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Juma

Bewertungen

Insgesamt 161 Bewertungen
Bewertung vom 28.05.2025
Die Liebe sucht ein Zimmer
Safier, David

Die Liebe sucht ein Zimmer


ausgezeichnet

Wir sehen uns wieder

Vor zwei Jahren habe ich die ergreifende Lebens- und Familiengeschichte „Solange wir leben“ von David Safier gelesen, Katharina Thalbach kenne ich seit frühester Jugend als Theater-, später als Filmschauspielerin. Beide zusammen ergeben eine brisante Mischung für das neue Buch von Safier, dass die Thalbach mit ihrer wahnsinnig intensiven Stimme liest.
Safier fokussiert seinen Roman auf wenige Stunden im Warschauer Ghetto, im Theater, das an diesem einen Abend das Stück „Die Liebe sucht ein Zimmer“ als Premiere aufführt. Dieses unfassbar traurige, trotzdem manchmal zu Lachtränen führende Stück hat Darsteller, die am Rande ihres Grabes, ihres Daseins auf der Bühne den Zuschauern vor sich 90 Minuten Ablenkung bieten. Die junge Sara, hin- und hergerissen zwischen Edmund und Michal, wie wird sie sich entscheiden? Michal macht ihr ein verlockendes Fluchtangebot, aber sie hängt genauso am Leben wie an ihrem Edmund. Wird sie das Ghetto und Edmund in dieser Nacht für immer verlassen? Oder denkt sie an die Waisenkinder, die dann niemanden mehr haben werden, der ihnen Geschichten erzählt.
Jeder weiß, dass das Warschauer Ghetto und seine Bewohner den Nazis zum Opfer fiel, dass kaum jemand überlebt hat. Diesem Hörbuch über sechseinhalb Stunden zuzuhören mit der Gewissheit, dass die meisten der Protagonisten über kurz oder lang ihr Leben verlieren werden, ist eine harte Probe. Besonders auch deshalb, weil die Stimme von Katharina Thalbach das Grauen so miterlebbar macht.
Fazit: Ja, hören oder lesen sie dieses Buch. Es ist faszinieren und einzigartig. Und es schnürt einem die Luft ab, so nahe ist man den Helden. 5 Sterne.

Bewertung vom 27.05.2025
Ruhrgemüse, polnisch
Schulte, Birgitta M.

