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Martin Wellmann
Wohnort: 
Bramsche

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Bewertung vom 22.09.2015
Der Weichensteller - Kriminalszenario für Deutschland
Bøttker, Harald

Der Weichensteller - Kriminalszenario für Deutschland


sehr gut

28. Juli: „Steine von Autobahnbrücken geworfen - 33 Tote, 58 Verletzte“, 3. August: „Mercedeswerk in Sindelfingen von fliegender Bombe bedroht?“, 5. August: „LKW‘s fliegen in die Luft – 14 Tote, 22 Verletzte“. Wir schreiben das Jahr 2016. Deutschland wird von Öko-Terroristen in Atem gehalten. Sie fordern sofortige Parteitage aller Bundestagsparteien mit weitreichenden Beschlüssen zum Klimaschutz. Ein „Kriminalszenario für Deutschland“ entspinnt sich.
Man fühlt sich an Hesses „Steppenwolf“ von 1927 erinnert, in welchem schon Harry (!) Haller und sein alter Schulfreund Gustav – Theologe wie der verstorbene Autor Harald Böttker – auf „große, hustende, böse knurrende, teuflisch schnurrende Automobile“ schießen, „damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne“. Und auch der „Weichensteller“, im Roman der „Weißblonde“, zieht wie ein einsamer Steppenwolf in seinem Wohnmobil bombend durchs Land. Wer er ist, woher er kommt, darüber erfährt der Leser kaum etwas. Nur dass ihn gibt und es tatsächlich in seiner Macht steht, die deutsche Politik unter seinen Willen zu zwingen, das erfährt er mehr und mehr.
Mit der zweiten Hauptperson hingegen, der BKA-Ermittlerin Anne-Liese Schwartzer, schließt er eingehend Bekanntschaft. Wohl nicht ganz unprogrammatisch stammt sie aus Eisleben, in der Ex-DDR gelegen sowie Geburts- und Todesstadt Martin Luthers. „Alice“ ist Anfang 40, Mutter von zwei Kindern, geschieden und in Sachen Umweltschutz selbst stark engagiert. Ihre Herkunft aus der alten DDR, der Verlauf der Terrorwelle und ein Vorgesetzter führen zu einem Konflikt, der Anne-Liese nach Norwegen bringt. Dort findet sie überraschend eine Spur. Derweil nehmen in Deutschland die Dinge ihren schlimmen Lauf ...
Dieser erste Teil des Romans ist raffiniert komponiert, ein spannender Thriller. Zwar gibt es auch die im Genre üblichen Klischees: Etwa die „stark geschminkte, vollbusige, blonde“ Sekretärin oder der gemütliche, freundliche Kollege, fortan nur „der nette Riese“, der zwar zum treuen Freund, aber dann doch nicht zum Liebhaber taugt. Trotzdem sind die Figuren glaubwürdig gezeichnet, allen voran Hauptkommissarin Anne-Liese, die wegen ihrer Intelligenz und Geradlinigkeit mit rechtsstaatlicher Realpolitik im BKA in Konflikt gerät.
Im zweiten Teil wechselt die Perspektive. Nun erfährt der Leser, wer der Täter sein könnte. Die zunehmend actionhafte Spannung des ersten Teils wird ersetzt durch eine latente, innere Unruhe: In welchem Verhältnis stehen Täter und Autor eigentlich zueinander? Kann es sein, dass dieser Täter wirklich existiert, auch außerhalb der Fiktion real ist? Doch wie das? Diese Romanveröffentlichung geschah doch dem Vorwort zufolge posthum, der Autor lebt doch nicht mehr!
Zur Sprache kommt das Dilemma, das Böse um des Guten Willen zu tun. Hier finden wir den Protagonisten im Ringen mit sich um die richtige Reaktion auf seine Erkenntnis, dass der Menschheit angesichts des Klimawandels nur noch wenig Zeit zum Umsteuern bleibt. Dieser Teil wirft ein überraschendes Licht auf die Handlung des ersten Buches, hält aber nicht mehr dessen Spannung, sondern will vor allem Reflexion sein, wieso der Mensch so ist, wie er ist. Dazu hält der dritte Teil dann überraschende Antworten parat. Über allem schwebt die Frage, wie man angesichts dieser Antworten das Ruder noch herumreißen kann.

Der Roman ist hochaktuell. Er führt dem Leser ein nicht allzu fernes, beklemmendes Szenario vor Augen. Ich blieb nachdenklich mit der Frage zurück, ob dies nicht durchaus realistisch sein könnte.

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