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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Anja12
Wohnort: 
Berlin

Bewertungen

Insgesamt 61 Bewertungen
Bewertung vom 21.09.2024
Und später für immer
Jarck, Volker

Und später für immer


sehr gut

„Und später für immer“ von Volker Jarck erzählt die Geschichte des deutschen Soldaten Johann Meinert, der im Jahr 1945 gegen Ende des Zweiten Weltkriegs desertiert. Basierend auf den Tagebuchaufzeichnungen des Großvaters des Autors schildert das Buch die acht Wochen, in denen Johann sich auf dem Bauernhof seiner Tante versteckt, stets in Angst, entdeckt zu werden. Die Begegnung mit dem jungen Mädchen Frieda, das sein Geheimnis kennt, bringt zusätzliche Spannung – wird sie ihn verraten oder schweigen?
Obwohl die Geschichte gut recherchiert ist und authentische Einblicke in die letzten Kriegstage bietet, fiel es mir schwer, eine emotionale Bindung zu den Charakteren aufzubauen. Johann, als Hauptfigur, bleibt für mich oft distanziert. Seine inneren Kämpfe und Ängste werden zwar detailliert beschrieben, doch es fehlt an Momenten, die ihn als Person greifbar oder sympathisch machen. Auch Frieda, die in der Geschichte eine wichtige Rolle spielt, bleibt eher blass und wirkt mehr wie ein dramaturgisches Mittel als eine echte Figur mit Tiefe.
Der Roman konzentriert sich stark auf die Atmosphäre und die schwierigen Entscheidungen, die Johann treffen muss, doch durch die vielen Zeitsprünge und Rückblenden verliert die Handlung manchmal an Klarheit. Die ständige Spannung, ob Johann entdeckt wird oder nicht, konnte mich deshalb nicht durchgängig fesseln. Auch die emotionale Nähe zu den Figuren, die für mich bei einer solchen Geschichte entscheidend ist, blieb auf der Strecke.
Dennoch ist das Buch sprachlich gelungen, und der Autor schafft es, die bedrückende Stimmung der letzten Kriegstage gut einzufangen. Wer sich für historische Romane interessiert und eher auf leise, nachdenkliche Töne setzt, könnte hier fündig werden. Für mich jedoch blieb die Geschichte aufgrund der fehlenden Bindung zu den Charakteren leider etwas unberührend.

Bewertung vom 09.09.2024
Das Schweigen meiner Freundin
Baldelli, Giulia

Das Schweigen meiner Freundin


ausgezeichnet

Giulia Baldellis Erstlingswerk "Das Schweigen meiner Freundin" entfaltet eine fesselnde Erzählung über die komplexe Freundschaft zwischen Giulia und Cristi. Die Geschichte beginnt mit der 60-jährigen Giulia, die allein in einem düsteren Wald auf ihre alte Freundin Cristi wartet, obwohl sie weiß, dass Cristi nicht erscheinen wird. Giulia ist schwer krank und hat nur noch wenige Monate zu leben. Ihre Familie ahnt nicht, wo sie ist – sie hat ihnen vorgespielt, einen beruflichen Termin wahrzunehmen. Doch insgeheim ist sie in ihren Heimatort zurückgekehrt, um endlich ein Geheimnis zu offenbaren, das sie seit fünfzig Jahren belastet.
Rückblenden führen den Leser ins Jahr 1991, als die zehnjährige Giulia Cristi zum ersten Mal begegnet. Anfangs widerwillig, beginnt Giulia, die Verantwortung für das zurückhaltende, drei Jahre jüngere Mädchen zu übernehmen. Doch schon bald entwickelt sich eine enge Verbindung zwischen den beiden, die durch das Erscheinen von Mattia, einem weiteren Kind im Dorf, auf die Probe gestellt wird. Mattia und Cristi fühlen sich zueinander hingezogen, was in Giulia tiefe Eifersucht weckt.
Baldelli gelingt es, ihre Figuren mit bemerkenswerter Tiefe und Einfühlungsvermögen zu zeichnen. Die Charaktere sind facettenreich und authentisch, was sie lebendig und greifbar macht. Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung der ambivalenten Beziehung zwischen Giulia und Cristi, die von unausgesprochenen Gefühlen und schwelender Spannung geprägt ist. Ihre Verbindung ist geprägt von Zuneigung, Rivalität und einer unergründlichen Bindung, die sich über Jahrzehnte erstreckt.
Der Roman ist in sechs Abschnitte unterteilt und deckt einen Zeitraum von über zwanzig Jahren ab. Baldelli fängt die Atmosphäre der 1990er Jahre und das ländliche Leben in einem kleinen italienischen Dorf mit einer außergewöhnlichen Präzision ein. Die Schauplätze, von der engen Wohnung in Bologna bis hin zu den malerischen Landschaften des Dorfes, werden so lebendig beschrieben, dass man als Leser das Gefühl hat, direkt vor Ort zu sein.
Die Stärke des Buches liegt in der intensiven Emotionalität, die Baldelli ohne Übertreibung vermittelt. Die Geschichte bleibt bis zum letzten Satz packend und tief berührend, da sie nicht nur die Themen Freundschaft und Liebe, sondern auch Verrat, unerfüllte Sehnsüchte und die Schattenseiten menschlicher Beziehungen beleuchtet.
"Das Schweigen meiner Freundin" ist ein kraftvoller und feinfühliger Roman, der die Leser in eine bewegende Geschichte voller emotionaler Tiefe zieht. Baldellis erzählerisches Können, gepaart mit der dichten Charakterzeichnung, macht dieses Buch zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis, das lange nachwirkt und unbedingt empfohlen werden kann.