Ruhrgemüse, polnisch


ausgezeichnet

Ruhrpott, Ruhrpolen, Ruhrgemüse – wie man eine neue Heimat findet

Die Autorin Birgitta M. Schulte kannte ich bisher nicht. Mit „Ruhrgemüse, polnisch“ hat sie bei mir mit ihrem offenbar ersten Roman einen Nerv getroffen. Meine Großeltern waren auch sogenannte Ruhrpolen, um 1900 aus Westpreußen eingewandert und in Hamborn (heute Duisburg) sesshaft geworden. Über meine eigenen Vorfahren und ihre Lebensbedingungen weiß ich aber fast gar nichts, so dass dieses Buch jetzt auf ganz besondere Weise eine Lücke gefüllt hat.
Der Leser lernt die Koszyńskis kennen, die Ende des 19. Jahrhunderts aus dem äußersten, immer ärmlicher werdenden Westpreußen nach Dortmund kommen. Westpreußen gehörte zwar nach den Teilungen Polens zu Preußen, aber viele Bewohner waren polnischer Herkunft, sprachen besser Polnisch als Deutsch. Adam Koszyński findet Arbeit in einer großen Fabrik, seine Ehefrau Zuzanna ist vorerst zu Hause, es kommen die ersten Kinder. Das Leben in einer kleinen Wohnung ohne jeglichen Komfort ist beschwerlich, die Lebensbedingungen sind von verpesteter Luft bis hin zu stinkenden Abwässern in den Straßen geprägt. Krankheiten sind an der Tagesordnung und gefährden besonders die nicht gut ernährten Kinder. Schmalhans ist Küchenmeister, trotz eines besseren Verdienstes als in Westpreußen. Doch dann verliert Adam zuerst durch einen Arbeitsunfall ein Auge, später durch widrige Umstände auch seine Arbeit. Er ist ein engagierter Arbeiter gewesen, nun wird er ein engagierter Sozialdemokrat. Zuzanna versucht das fehlende Geld mit Näharbeiten auszugleichen, was ihr aber immer schwerer fällt, je größer die Familie wird.
Das Polnischsein wurden den Koszyńskis schon rechtzeitig ausgetrieben, sie heißen nun Kosshofer. Aber Polen sind sie immer noch, Polak ist noch das geringste Schimpfwort, das sie aushalten müssen. Aber besonders Zuzanna versucht sich zu integrieren, ständig schimpfende und wütende polnische Nachbarinnen und Freundinnen sind dem nicht zuträglich.
...
Die politischen Bedingungen sind für Zuwanderer noch schwerer, als für die Einheimischen. Die Entwicklung der Sozialdemokratie, der Große Krieg, 1918 die Soldatenräte, Bürgerkriegsähnliche Zustände, Kapp-Putsch, französische Besatzungszeit und Weimarer Republik, beginnende Inflation, all das wirkt sich auch bedrohlich auf den Haushalt der Kossdorfers aus. Die Autorin flicht in die Familiengeschichte auch gekonnt die deutsche Geschichte ein. Das hat mir sehr gefallen, auch wenn mir nur die Details aus Dortmund neu waren.
Beim Epilog habe ich geschmunzelt und an meine mühsam erarbeitete Vater-Biografie gedacht. Auch mein Vater (Jahrgang 1911) verleugnete seine polnische Herkunft. Selbst der eingedeutschte Familienname war ihm nicht gut genug, er änderte die Endung von k auf g. Und er erfand sich eine hugenottische Herkunft und hielt daran bis zum Tode fest. Als Kind lernte ich meine Oma bei einem einzigen Besuch in Ostberlin kennen, ich verstand sie kaum, erst 20 Jahre nach dem Tod meines Vaters erfuhr ich, dass meine Großeltern polnischer Herkunft waren. Meine Großmutter war vielleicht auch ein bisschen wie Zuzanna, klein und zäh, brachte sie die große Familie durch die schweren Zeiten. Selbst meine Mutter, die damals noch lebte, konnte die Wahrheit über die Herkunft meines Vaters kaum glauben. Mein Großvater war Maschinist und Kranführer in der August-Thyssen-Hütte in Duisburg, ähnlich wie Vater Adam im Buch, ein gut ausgebildeter Facharbeiter.
Mehr will ich jetzt auch nicht erzählen über die Lebenswege der Koszyński/Kosshofer-Familie. Ich kann das Buch aber mit gutem Gewissen jedem empfehlen, der sich für deutsche, auch polnische Geschichte interessiert, der authentische Familienromane mag und außerdem einen Blick für gute Typografie hat. Denn dieses Buch bietet nicht nur blanken Text, es ist mit einigen wunderbaren, passenden Illustrationen zu jedem neuen Kapitel geschmückt, die mich sehr angesprochen haben. Initialen und eine Jugendstilschrift für die Überschriften runden das Gesamtbild perfekt ab. Das Personenverzeichnis hätte ich mir an den Anfang gewünscht. Normalerweise beginnt man ein Buch vorne, so habe ich es erst sehr spät entdeckt. Schade ist, dass nicht ein einziges Foto der Familie (es wird zumindest eines erwähnt), im Buch gezeigt wird. Es hätte die Authentizität sicher noch mehr erhöht.
Das Cover scheint mir zumindest online nicht besonders gut gelungen, der Gegensatz zu den Illustrationen im Inneren ist sehr stark. Ob ich das Buch auf dem Ladentisch ergriffen hätte, das kann ich nicht sagen, meine Rezension bezieht sich auf eine digitale Version.
Fazit: ein gut geschriebener Familienroman, gleichzeitig ein Geschichtsbild des Ruhrgebietes ab Ende des 19. Jahrhunderts. Leseempfehlung von mir. Glatte 5 Sterne.

