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gudrun4
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NWu

Bewertungen

Insgesamt 29 Bewertungen
Bewertung vom 24.03.2024
Die Vermesserin der Worte
Seck, Katharina

Die Vermesserin der Worte


sehr gut

Ida, eine junge Autorin mit Schreibblockade und ohne Einkommen verschlägt es in ein kleines Dorf. Dort sucht sie neben dem Broterwerb als Haushaltshilfe auch nach Inspiration und Motivation. Nicht zuletzt, weil ihr Vater mit seiner abwertenden Haltung der Schriftstellerei gegenüber ihr in der Vergangenheit jedes Selbstvertrauen genommen hat. Die Menschen im Dorf werden als recht kauzige Chartaktere eingeführt, sie machen es Ida nicht leicht, Fuß zu fassen.
In Idas Arbeitgeberin, der von beginnender Demenz heimgesuchten Bücherliebhaberin Ottilie, findet sie einen hilfsbedürftigen und in hellen Stunden sehr einfühlsamen Menschen, der ihr das Gefühl gibt, eine Aufgabe zu haben. Um die Risse in Ottilies Erinnerungen zu kitten, sucht Ida nach Informationen über deren ungewöhnliches Leben, die sie auch auf verschiedene Weisen gewinnt und dank ihrer Phantasie auch wie ein Puzzle zusammenfügen kann.
Die daraus entstehende Geschichte über die “Wortvermesserin” erzählt sie der alten Dame in Fortsetzungen und ruft damit positive, wie auch unerwartete Reaktionen hervor. Idas Mitgefühl, ihre Hingabe an die ältere Freundin, lenkt sie von ihren eigenen Sorgen ab. Von ihr fast unbemerkt, gewinnt sie dabei ihre Erzählfähigkeit zurück. Sie besinnt sich auf die Kraft ihrer Worte, die Gewicht haben und viel bewirken.

In diesem Buch steckt eine interessante und anrührende Geschichte, viele sehr gute Gedanken und wunderschöne, sehr warmherzige Beschreibungen. Die Gedanken über das Wesen von Büchern, über das Lesen und das Versinken in den Lebenswelten der Charaktere aus den Büchern fand ich sehr schön. Leider aber ist das Lesen kein ungetrübtes Vergnügen, sondern ein Stolpern durch den oft unbeholfenen, aufgeblähten schwer lesbaren Text geworden. Dazu kam eine häufig ungeschickte, sogar gelegentlich falsche Wortwahl, die mich sehr gestört hat.
Sprachlich am besten fand ich die kursiv gedruckten Passagen von Idas Erzählung.

Fazit: Menschenliebe, Bücherliebe und viel Mitgefühl in einer bewegenden Geschichte ohne sprachlichen Glanz.

Bewertung vom 02.01.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

Was ist Wahrheit?
Eine hundertjährige Architektin möchte neben bereits geschriebenen Biografien eine ganz persönliche Lebenserzählung geschrieben haben. Dafür wählt sie einen Schriftsteller, der Wahres für Fiktion und Falsches als Wahrheit verkaufen kann. »Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt werden soll es.«
Ihre Geschichte ist so abenteuerlich, dass man sich tatsächlich fragt, hat sie das alles erlebt oder geträumt?
Es geht um verbürgte Personen der Geschichte: Lenin, Trotzki, aber auch weniger populäre wie Nikolai Berdjajew, Nikolai Gumiljow, Moissei Urizki u.a. Wenn man sich die Mühe des Nachschlagens macht, findet man die von Frau Perleman-Jacob erzählten Ereignisse als tatsächlich geschehene. Köhlmeier verknüpft ihre fiktive Familiengeschichte so gekonnt mit historischen Tatsachen, dass man sich vorstellen kann, es könne so gewesen sein. Und wenn nicht so, dann vielleicht ganz anders? Was ist Wahrheit?
Um die phantasievolle Lektüre wirklich genießen zu können, sollten einem die historischen Fakten tatsächlich ein wenig vertraut sein, nachschlagen lohnt sich jedenfalls.