Bewertung vom 05.09.2024
Mein Mann
Ventura, Maud

Mein Mann


ausgezeichnet

Maud Venturas Roman „Mein Mann“ ist ein fesselndes Porträt einer Frau, die in ihrer Liebe zu ihrem Ehemann an die Grenzen der Vernunft gerät. Die namenlose Protagonistin, eine 40-jährige Lehrerin und Übersetzerin, ist seit 15 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder. Doch trotz des scheinbar perfekten Lebens ist sie von einer tiefen Obsession für ihren Mann ergriffen, die ihr gesamtes Dasein bestimmt.
Ventura gliedert die Erzählung in sieben Tage und einen abschließenden Epilog, was dem Roman eine besondere Struktur verleiht. Jeder Tag ist mit einer bestimmten Farbe und Stimmung verbunden, was die intensive, fast klaustrophobische Atmosphäre unterstreicht, in der die Protagonistin gefangen ist. Der Montag ist für sie der bevorzugte Tag, was sinnbildlich für ihren verzweifelten Versuch steht, Kontrolle und Sicherheit in einer Beziehung zu finden, die zunehmend von Misstrauen und Manipulation geprägt ist.
Die Autorin schafft es meisterhaft, die toxische Dynamik in dieser Ehe darzustellen. Obwohl die Frau seit vielen Jahren mit ihrem Mann zusammen ist, fehlt es der Beziehung an einem grundlegenden Element: Vertrauen. Stattdessen kreisen ihre Gedanken unaufhörlich um die Frage, ob ihr Mann sie genauso liebt, wie sie ihn liebt. Jeder Tag wird zu einem Test seiner Zuneigung, und seine Antworten bestimmen ihre Laune und Handlungen. Ihre Bestrafungen für vermeintliche Lieblosigkeiten reichen bis hin zu Affären mit anderen Männern, die jedoch nichts weiter sind als Werkzeuge in ihrem ausgeklügelten Spiel.
Die Protagonistin notiert und organisiert ihr Leben mit akribischer Genauigkeit in farbcodierten Notizbüchern, was anfangs wie ein Ausdruck von Ordnung erscheint, im Laufe der Geschichte jedoch immer mehr als Ausdruck einer Zwangsstörung erkennbar wird. Venturas Schreibstil vermittelt diese Spannung auf subtile Weise und zieht den Leser immer tiefer in das labyrinthische Innenleben der Frau. Man schwankt zwischen Mitleid und Ablehnung, ist fasziniert von ihrer Verletzlichkeit und gleichzeitig abgestoßen von ihren manipulativen Methoden.
Besonders beeindruckend ist, wie Ventura es schafft, die Leser ständig im Ungewissen zu halten. Man weiß nie genau, ob die Protagonistin paranoid ist oder ob ihre Sorgen begründet sind. Ist ihr Mann tatsächlich der treibende Faktor hinter ihrem Verhalten, oder ist es ihre eigene Unsicherheit, die die Beziehung vergiftet? Diese ständige Unklarheit erzeugt eine Sogwirkung, die es schwer macht, das Buch aus der Hand zu legen.
Das Ende des Romans ist überraschend und bringt eine unerwartete Wendung, die viele der zuvor aufgeworfenen Fragen auf eine neue Art und Weise beleuchtet. Ventura liefert hier kein einfaches Happy End, sondern fordert den Leser dazu auf, seine eigenen Vorstellungen von Liebe, Besessenheit und Kontrolle zu hinterfragen.
„Mein Mann“ ist ein intensiver, tiefgründiger Roman, der auf beklemmende Weise zeigt, wie Liebe in Obsession umschlagen kann. Die Protagonistin, in ihrer Zerrissenheit meisterhaft beschrieben, bleibt auch nach dem letzten Satz im Gedächtnis haften. Dieses Buch ist eine eindringliche Erkundung der dunklen Seiten menschlicher Beziehungen und ein absolutes Muss für alle, die psychologisch komplexe Geschichten schätzen.