Bewertung vom 22.05.2025
Das Teufelshorn (eBook, ePUB)
Nicholas, Anna

Das Teufelshorn (eBook, ePUB)


gut

Verbrechen im Urlaubsparadies Mallorca

Ich bin mindestens so sehr Mallorca- wie Krimifan, das Cover und die Vorankündigung lockte mich sofort. Anna Nicholas hat The Devil’s Horn schon 2019 geschrieben, jetzt hat der Diogenes Verlag es in sein Programm aufgenommen. Aus meiner Sicht erfüllt Das Teufelshorn nicht ganz die aus meiner Sicht recht hohen Ansprüche, aber es ist ein Krimi, der zur Unterhaltung beiträgt und mir insgesamt gut gefallen hat.
Die Erzählweise entsprach zuerst eher einer leichten Regionalstory mit viele Personen, die vorgestellt wurden und mit vielen Beschreibungen von Land und Leuten, Natur und Meer, Essen und Trinken, Liebe und Leidenschaften fehlen auch nicht. Erst langsam wurde ein Krimi daraus, der mit Verbrechen aller Art regelrecht gespickt wurde. Nach dem Verschwinden eines kleinen Mädchens wird die Hauptperson, Isabel Flores, die sich aus dem Polizeidienst verabschiedet hat, als unterstützende Ermittlerin auf die Fährte der Entführer geschickt. Polizeichef Tolo Cabot, mit dem sie eng befreundet ist, braucht aber bald noch mehr Hilfe bei der Verbrecherjagd. Es geschieht ein bizarrer Mord an einem alten Mann, der offensichtlich mit der vermutlichen Kindesentführung nichts zu tun hat, der aber auf ganz andere Weise den kleinen Ort bewegt. Für Abwechslung sorgen Isabels Haustier, ein Frettchen namens Furó, und ihr Auto mit dem Namen Pequeñito. Auch die anderen Protagonisten sind liebevoll beschrieben und man hat das ganze Dorf vor Augen, wenn man von ihnen liest. So auch vom „Wiesel“, das mit Knöllchen droht, sogar den Einheimischen, wie Isabel total entsetzt feststellt.
Isabels Mutter unterhält einige Ferienwohnungen und Isabel ist auch hier eine unerlässliche Hilfe. Dass es bei den Feriengästen nicht immer mit rechten Dingen zugeht, wird sich erst später zeigen. Der Krimi verfängt sich ein wenig in seiner eigenen Geschichte, Drogen sind im Spiel, von Diamanten ist die Rede, am Teufelshorn geht es auch nicht mit rechten Dingen zu usw. Der erste Fall von Isabel sind so gesehen zwei oder drei, hinzu kommt das mysteriöse Verschwinden ihres Onkels.
Ich habe immer abwechselnd, je nachdem, wo ich war, gelesen oder gehört. Das Buch liest sich leicht und schnell, da ich leider nicht Spanisch kann, sind die spanischen Ausdrücke für mich eher Beiwerk. Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich lieber das Buch lesen, aber nun bin ich mit beidem fertig. Gute drei Sterne!

Fazit: Ein Krimi für den heißen Strand, der gute neun Stunden Unterhaltung bietet.

Bewertung vom 20.05.2025
Mord am Schätztag / Siggi Malich ermittelt Bd.2
Lehnertz, Waldi

