Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
cmi
Wohnort: 
recklinghausen

Bewertungen

Bewertung vom 07.11.2015
Liebesnähe
Ortheil, Hanns-Josef

Liebesnähe


ausgezeichnet

Liebesnähe von Hanns-Josef Ortheil
Ein Mann, eine Frau kommen aus der Stadt zum Wochenende in ein Hotel in den Bergen, er Schriftsteller mit Schreibhemmung, sie Künstlerin in der Schaffenskrise. Im Hotel lernen sie sich auf ungewöhnliche Weise kennen, sie tauschen Botschaften auf Zetteln und SMS aus und nähern sich einander ohne Worte. Nebenbei finden sie wieder zu ihrer schöpferischen Quelle zurück. Sie, indem sie die Begegnung als Installation nach fernöstlichem Vorbild inszeniert, er, indem er wieder anfängt seine schriftstellerischen Impulse aufzuschreiben. Eine wohlwollende Dritte, die Bibliothekarin des Hotels vermittelt subtil die Begegnung der beiden.

Die Inszenierung der Liebe als Kunst! Als künstlerische "Arbeit" bezeichnet der Autor denn auch die Vorbereitungen zur Begegnung, das Schaffen einer passenden Kulisse. Dass sie das ganze filmt, mutmaßlich um es als Installation in Paris, Amsterdam oder New York auszustellen, irritiert den Mann nicht, im Gegenteil, er spielt seinen Part aktiv mit. Es läuft wohl eher auf Sex als auf Liebe hinaus!
Mehr als alles andere ist "Liebesnähe" ein Lifestyle-Roman: Bier oder Wein, was ziehe ich an? Exzellentes auf der Speisekarte, das Sterne-Restaurant im Keller, der Pool auf der Dachterrasse, der Champagner in der Hotelbar, ein türkisches Bad, der fantastische Blick aus dem Hotelfenster in die Natur.
Äußerlichkeiten: was zieht Mann an beim Liebesstelldichein? Für dies und andere Dinge stehen die stets hilfreichen diskreten Geister des Hotels mit gutem Rat zur Seite: weiße Hose, hellblaues Hemd empfiehlt der gute Geist. Später erfährt man, dass das Outfit farblich perfekt zum blau-weißen Porzellan des Abend-Stelldicheins passt.
Ort des Geschehens ist ein Luxushotel, das wie man weiß Künstlern ein Stipendium gewährt. Für den, der's nicht errät, wird der Ort und Name im Nachtrag verraten. Es drängt sich die Frage auf: war auch der Autor ein Literatur-Stipendiat, der das Haus zum Dank mit einer detaillierten Beschreibung der perfekten Lifestyle-Kulisse belohnt hat? Pseudoliterarische Hochglanzreklame also!
Kleiner Stachel gegen den Gastgeber: die unterprivilegierte Hotelangestellte darf nichts von den Köstlichkeiten im Hammam zu sich nehmen und wird vom dankbaren, gut gelaunten Hotelgast versorgt ....
Am Ende kommt es zur Liebesnacht und zum Happy end. Die familiäre Verbindung der Künstlerin zu der das Wochenende vermittelnden Bibliothekarin kommen zu Tage, die künstlerischen Krisen sind beseitigt, die Fähigkeit zu Liebe und Nähe wiederhergestellt. Beide fahren gemeinsam zurück in die Stadt. Aber die Liebe bleibt seltsam stumm, die Kulisse übermächtig, die Personen selbstzufrieden. Oder kurzgesagt: Männerphantasie - die Frau enthält sich der Worte und inszeniert den Sex als Kunstwerk.