Bewertung vom 31.08.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

„Am Himmel die Flüsse“ von Elif Shafak ist ein beeindruckendes Werk, das historische Tiefe mit einer fesselnden Erzählkunst vereint. Das schlichte, doch eindrucksvolle Cover, das die Symbolik des Wassers einfängt, verweist auf das, was alles vereint und zieht den Leser in die Geschichte hinein.
Elif Shafak erzählt die miteinander verflochtenen Geschichten dreier Figuren, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, jedoch durch das Wasser auf eine tiefere Weise verbunden sind. Arthur, der im 19. Jahrhundert in den Abwasserkanälen Londons aufwächst, begibt sich später auf eine abenteuerliche Reise in den Nahen Osten, um das Gilgamesch-Epos zu erforschen. Zaleekhah, eine irakischstämmige Hydrologin unserer Zeit, bewegt sich ebenso sicher in den Wasserkreisläufen der Natur wie in den Strömen ihrer inneren Welt. Und Narin, ein kleines Mädchen aus der Gemeinschaft der Jesiden, besitzt eine besondere Gabe, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat und die sie eng mit dem Wasser verbindet. Die Erzählstränge bewegen sich auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen, haben alle mit dem Orient und Mesopotamien zu tun und vor allem mit Wasser.
Shafak gelingt es meisterhaft, historische Ereignisse und aktuelle Themen in die Handlung zu integrieren, ohne den Lesefluss zu unterbrechen. Sie beleuchtet die Verfolgung der Jesiden, die Unterdrückung von Frauen und die Zerstörung kulturellen Erbes und stellt wichtige Fragen zu dem richtigen Umgang mit antiken Kunstwerken, die heute in westlichen Museen ausgestellt sind. Diese Themen sind geschickt in die Erzählung verwoben, sodass der Leser sich nicht belehrt fühlt, sondern mitgerissen wird von der Strömung der Geschichte.
Die sorgfältige Recherche, die in die detaillierte Darstellung historischer und geografischer Aspekte eingeflossen ist, verleiht dem Buch eine Authentizität, die selten so wirkungsvoll erreicht wird. Die fließenden Wechsel zwischen den Perspektiven und Zeitebenen verbinden sich am Ende zu einem großen Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Shafaks Sprache ist klar und zugleich poetisch, und sie fängt sowohl die Schönheit als auch die Schrecken der geschilderten Welt auf meisterhafte Weise ein.
„Am Himmel die Flüsse“ ist nicht einfach ein Buch, das man liest, sondern eine Erfahrung, die man durchlebt. Es regt zum Nachdenken an – über die Geschichte der Menschheit und die ewigen Kreisläufe, die uns alle verbinden. Ein tief bewegender Roman, der lange im Gedächtnis bleibt und Elif Shafak als eine der großen Erzählerinnen unserer Zeit bestätigt. Eine klare Empfehlung für alle, die literarische Tiefe mit historischem Bezug schätzen.

Bewertung vom 31.08.2024
Nur nachts ist es hell
Taschler, Judith W.