Bewertung vom 01.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

KInder sind immer die Opfer

Endstation Malma - der Titel ist genial gewählt, bezieht er sich doch einerseits auf jede der 3 Reisen als auch auf das tragische Ende des Romans.
Zu Anfang scheinen diese Reisen nach Malma völlig voneinander unabhängig zu sein.
Die 8-jährigen Harriet, die mit ihrem Vater unterwegs ist, erinnert sich an ihre Mutter, die mit ihrer älteren Schwester vor Monaten weggegangen ist, aber den Namen erfahren wir nicht.
Oskar, der seine Frau nach Malma begleitet, um seine Ehe zu retten, nennt sie nie beim Namen.
Und die 28-jährige Yana ist nach Malma unterwegs, um etwas über ihre Mutter herauszufinden, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hat. Namen fallen auch hier nicht.
Jeder Erzählstrang für sich ist spannend, die Personen nicht immer sympathisch, jedoch faszinieren die Episoden aus dem Leben der Protagonisten.
In jedem Kapitel wechselt die Perspektive und mit jedem Wechsel treten neue erhellende Fakten zutage. Nach und nach fügen sich die zuerst losen Stränge zu einem stimmigen Ganzen, auch die zeitlichen Zusammenhänge und familiäre Verflechtungen werden immer klarer. Erschütternde Schicksale offenbaren, dass die Opfer von Beziehungskrisen immer wieder Kinder sind, deren ganzes Leben dadurch beeinflusst wird.
Dieser so kunstvoll komponierte Roman ist mit einiger Konzentration gut und flüssig zu lesen und hinterlässt einen nachhaltigen, allerdings auch etwas verstörenden Eindruck.

Bewertung vom 10.10.2023
Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23
Bernard, Caroline

Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23


ausgezeichnet

Eine außergewöhnliche Künstlerin sucht ihren Weg

In diesem sehr gut recherchierten Roman wird nur ein knappes Jahr vom Leben Frida Kahlos beleuchtet. Dieses aber ist eine ganz entscheidende Phase, in der sie ihre künstlerische Entwicklung vom Einfluss ihres Ehemanns befreit. Gleichzeitig führt sie einen inneren Kampf um die Liebe(n) ihres Lebens.
Die Geschichte wird von einer dritten Person erzählt, die auch Fridas Gefühle und inneren Monologe wiedergibt. Zahlreiche lebhafte Dialoge schaffen filmreife Szenen vor dem inneren Auge, beim Lesen entsteht ein regelrechter Sog, man kann nicht aufhören.
Ich habe voller Mitgefühl Anteil an Fridas Entwicklung in dieser Zeit genommen, ihren Kampfgeist, Ausdauer und eisernen Willen bewundert. Trotz ihrer erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen lässt sie sich nicht unterkriegen. Frida ist stark, sehr stark und in Bezug auf ihre Ziele auch konsequent und hat damals direkt auf andere Frauen in ihrem Umfeld sehr inspirierend gewirkt.
Dennoch habe ich mir oft Fragen gestellt: Ist mir Frida sympathisch? Ist ihre Interpretation von Freiheit nicht zu egoistisch?
Auf jeden Fall hat sie es sich nicht leicht gemacht, hat ihre Gefühle, ihre Beziehungsprobleme von vielen Seiten her beleuchtet und in ihren Bildern verarbeitet. “Ich bin Frida” heißt für sie: Ich bin diese Frida mit all meinen Widersprüchen und ich habe zu wenig Zeit, um mein Leben linear zu führen, ich muss vieles gleichzeitig nebeneinander schaffen.
Ein lesenswertes Buch!

