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M.S-D.
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Göttingen

Bewertungen

Insgesamt 3 Bewertungen
Bewertung vom 06.11.2019
Der Sohn des Hofmarksrichters
Reichelt, Andreas

Der Sohn des Hofmarksrichters


ausgezeichnet

Es war ein Aufstand aus Verzweiflung. Die Losung „Lieber bairisch sterben als kaiserlich verderben“ auf den Lippen, wagten einfache Bauern mit Mistgabeln und Dreschflegeln gegen gut ausgebildete kaiserliche Truppen den Aufstand. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts leidet Bayern unter den Folgen des Spanischen Erbfolgekrieges. Als Joseph I. 1705 nach dem Tod des Vaters den Kaiserthron beerbt, lässt dieser München und das bayerische Oberland besetzen, ordnet drastische Steuererhöhungen an und befiehlt die Einquartierung und Versorgung kaiserlichen Soldaten. Als dann im Herbst Zwangsrekrutierungen einsetzen, ist das Maß voll. Von Jesuiten ausgebildete Studenten wie Georg Sebastian Plinganser aus Pfarrkirchen und Johann Georg Meindl aus Altheim organisierten eine „Kurbairische Landesdefension“, die bald überall Zulauf bekam. In dieser stürmischen Zeit verliebt sich die junge Adelige Charlotte von Weißentingk in den Rebellen.
Andreas Reichelt wählt relativ kurze Erzähleinheiten, deren Abfolge sich mit den sich überschlagenden Ereignissen verdichtet und zu einem spiralartigen Tableau fügt. Der Verlockung, die Fakten rund um die Scharmützel, den Sternmarsch auf München und die Sendlinger Mordweihnacht einer Dramaturgie um des reinen Nervenkitzels in den Dienst zu stellen, widersteht Reichelt allerdings. Man wird explizite Beschreibungen der Gewaltexzesse vergeblich suchen. Sie finden sich angedeutet in einzelnen Kriegsvokabeln oder summarisch zusammengefasst in den hier und da eingestreuten, lexikalischen Berichten. Auch wenn der Autor herkunftsbedingt den Plot aus bayerischer Sicht entwickelt, bleibt dessen neutrale Haltung spürbar. Protagonist Plinganser verändert sich mit seiner neuen Rolle als Leitwolf der Aufständischen. Als Student der Lateinschule noch durch die Schriften Ciceros für die Idee entflammt, das System von innen heraus zu verändern, wird er am Ende dulden müssen, was ihn anfänglich auf die Barrikaden brachte. Macht verdirbt, heißt es und so können letztlich seine Ideale angesichts der rasant sich entfaltenden Eigendynamik aus strategischen Zwickmühlen, waffentechnischer Unterlegenheit und Partikularinteressen innerhalb des eigenen Lagers nicht aufrechterhalten werden. Von den Verhältnissen gezwungen, billigt er schließlich um die Wahrung einer Chance bei der finalen Schlacht nun ebenfalls Zwangsrekrutierungen, beantwortet Gewalt mit Gegengewalt. Und so leuchtet der im Vorwort zu Cicero zitierte Weisheitsspruch der Heiligen Schrift: „Mein Sohn, fürchte Jehova und den König; mit Aufrührern lass dich nicht ein. Denn plötzlich erhebt sich ihr Verderben; und ihrer beider Untergang, wer weiß ihn?“ schon zu Beginn des Romans als Menetekel auf.
„Der Sohn des Hofmarkrichters“ beschreibt im Wesentlichen zwar nur wenige Wochen des bayerischen Bauernaufstands, doch gelingt durch den rhythmischen Wechsel von Szenen und wenigen gerafften Berichten ein spannender Einblick in eine tumultuöse Zeit. Vor allem die innere Zerrissenheit der Hauptperson Plinganser überzeugt. Insgesamt ist dieser Pageturner ein unterhaltsames und lehrreiches Lesevergnügen.