Nur nachts ist es hell


ausgezeichnet

Judith W. Taschler beweist mit ihrem neuesten Roman einmal mehr, warum sie zu meinen liebsten Erzählerinnen zählt. Die Fortsetzung der Geschichte der Familie Brugger aus dem Buch „Über Carl reden wir morgen“ ist ein eindringliches Porträt über familiäre Bindungen, gesellschaftliche Herausforderungen und die Kraft des persönlichen Engagements. Mit einer einfühlsamen und dichten Erzählweise schafft es die Autorin, mich unmittelbar in das Leben der Protagonist*innen hineinzuziehen und mich ihre Schicksale intensiv und kraftvoll miterleben zu lassen.
Im Mittelpunkt des Romans steht Elisabeth, die jüngste Tochter der Familie Brugger, die ihre Erlebnisse und die Geschichte ihrer Familie in einem monologisierenden Brief an Christina, die Tochter ihrer Nichte, festhält. Besonders fesselnd ist Elisabeths Weg als Frau in der Medizin, der sie zu Themen führt, die in ihrer Zeit und Umgebung tabuisiert sind. Sie engagiert sich mit bemerkenswertem Mut und auch für Frauen, die ungewollt schwanger werden und in ihrer Verzweiflung auf gefährliche „Engelmacherinnen“ angewiesen sind. Judith W. Taschler geht dabei mit großer Sorgfalt und Tiefe auf die schwierigen gesellschaftlichen Umstände ein, ohne je den emotionalen Kern der Geschichte zu verlieren.
Doch nicht nur Elisabeths beruflicher Weg wird beleuchtet. Der Roman zeigt auch die vielen Facetten des Lebens innerhalb der Familie Brugger, die von Geheimnissen und unerwarteten Wendungen geprägt sind. Diese familiären Verstrickungen und die Frage nach der Wahrheit lassen mich immer tiefer in die Geschichte eintauchen und sorgen für eine durchgehende Spannung.
Judith W. Taschler gelingt es, mit einem feinen Gespür für Sprache und Atmosphäre eine Welt zu erschaffen, die nicht nur glaubwürdig, sondern auch packend ist. Die Geschichte entfaltet sich mit einer solchen Intensität, dass man als Leser*in die Entwicklungen beinahe hautnah miterlebt. In ihrem Monolog springt Elisabeth zuweilen in der Zeit ohne dass dies immer kenntlich gemacht würde. Mit Aufmerksamkeit gelingt das Lesen jedoch gut. Das Buch ist gut verständlich ohne die Vorgeschichte aus „Über Carl reden wir morgen“ gelesen zu haben. Beides bewegende Bücher.

Bewertung vom 04.08.2024
Taumeln
Scherzant, Sina

Taumeln


ausgezeichnet

Sina Scherzant erzählt von einer kleinen Gemeinschaft von Menschen. Sie haben sich nach dem Verschwinden von Luisas Schwester Hannah zusammengefunden, um regelmäßig - auch noch zwei Jahr nach dem Verschwinden der schönen Hannah - im Wald nach dem Verbleib der Vermissten zu suchen. Sie eint die Hoffnung auf ein Zeichen von Hannah, die Sehnsucht nach einer Lösung für die eingezwängte Trauer durch den Verlust und sie unterscheiden sich in ihren Motiven und Lebenslagen.

Die Autorin kann die einzelnen Figuren und deren persönliche Tiefe gut in den Äther der Geschichte bringen. Ganz feinfühlig, behutsam und wie sprachliches Pulver erhält jede handelnde Person eine Bühne, wird jede Zwischenmenschlichkeit authentisch platziert und kann mich beim Lesen jede Schwingung emotional betroffen machen. Das Buch lebt in einer ganz eigenen Geschwindigkeit. Obwohl der Plot keine reißerischen Wendungen hat und die Story plätschert, muss ich immer weiter lesen und bin gefangen in den Sphären dieser Menschen, die jeder auf der Suche nach etwas anderem sind.

Das Buch hat keinen besseren Titel als „Taumeln“. Jeder einzelne dargestellte Charakter taumelt auf seine Weise ebenso wie Luisa und ihre Eltern im Mäander des Lebens. Poetisch, tiefgehend, fesselnd.