Bewertung vom 25.08.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Unglaublich und intensiv
In den Niederlanden 1963 konnten Dinge geschehen, die für mich völlig unvorstellbar sind. Gut, wenn man sich nie in den Fängen der katholischen Kirche befand, wenn man in einer viel freieren und toleranteren Gesellschaft aufwachsen durfte, dann ist man fassungslos.
Mich hat dieses Buch in mehrerer Hinsicht erschüttert. Ich hatte eine ganz andere Vorstellung von den Niederlanden, wusste nichts über die konservative und frauenverachtende Haltung gegenüber ledigen Müttern noch in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Frieda Tendeloo denkt mit über 80 Jahren nach einem langen Leben mit ihrem Ehemann und Sohn über völlig verdrängte Ereignisse vor ihrer Ehe nach: Ihre leidenschaftliche Liebe zu Otto, einem verheirateten Mann und die Geburt ihrer unehelichen Tochter unter unglaublichen Bedingungen.
Auslöser war der überraschende Tod ihres Ehemanns Louis und der dadurch zwingend notwendige Umzug in ein Pflegeheim. Hier setzt die Handlung ein. Wir erfahren von den Schwierigkeiten der ersten Tage und Wochen, von Friedas Problemen mit Pflegern und Pflegerinnen, ihrer Scham, wenn sie die Hilfe völlig fremder Menschen in intimsten Situationen annehmen musste. Und in dieser neuen Umgebung überfielen sie die Gedanken an früher mit großer Wucht.
Sie weiht ihren Sohn Tobias ein, erzählt ihm von Otto und ihrer ungewollten Schwangerschaft und bittet ihn um Hilfe. Frieda möchte herausfinden, ob Otto noch lebt, warum er sie nach der Geburt des Kindes so alleine gelassen hat. Sie konnte ja früher mit niemandem darüber sprechen und hat alles ein Leben lang in sich verschlossen.
Stück für Stück erschließt sich Friedas Geschichte. Mit ungeheurer Intensität stürmen die Eindrückende auf den Lesenden ein. Die Ich-Erzählung mit all ihren Bekenntnissen, Unsicherheiten und Fragen war wie ein Sog, unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen.

Bisher kannte ich den Autor Jaap Robben noch nicht, doch seine einfühlsame Erzählweise hat mich sofort überzeugt. Ich finde das Buch großartig!

Bewertung vom 18.08.2023
Die Butterbrotbriefe
Henn, Carsten Sebastian

Die Butterbrotbriefe


sehr gut

Plädoyer für das Briefeschreiben
Wenn auch das witzige Cover eine eher heitere Erzählung erwarten läßt, so verstecken sich in der leicht und locker geschriebenen Geschichte doch einige nachwirkende Gedanken. Speziell natürlich über Eltern-Kind-Beziehungen.
Kati - eine wenig selbstbewusste Enddreißigerin - beginnt spät, aber vielleicht doch noch rechtzeitig, ihr Leben in Frage zu stellen. Sie tut das auf eine sehr skurrile Weise, indem sie Briefe schreibt und sich auf zum Teil lange zurückliegende Ereignisse - positive wie negative - in ihrem Leben bezieht. Die Briefe überbringt sie persönlich und trägt sie dem Adressaten vor. Das kostet sie Überwindung, doch sie kann sich auf ihre wohlüberlegten und präzise formulierten Gedanken verlassen.
Diese Briefe auf altem Butterbrotpapier schreibt Kati vor allem für sich selbst, um Klarheiten zu gewinnen, um Ursachen für Dinge, die nicht so gut gelaufen sind, zu erforschen.
Ihr wird beim Schreiben klar, dass ihr bisher fremdbestimmtes Leben einer radikalen Änderung bedarf.
Zufällig begegnet ihr genau in dieser für sie aufwühlenden Zeit Severin, der selbst ein zutiefst unglücklicher und suchender Mensch mit einer tragischen Vorgeschichte ist. Er verliebt sich in Kati und findet dadurch aus seiner Misere heraus. Bei Kati dauert es länger, bis sie begreift, wie wertvoll Severin für sie selbst ist, wie ihr die Gespräche mit ihm Richtung und Selbstvertrauen geben.
Doch die Lösung für sie ist nicht, jetzt einfach da zu bleiben und ihre Pläne aufzugeben.
Das letzte Viertel des Buches empfinde ich zwar als etwas chaotisch, aber durchaus konsequent, dass letztlich einige Geheimnisse durch alte Briefe aufgedeckt werden.

Fazit: Eigenwillige, aber liebenswerte Charaktere machen diese Geschichte zu etwas Besonderem, einem Plädoyer für das Briefeschreiben.

