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Weserbergland
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Frankfurt am Main

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Bewertung vom 10.06.2019
Im Dazwischen
Lohfeld, Wiebke

Im Dazwischen


ausgezeichnet

Diesem Buch wünsche ich viele Leser/innen. Wiebke Lohfeld vermittelt uns Zugang zu der Botschaft einer bewundernswerten Frau. Auch die wissenschaftlichen Passagen sind interessant, aber schon die leichter verständlichen, beschreibenden Teile lohnen die Lektüre und sind unvergesslich. Wiebke Lohfeld lässt hier Paula Tobias und ihre Briefpartner selbst sprechen und kommentiert ihre Worte klug, aber zurückhaltend.
Atemberaubend ist diese Korrespondenz, die Paula Tobias zu Recht für so bedeutsam hielt, dass sie sie ins Exil mitnahm. 1933 und 1934 hatte sie versucht, einige Nationalsozialisten durch private Briefwechsel davon zu überzeugen, dass die Ausgrenzung der Juden zutiefst ungerecht war - und auch nicht im Interesse Deutschlands, das sie liebte. Sie ahnte damals noch nicht, dass sie tatsächlich für ihr Lebensrecht stritt.
Paula Tobias hatte viel geleistet. Als Landärztin versorgte sie ihre Patienten mit dem Fahrrad, Tag und Nacht, bei jedem Wetter. Sie gründete die erste Mütterberatungsstelle der Gegend. Als der 1. Weltkrieg ausbrach, bildete sie einige Krankenpflegerinnen aus. Neben ihrer regulären Arbeit am Tage versorgten sie nachts verletzte Soldaten, deren Lazarettzüge in ihrem Wohnort Aufenthalt hatten. Was das heißt, kann heute nur erahnen, wer Bücher gelesen hat, in denen die furchtbaren Verletzungen der Soldaten im 1. Weltkrieg beschrieben werden, etwa „Der Mensch ist gut“ von Leonhard Frank oder „Die Töchter des Mars“ von Thomas Keneally. Paula Tobias’ Bruder fiel, ihr Mann war vier Jahre im Krieg. 1918/19 erlebte sie die Spanische Grippe.
Paula Tobias stellte den Nationalsozialisten vernünftige Fragen. Wie konnten sie und andere Juden trotz der Opfer, die sie im Weltkrieg wie alle Deutschen gebracht hatten, und trotz ihrer wissenschaftlichen und literarischen Verdienste, plötzlich als nicht zum deutschen Volk gehörig, ja als Schädlinge betrachtet werden? Wie konnte sie, die doch die Mütterberatungsstunden initiiert hatte, nun unwürdig sein, sie weiterzuführen?
Die Adressaten erläuterten ihr sinngemäß, es sei zwar bedauerlich, dass es auch Menschen wie Paula Tobias treffe, aber das deutsche Volk müsse sich eben reinigen, um zu neuer Größe zu gelangen. Ein antisemitischer Adeliger erläuterte den Antisemitismus als instinktiven Ekel einer feineren Natur gegen das Fremde. Mit mühsam unterdrücktem Zorn schilderte ihm Paula Tobias in ihrer Antwort den Terror durch die Zöglinge der mittlerweile im Dorf einquartierten SA-Sportschule, die täglich brutale Hassgesänge vor ihrem Haus absangen. Aber sie gab nun ihre Bemühungen auf und verließ mit ihrer Familie Deutschland. Ihrer Mutter aber blieb 1942 nur die Flucht in den Tod, als ihr die Deportation drohte.
Der deutsche Leser bleibt zurück voller Trauer, Zorn und Scham über das schwere Unrecht, das dieser Frau und ihrer Familie zugefügt wurde. Uns bleibt heute nur, nach vielen Jahren endlich ihre Botschaft zu hören. Sie entlarvte die nationalsozialistische Ideologie mit einfachen Mitteln. Die Nazis gaben sich damals wissenschaftlich, wie auch heute Vertreter der extremen Rechten sich gern als Gelehrte ausgeben. Die Briefwechsel aber zeigen: Wenn man sich die Mühe macht, den Unsinn, den Rassisten von sich geben, zu widerlegen, dann lassen sie sich nicht etwa überzeugen. Vielmehr ziehen sie sich dann auf die folgende Kernaussage zurück: Wer deutsch ist und wer nicht, das bestimmt der Nazi allein, das sagt ihm sein Instinkt! Ihn treibt nicht mehr und nicht weniger als ein diffuses, nicht rational begründbares Hassgefühl gegen das als fremd Empfundene (wenn nicht gar simple Habgier).

Mein persönliches Fazit: Wir sollten auf Debatten mit heutigen Rassisten keine Energie verschwenden. Wer Menschen wegen ihrer „Rasse“ oder Herkunft oder ihres Glaubens abwertet, der muss nur auf den ersten Abschnitt unseres Grundgesetzes hingewiesen werden, wo es heißt: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.