Bewertung vom 29.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Luca soll in der Schule unsittlich zu einem Mädchen geworden sein. Die Eltern, Pia und Jakob, reagieren unterschiedlich. Während Jakob zuversichtlich und voller Vertrauen in die Situation geht, struggelt Pia. Sie versucht auf ihre Weise, die Szene aufzulösen. Und dann beginnt ihre Vergangenheit mit der Gegenwart zu verschwimmen. Ihre Adoptivschwester Romi findet sich in der Geschichte wieder. In Romis Gegenwart war einst deren gemeinsame Schwester Linda ertrunken.

Beim Lesen ergibt sich die Innenwelt einer Mutter, welche hochgradig geprägt ist von ihrer eigenen Kindheit und Ursprungsfamilie. Die Macht des Schweigens in der Vergangenheit lässt Pia bis heute misstrauisch sein, das Verhalten von Luca stets argwöhnisch hinterfragen und in ihrer eigenen Unsicherheit gefangen mäandrieren. Pia lebt nach modernen Erziehungsmethoden wie bspw. einer Tendenz zur unisexuellen Erziehung, bemüht sich den Sohn gefühls- und bedürfnisbetont zu begleiten. Luca reagiert mit Schweigen und zeigt sich zuweilen als kleines Monster, so wie Romi.

Die Geschichte um Pia, ihren Mann Jakob und den Sohn Luca wird zunehmend verwoben mit Rückblicken in die Herkunftsfamilie von Pia, in der über die wichtigen Dinge nicht gesprochen wurde, in der das Wesentliche ungesagt blieb. Die eigenen Eltern arbeiteten viel mit Verboten, welche wiederum auch unausgesprochen blieben. Man tat eben vieles nicht. Pia resümiert über ihre eigene Familie: „Die Strenge, die Regeln sind nichts anderes als der Ausdruck ihrer Liebe zu uns.“ Diese Verzerrungen fressen sich bis ins Heute, in dem Pia auch als Erwachsene differenziert zurück- und ihre Eltern anblickt. „Vielleicht ist nicht alles schwarz oder weiß. Es ist Zeit, in den Schattierungen zu leben.“

Der Roman kommt nah an einen Psychothriller, dessen Aussagen zwischen den Zeilen stehen. Kunstvoll wird eine Spannung aufgebaut, ob und wie Pia mit ihrem Sohn in einen Frieden oder ein großes Drama steuert. Am Ende verweben sich Pias Vergangenheit und ihre Gegenwart in ein schmerzhaft zu lesendes Ende.

Ich habe das Buch in einem Ritt gelesen und würde es immer wieder tun.

Bewertung vom 22.07.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Jella und Yannick, Yannick und Jella. Die große Liebe. Und sie kippt. Jella erfährt Gewalt durch Yannick und fragt sich, wie es weitergehen kann und wie es dazu kommen konnte.

Jella hat nie gelernt, auf sich selbst zu achten. Sexualität erlebte sie aus männlicher Sicht, gebar sich als Objekt, um zu gefallen. Ihre Begegnungen mit Jungs und Männern blendeten ihre Bedürfnisse aus, weil sie selbst nie den Anspruch hatte, das Gegenüber könnte auch ihre Bedürfnisse im Blick haben. Erste sexuelle Begegnungen waren schmerzhaft, schienen eher einvernehmlich und beruhten doch nicht auf Gegenseitigkeit. Und Jella fand „Es war ein guter Schmerz.“ Körperlichkeit wurde zum Kalkül, stark sexualisiertes Auftreten und Wahrnehmen waren die Folge. Mit Yannick wurde Sex orgiastischer, extrem vulgär und die innere Verbindung zu diesem Kerl schien ungekannt. Jella benimmt sich hörig, macht sich klein um ihm zu gefallen und gibt sich ihm hin. Geilheit, Trieb, Befriedigung und Liebe landen in einem Topf. Ein neuer Sinn tut sich auf, der dem anderen die Muse zu sein. Daraus erschöpft sich ein Glücksgefühl, das die eigene Würde ausblendet und trotzdem von Verlustängsten geprägt ist. Jellas Bedürfnisse und Emotionen gibt es höchstens im Background und doch brechen sie sich ab und zu Bahn. Yannick straft sie mal mit Achtung und mal mit Nichtachtung, sendet Double Binds und antwortet auch mit körperlichen Übergriffen. Glück und Unglück, Schwarz und Weiß, Liebe und Angst wechseln dann so schnell, dass ein Außenstehender sofort die Toxizität erkennt. Und Yannick sagt „Du bringst die schlechteste Version meiner selbst aus mir hervor, Jella.“