Mord am Schätztag / Siggi Malich ermittelt Bd.2


ausgezeichnet

Was ist bloß ein Zeidis?
Selten habe ich mich über einen Krimi so amüsiert, das mag schon was heißen. Es wimmelt nur so von herrlich schrägen Figuren, allen voran Sigi, der Antiquitätenhändler, mit seinem Freund Anton, der wohl mehr Ahnung von Antiquitäten hat. Dazu gesellt sich Sigis Freundin Doro, die aber schon nach dem ersten Toten und rund 50 Seiten vom Erdboden verschwindet. Hilfsbereit tritt ihr Rollator fahrender Vater Isä auf den Plan, verstärkt durch einen schielenden Polizisten versucht das Quartett, die offensichtlich entführte Doro wiederzubeschaffen. Ein komisches Vergnügen, bei dem auch ein bisschen Blut und Tränen fließen. Das Autorenteam Waldi Lehnertz (mir nicht mal vom TV bekannt, welch Versäumnis) und Miriam Rademacher (mir schon bekannt durch „Im Blut“ und „Wintergrab“) gibt alles, um die amüsante Spannung aufrecht zu erhalten. Der Satz „Wir sind hier in der Eiffel und nicht in Guantanamo.“ ließ bei mir sämtliche Dämme brechen, einfach zum Totlachen. Nein, nicht totgelacht, aber herzlich. Natürlich wird die eingangs gestellte Frage „Was ist bloß Zeidis?“ am Ende ganz ordentlich aufgelöst, auch wenn ich es vollkommen blödsinnig fand. Aber von so weit her muss man eben seine Pointen erst mal holen und dann niederschreiben. Das kann bestimmt auch nicht jeder.
Fazit: Mit Witz und Ironie lesen sich die rund 300 Seiten schnell und leichtfüßig, ohne ins Triviale abzurutschen. Mir hat es Spaß gemacht, weil es gut Unterhaltung ist und Abwechslung in meine Lesegewohnheiten brachte. Gute 4 Sterne.

Bewertung vom 19.05.2025
Verbrannte Wörter
Heine, Matthias

Verbrannte Wörter


ausgezeichnet

Gutes Hilfsmittel für sprachlich schwieriges Terrain

Ich kenne Matthias Heine von der „WELT“, habe dort auch schon von diesem Buch gelesen. Ich interessiere mich sehr für die deutsche Sprache und beobachte die aktuelle Entwicklung mit Sorge. Immer hatte ich beruflich mit (dem) Texten zu tun, später habe ich auch selbst Sachbücher geschrieben, in denen viele Worte aus Heines Buch Verwendung fanden. Gerade die richtige Wortwahl ist mir wichtig. Ich habe jüdische Vorfahren und wenn ich bestimmte Begriffe im Alltag höre, schrillen bei mir sämtliche Alarmglocken. Mit diesen Gedanken im Kopf habe ich das Buch von Heine gelesen, ich müsste vielmehr sagen verschlungen.
Auf den Leser warten 103 Worterklärungen, die es in sich haben! Beim Duden Verlag, wo das Buch erschienen ist, finden Interessierte eine Leseprobe, in der auch das Inhaltsverzeichnis enthalten ist. Im Onlinebuchhandel ist diese Leseprobe offenbar nicht downloadbar.
Mit gefällt der Aufbau dieses kleinen Nachschlagewerks! Ein erklärendes Vorwort zur 2. aktualisierten und erweiterten Auflage, eine tiefergehende Einleitung, zu jedem erklärten Wort eine Empfehlung zur (Nicht)-verwendung, am Ende ein Inhaltsverzeichnis, das gleichzeitig wie ein Index aufgebaut ist. Warum das Inhaltsverzeichnis aber in so kleiner Schriftgröße gedruckt wurde, erschließt sich mir nicht. Platz am Ende ist doch wahrlich genug vorhanden.
Besonders die Einleitung habe ich langsam und mit Bedacht gelesen, für mich eine Unterrichtsstunde in Sprachentwicklung und -gebrauch, auch -missbrauch. Dass ich nicht mit allem konform gehe bzw. Parallelen zur heutigen Schreibweise gerade in den Print-/Internetmedien feststelle, liegt in der Natur der Sache. Wenn ich zum Beispiel auf Seite 22 lese "..., Propaganda müsse sich immer am Dümmsten ihrer Adressaten orientieren." (O-Ton Hitler in Mein Kampf), liegt bei mir die Vermutung nahe, dass das leider auch heute nicht ganz ausgeschlossen ist. Ein Begriff Heines gefiel mir besonders: "grobianische Umgangssprachlichkeit", auch da fallen unsere Medien ab und zu bei der Wahl der Worte nicht sonderlich positiv auf.
Die behandelten Wörter und Phrasen sind alphabetisch geordnet, von Absetzbewegung über alttestamentarisch, Arier, ausrichten, Blockwartmentalität, Eintopf, Gleichschaltung, innerer Reichsparteitag, Judenstern, S wie Siegfried bis hin zu Weltanschauung und zersetzen finden sich hochinteressante Analysen. Ich habe mir mitunter fast verwundert die Augen gerieben, was mir im Alltag bisher alles nicht aufgefallen war. Vielleicht hätte es den Rahmen gesprengt, aber das eine oder andere heute gebräuchliche oder „verbrannte“ Wort hat mir doch gefehlt. Zum Beispiel Muttertag oder Endlösung.
Ich kann natürlich hier nicht zu 103 Einträgen einen Kommentar abgeben, aber meine Gedanken zum Wort „Gutmensch“ möchte ich als Beispiel anführen. Ich bin kein Nietzscheaner, aber der auf Seite 125 zitierte Satz von Nietzsche in Bezug auf "Diese ›guten Menschen‹ ..." liegt aus meiner Sicht auch heute sehr nahe an der Wahrheit. Wenn politische Einsicht und Pragmatismus mit der Moralkeule bekämpft werden, ist das für eine funktionierende Gesellschaft eher abträglich.
Das Wort Krise habe ich zuvor nicht mit nationalsozialistischem Gedankengut in Verbindung gebracht, da es sich auf so viele heutige Probleme und Störungen bezieht, dass der "Untergang" mir gar nicht mehr in den Sinn kam.
Matthias Heine bezieht sich bei seinen Erklärungen im Buch nicht nur auf den Gebrauch der Wörter heute und in der Nazizeit, er bezieht auch die Benutzung in der DDR mit ein. So z. B. bei Kulturschaffende, die ich als ehemalige DDR-Bürgerin nicht unbedingt mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachte. Ich habe mich schon früher mit dem Wortschatz der Nazis, aber auch der DDR auseinandergesetzt. In "Giftige Worte der SED-Diktatur" von Ullrich Weißgerber findet man auch Begriffe wie „asozial“, „entartet“, „Hetze“ und „Zersetzung“. In der DDR wurde sehr ähnlich argumentiert wie zu Nazizeiten, nur eben mit anderen Vorzeichen.

