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Benutzername: 
Rüm Hart
Wohnort: 
Stuttgart

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Bewertung vom 14.03.2016
Das Kleid meiner Mutter
Hahn, Anna Katharina

Das Kleid meiner Mutter


ausgezeichnet

Ich habe diesen Roman jetzt seit einer Woche und schon zweimal verschlungen: So fesselnd erzählt die Autorin, so genau will aber auch gelesen sein, was sie auf 311 Seiten an Geschichten miteinander verknüpft: Die erste davon, der "spanische" Teil des Romans, spielt im Sommer 2012 in Madrid: Ana, genannt Anita, ist Anfang 20, Vorschullehrerin und wie viele Spanier ihres Alters arbeitslos. Aber damit nicht genug: Völlig unerwartet sterben die Eltern; von jetzt auf gleich ist Anita auf sich allein gestellt. Anfangs noch aus Neugier schlüpft die unscheinbare junge Frau in die Kleider ihrer eleganten Mutter Blanca. Da geschieht etwas Seltsames: Freunde und Nachbarn halten Anita tatsächlich für Blanca. So entwickelt sie Gefallen an den Maskeraden und trägt nicht nur das Kleid der Mutter, sie WIRD Blanca und erlebt Erstaunliches: "Es fühlte sich gut an, meine Mutter zu sein. Ich war schön auf eine mir unbekannte Weise." Gleichzeitig muss Anita erkennen, dass ihre Eltern nicht die waren, für die sie sie hielt: Wer beispielsweise ist der Mann, der der Mutter eindeutige SMS schreibt? Was wird geschehen, wenn Anita ihn trifft? Kann sie auch ihn täuschen? Die Eltern hocken unterdessen tot im Schlafzimmer; mehr noch: Sie schrumpfen! Spätestens da fragt man sich: Was ist hier Realität, was nur Anitas Phantasie? Auch Oscar, ihr Vater, scheint in die Sache verstrickt zu sein, doch wie?
Richtig stark ist diese Mischung aus Realem und Surrealem, es hat Tempo, wird spannend erzählt - und ist doch erst der Anfang. Denn je weiter Anitas Nachforschungen vorankommen, desto mehr tritt ein zweiter Handlungsstrang hinzu: der "deutsche" Teil des Romans, die Geschichte des Schriftstellers Gert de Ruit. Als Autor ein Titan, hat ihn als Person kaum jemand zu Gesicht bekommen. Ist er trotzdem die Erklärung für das Doppelleben von Anitas Eltern? Anita kommt diversen Verbindungen des unheimlichen Deutschen zu ihrer Familie auf die Spur - und allmählich dämmert es ihr: Verhaltensweisen der Eltern, auf die sie sich lange keinen Reim machen konnte, ergeben plötzlich Sinn. Seite um Seite erschließen sich Zusammenhänge. Kindheitserinnerungen werden wach und erscheinen in neuem Licht: darunter der denkwürdige Tag, an dem Blanca von einem schwarzen Spitz gebissen wurde. Oder die sehr charakteristische Art, wie die Mutter manchmal Orangen schälte. Die unvergessene Nacht eines Sommerurlaubs, in der Blancas Bett plötzlich leer blieb... Gerade in solchen Szenen erweist sich Hahn als große Erzählerin. Ihre Sprache ist unangestrengt, die Worte sind alltägliche, aber jede Silbe sitzt. So geht Literatur!
Parallel dazu beginnen wir zu verstehen, warum de Ruit erstens Schriftsteller und zweitens ein Phantom geworden ist. Er ist der Sohn von Tätern. Mehr als Anita hat er Grund, sich von seinen Eltern zu emanzipieren; sein extremes Leben reflektiert diesen Versuch.
Lange Rede, kurzer Sinn: Hier ist ein großer Wurf gelungen. Ein vielgestaltiger Roman über die Suche nach Identität, über Fluchten in andere Länder und sogar andere Leben. Bis zum Schluss hat mich die Geschichte gepackt: Selbst auf den letzten 40 Seiten dachte ich immer wieder: Es könnte auch alles ganz anders gewesen sein!
Last, not least: Das ist kein düsteres Buch. Trotz vieler trauriger Stellen und Stimmungen geht es um Menschen, die Fremdes ausprobieren, um am Ende bei sich selbst anzukommen. Fünf Sterne dafür!

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