückreise einen Halt in Krakau einlegte.

Und damit beginnt eine lange Geschichte des Eintauchens in die Geschichte seines Großvaters, die viel mit dem Judentum und mit dem Holocaust zu tun hat und schließlich in die bizarr anmutende Suche nach einem Schatz auf einem Dachboden mündet.

Nicht immer leicht zu lesen, aber ungemein interessant und durch die persönliche Schilderung des Autors mitreißend.

Bewertung vom 30.10.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Friedemann Karig schätze ich als wachen und pointierten Journalisten, deswegen war ich auf dieses Buch sehr gespannt. Schon die Leseprobe zog mich in den Bann.

Karig stellt eine Frau an der Grenze von Wahrheit und Lüge dar. Auf nichts von dem, was sie erzählt, scheint man sich verlassen zu können.

Und letztlich wird das Erlogene wahr und Lüge so zur Prophetie.

Die Geschichte ist die Erzählung dieser Frau, die sich in einer abgeschiedenen Privatklinik in psychotherapeutische Behandlung begibt. Letztlich scheint das Berichtete Teil der Therapiegespräche zu sein, aber auch da ist nie ganz klar, was Gedankengespinst und was Realität ist.

Die Therapeutin schwankt zwischen Skepsis und Hingerissensein und muss schließlich feststellen, dass sie auch bereits Teil der Geschichte ist.

Toll geschrieben, eine mitreißende Geschichte von Wahrheit und Lüge, von Macht und Ausgeliefertsein. Leseempfehlung!

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