Bewertung vom 18.11.2016
Die Flutnovelle
Reichelt, A. A.

Die Flutnovelle


ausgezeichnet

Rezension Flutnovelle


Man spricht übers Wetter. Zwischen Witwer Alfons Anzinger und dessen Tochter Steffi plätschert das Gespräch am Frühstückstisch dahin. Alltagsgraue Arglosigkeit eines Frühsommermorgens, die noch nichts vom Schrecken des Abends weiss.
Nach den humorgewürzten Vorgängerromanen »Saisonabsch(l)uss« und »Haderlump« rückt der niederbayerische Schriftsteller Andreas A. Reichelt in der Flutnovelle ab von der reinen Fiktion. Ausgangspunkt sind die realen Geschehnisse rund um das verheerende Hochwasser, dem im Landkreis Rottal-Inn am 1. Juni sieben Menschen zum Opfer fielen. Stundenlange Regenfälle hatten den knöcheltiefen Altbach in eine fast hundert Meter breite, schlammig-braune Flutwelle verwandelt. Verstörend-grotesk, die Bilder von abtreibenden LKW, von Autos, Bäumen und Möbelstücken, die wie Korken auf der reißenden Strömung tanzten. Ganze Straßenzüge - verwüstet. Einigen blieb oft kaum Zeit, sich rechtzeitig in Obergeschosse oder auf Dächer zu retten.
Es sind Kleinigkeiten, die zu Beginn das unvermittelt hereinbrechende Drama vorbereiten. Da rinnt ein einzelner Tropfen Milch von den Cornflakes über das Kinn, wenig später rauscht Dauerregen säuselnd durch die Dachrinne. Dann, der jähe Wendepunkt. Alfons, soeben am Arbeitsplatz angekommen, nimmt nur bruchstückhaft die schockierenden Schlüsselwörter des Nachrichtensprechers wahr: Stromausfall, Hochwasser, Helikopter. Worte, die ihn gewaltsam aus dem Werktagsmodus zerren.
Sofort steht die Frage nach dem Verbleib Steffis in erdrückenden Monstrosität im Raum. Der Zusammenbruch des Handynetzes wird zum Impulsgeber einer spontanen Rettungsaktion. Die Ungewissheit steigert sich zur Angst. Von welcher Bedeutung ist da noch die Arbeitsstelle.
Gemeinsam mit dem Protagonisten wird der Leser mit der Ausnahmesituation konfrontiert. Das Erzähltempo zieht an, wird am Unglücksort von der Fließgeschwindigkeit der Wassermassen erfasst und mitgerissen. Bestürzende Szenerien erscheinen in dichter Folge. Da bleibt nur wenig Zeit für einen gesellschaftskritischen Seitenhieb auf die allerorts grassierende Gaffermentalität. Die Suche gerät zur verzweifelten Odyssee. Geschickt versteht es Reichelt, Alfons mehr und mehr als Getriebenen seiner Panik zu schildern, was unausweichlich tragisch zu enden droht.
Die Flut stellt radikal die Lebensmaximen ihrer Opfer auf den Prüfstand. Wer bis dahin vornehmlich dem Aufbau und Erweiterung des Eigenheims und anderer Güter gelebt hat, ist doppelt getroffen. Mit dem Verlust der materiellen Existenz geht die Erschütterung der Lebensmitte einher. Damit ist im Finale das eigentliche Thema der Erzählung freigespült: die Vaterliebe als geistiger Wert, als katastrophenresistenter Gegenentwurf zur hedonistischen Grundhaltung.
Der Griff zur Feder im Nachgang der Ereignisse war Reichelt notwendiger und selbsttherapeutischer Akt, um sich von den Bildern lösen zu können. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch. Ausgehend vom tagesaktuellen Geschehen erzählt die Flutnovelle eine berührende Geschichte in schlichter, zum Belletristischen neigenden Schreibweise und wirft zugleich profunde Fragen auf.