Mein liebstes Zitat: „Ein Brief war ein Gespräch, bei dem der Lesende die Geschwindigkeit bestimmte.“

Bewertung vom 11.07.2023
Die Erinnerungsfotografen
Hiiragi, Sanaka

Die Erinnerungsfotografen


ausgezeichnet

Märchenhaft

Ein traumhaft schön gestaltetes Buch, alles passt zusammen! Solche äußere Form verstärkt den Lesegenuss, erleichtert das Eintauchen in die fantasievolle Welt der Erinnerungsfotografen.
In einer Zwischenwelt zwischen Leben und Tod erwartet Herr Hirasaki seine Gäste, um ihnen beim Übergang zur Seite zu stehen.

Zuerst erfahren wir von der 92 jährigen ehemaligen Kindergärtnerin Hatsue, deren glücklichster Augenblick es war, einen ausgedienten Bus als Unterkunft für ihren Kinderhort an Ort und Stelle bugsiert zu haben. Sie fand ihre Erfüllung darin, für andere Menschen da zu sein, interessierte sich auf eine Weise für ihre Mitmenschen, dass diese davon berührt wurden. Selbst als sie aus dem Leben gehen muss, sorgt sie sich um das Wohlergehen von Herrn Hirasaki.
Shohei Wanigushi, dem zweiten Gast des Herrn Hirasaki, ist sein Leben egal, er sieht keinen Sinn darin, es nochmals an sich vorüber ziehen zu lassen. Hirasaki bringt auch ihn dazu, einen menschlichen, der Erinnerung werten Kern in sich selbst zu finden..
Herr Hirasaki selbst hat keine Erinnerungen an sein Leben, er besitzt nur ein einziges Foto von sich selbst.
Man muss Märchenhaftes mögen, wenn man sich auf die Bekanntschaft mit Herrn Hirasaki einlässt, der nicht sehr viel von sich selbst erzählt, aber seine Besucher dazu bringt, sich mit den eigenen Erinnerungen auseinanderzusetzen und so auch etwas über sich selbst zu erfahren.
Aber ich möchte nicht vorgreifen, Hirasakis dritter Gast, ein misshandeltes Mädchen, bringt auf verblüffende Weise Licht ins Dunkel.

Es ist nur ein schmaler Band, birgt aber viel Weisheit und Magie in sich und schärft den Blick auf die Erinnerungen des eigenen Lebens. Sehr zu empfehlen!

Bewertung vom 18.06.2023
Zwischen Himmel und Erde
Rodrigues Fowler, Yara

Zwischen Himmel und Erde


weniger gut

Nichts für mich...
Zwischen Himmel und Erde ist alles möglich, Vielfalt in jeder Hinsicht. Das Cover gefällt mir sehr gut und der Klappentext verspricht einen interessanten Roman, auch die Leseprobe liest sich noch gut.
Die beiden jungen Frauen sind tatsächlich sehr verschieden, lediglich ihre Herkunft scheint sie zu verbinden. Rückblenden beleuchten ihre vergangenes Leben in London bzw. Brasilien. Und hier beginnt das Buch für mich schwierig zu werden.
Da ist zum einen die Sprache mit oft verwirrenden Dialogen, unstrukturierten Sätzen, Gedankenfetzen ohne Interpunktion; zum anderen die vielen verschiedenen Personen, die mich nicht fesseln und die ich mir deshalb nicht merken kann.
Es fällt mir schwer, dieses Buch zu bewerten. Ich habe es zwar zu Ende gelesen, aber in vielen Phasen nur diagonal und ohne innere Beteiligung. Mag sein, dass es nicht für mich geschrieben ist. Es ist ja oft so, dass ein Buch nicht gleichermaßen von Menschen jeden Alters gemocht oder verstanden wird.