Ich kann den Plot so gut nachvollziehen. Das Buch kann wie eine Therapie sein. Mit versiertem Blick gelingt es der Autorin, die Facetten der Entwicklung der Protagonistin zu Yannicks Jella darzustellen. Sie arbeitet mit zwei Zeitebenen aus Sicht von Jella, zum einen der Gegenwart nachdem Yannick sie gewürgt hat und zum anderen den Rückblicken in ihr Leben, die eine Empathie für die Genese des Problems ermöglichen. Die direkte und unverblümte Sprache der Autorin ist drastisch und mag verstörend wirken, sie ermöglicht jedoch auf diese Weise auch eine Annäherung an das verstörende Phänomen häuslicher Gewalt. Die schriftstellerischen Mittel verstärken die Aussage des Buches.

Insgesamt ist dieses Buch für mich eines, dessen Zeit längst gekommen war. Lesenswert.

Bewertung vom 12.07.2024
Das erste Licht des Sommers
Raimondi, Daniela

Das erste Licht des Sommers


ausgezeichnet

Daniela Raimondi erzählt eine Familiengeschichte im italienischen Stellata. Beginnend 1947 bis ins Jahr 2015 werden einzelne Episoden dargestellt, jeweils den Jahreszahlen zugeordnet. Auch wenn ich viel vom Vorgängerbuch „An den Ufern von Stellata“ gehört habe, habe ich es nicht gelesen und konnte die Story dieses Buches trotzdem voll erfassen.

Die handelnden Personen bewegen sich um die Familie Casadio, im Zentrum die Figur der Norma. Verarbeitet wird die Jugendliebe zu Elia und deren tiefe Wurzeln in alle Zeiten ihres Lebens. Ebenso zentral ist die Beziehung von Norma zu ihrer Tochter, mit allen Stärken, mit allen Fehlern, mit aller ungeschönten Sicht. Es geht auch um Freundschaft, Liebe und Lieblosigkeit, Verlust, aktuelles Zeitgeschehen, Verlegung des Lebens in ein anderes Land und dann doch wieder den Sieg des Bezuges zur Heimat. Was in ein Leben passt, hat auch in dieser Familie Platz. Aufbereitet wird dies in zwei unterschiedlichen Zeitebenen, die chronologisch in der Vergangenheit erzählte Ebene und die finale Ebene der Gegenwart, in der Normas Tochter ihre todkranke Mutter versorgt und mit dem Abstand des Lebens betrachtet.

Das Buch liest sich sehr flüssig. Das Lesen erschwert hat mir der fehlende Überblick über die vielen relevanten Personen. Ich habe irgendwann angefangen, mir etwas dazu aufzuschreiben und zu visualisieren. Vielleicht ist eine passende Graphik etwas für die nächste Ausgabe.

Die szenischen Beschreibungen haben etwas von Ferrante, einfach fesselnd und atmosphärisch. Die Sprache der Autorin, der Stil und der Plot zogen mich ganz schnell in den Strudel des Buches und ich versank bis zur letzten Seite. An einem Wochenende gelesen, magisch.

Bewertung vom 23.06.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


ausgezeichnet

Die Schwestern Sam und Elena leben mit ihrer kranken Mutter auf der Insel San Juan im US-Bundesstaat Washington. Gemeinsam existieren sie in einem heruntergekommenen Haus und teilen sich die Pflege der Mutter. Elena jobbt in einem Golfclub, Sam auf einem Fährschiff. Sie sind des monotonen Lebens überdrüssig und träumen davon, das Haus aufzugeben und wegzuziehen. Eines Tages taucht ein Bär in ihrer Umgebung auf. Der Grizzly bringt das Leben der Schwestern und auch der ganzen Insel durcheinander.

Der Roman beginnt sachte und nimmt mich als Leserin mit in die Atmosphäre der Insel, hält wunderschöne Beschreibungen der Welt dort und des Lebens der beiden Schwestern bereit. Im Laufe des Buches nimmt die Story Fahrt auf, auch die Beziehung der Schwestern steht auf dem Spiel. Ein fulminantes Ende macht dann betroffen. Die Geschichte lebt vom Schreibstil der Autorin. Man liest sie so nebenbei.