Bewertung vom 23.02.2023
Lichte Tage (eBook, ePUB)
Winman, Sarah

Lichte Tage (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Hinterlässt einen starken Eindruck
Das Buch fesselte mich, irritiert mich aber auch. Lichte Tage waren anscheinend doch die selteneren. Die Sonnenblumen - die Kopie des Sonnenblumenbildes von Vincent van Gogh - sind der Aufhänger. Zuerst 1950: Dora, zu diesem Zeitpunkt schwanger, hat es bei einer Lotterie gewonnen und in ihrer Wohnung ohne Zustimmung ihres Ehemanns aufgehängt. Diese starke Szene hat mich in der Leseprobe tief beeindruckt und ich war sehr gespannt auf die weitere Entwicklung.
Zeitsprung nach 1996: Doras Sohn Ellis ist jetzt 45 Jahre alt, lebt nach dem Tod seiner Ehefrau Annie allein in Oxford und arbeitet in einer Autofabrik. Anhand seiner Erinnerungen bringt uns die Autorin seine Kindheit, Jugend, seine Hochzeit und das Leben mit Annie nahe. Und vor allem Michael, seinen ersten und besten Freund. 
Von Dora erfährt man nichts mehr direkt, nur noch aus den Erzählungen bzw. Erinnerungen von Ellis oder Michael, die auch immer wieder auf die Sonnenblumen zurückkommen. Die Beziehung der beiden Freunde ist fortan das zentrale Thema, wie sie zunächst spontan ihre Sexualität ausloten, wie beide sich dann unterschiedlich entwickeln, sich trennen und doch nie ganz voneinander lassen können.
Im dritten Teil erleben wir die ganze Geschichte nochmals aus der Sicht von Michael, finden fehlende Puzzleteile, die ganze Tragik tritt zutage.
Es ist ein sehr kunstvoll konstruierter Roman in einer klaren und poetischen Sprache, die mir sehr nahe ging. Der Wechsel zwischen den Zeiten und den Erinnerungen der Personen war manchmal verwirrend, fügte sich aber immer zu einem Ganzen und ließ dennoch dem Lesenden Spielraum für eigene Interpretationen. Sehr empfehlenswert!

Bewertung vom 23.11.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


sehr gut

Ein Raum voller Bücher macht das gesamte bisherige Leben eines zehnjährigen Jungen und damit seine ganze Welt aus. Die Bombardierung Leipzigs und der Untergang des graphischen Viertels in einem verheerenden Brand beendet seine Gefangenschaft, es ist der Beginn eines neuen Lebens.
Die Lebensgeschichte von Robert Steinfeld ist hochdramatisch und mitreißend erzählt, ich war fasziniert.
Die drei Handlungsstränge - Jakob Steinfelds Liebe zu Juli Pallandt 1933, Roberts Abenteuer auf der Flucht mit dem Bücherdieb Mercurio 1943/44 und Roberts Suche nach seiner Herkunft 1971 - fügen sich nach und nach zu einem (fast) vollständigen Bild zusammen. Dabei sind die Zeitenwechsel immer so gewählt, dass Gegenwart und Vergangenheit gerade einen gemeinsamen Bezugspunkt haben. Das hat mir sehr gut gefallen.
Interessant waren die Verstrickungen der Buchhändler- und Verlegerszene im Leipzig der dreißiger Jahre mit den immer mächtiger werdenden Nazis und ihren sehr unterschiedlich motivierten Anhängern. Und nicht zuletzt beschrieb der Autor am Beispiel von Julianas Mutter sehr gut, wie leicht Menschen verblendet und verführt werden können und welche kriminellen Energien aus ihren abstrusen Überzeugungen erwachsen.
Weniger gut gefielen mir die teilweise sehr drastischen und gewalttätigen Szenen, die nichts zum Fortgang der Handlung beitrugen oder der Schilderung historischer Fakten dienten. Muss man, wenn man schon alle Informationen bekommen hat, jemandem zum Abschied noch die Hand brechen?
EIn wenig bedauert habe ich, dass die Gestalt des Mercurio ziemlich unmotiviert aus der Handlung verschwunden ist und nur zum Schluss schemenhaft nochmal auftauchte. Ich war neugierig auf seine Geschichte. Für den elternlos und einsam aufgewachsenen Jungen war er die erste wirkliche Bezugsperson.
Doch insgesamt bot dieses Buch interessanten und spannenden Lesestoff, und Lesern, die sich für Leipzig interessieren, ließ der Roman Bilder der Stadt entstehen, die es so schon lange nicht mehr gibt.