Fazit: Für mich ist die Lektüre sehr anregend und auch lehrreich gewesen. Heine hat einen sehr gut lesbaren Stil, seine Erklärungen sind schlüssig formuliert. Vieles war mir bekannt, aber es noch einmal erklärt zu bekommen und neu darüber nachzudenken, das war das Lesen wert! Ich empfehle dieses Buch jedem, der sich mit der deutschen Sprache beschäftigt.

Bewertung vom 16.05.2025
Die geheime Sehnsucht der Bücher
George, Nina

Die geheime Sehnsucht der Bücher


ausgezeichnet

Selbstgemachte und andere Kalamitäten

„Das Lavendelzimmer“ und „Das Bücherschiff des Monsieur Perdu“ bilden die Grundlage für den neuen Roman von Nina George. Ich habe leider erst mit dem dritten Buch angefangen, Monsieur Perdu kennenzulernen. Vielleicht wäre es doch hilfreich, zu wissen, was einen erwartet.

Die Idee der Literarischen Apotheke in der Ankündigung des Buches fand ich so berückend, dass ich unbedingt lesen wollte, was da auf dem Bücherschiff geschieht. Außerdem hat mir das Cover so gut gefallen, das müsste doch eigentlich ein tolles Buch sein. Hoffte ich. Nach mehr als der Hälfte des Romans dachte ich aber tatsächlich ans Aufgeben. Der Wortspiele – die zu Beginn recht witzig und einfallsreich waren – war ich langsam überdrüssig und die Handlung mäanderte hin und her. Anstatt eines Roten Fadens hatte ich wohl zu viele vor Augen. Aber wie das so ist mit dem Lesen, der Mensch ist eben auch neugierig. Wie würde das ausgehen, was hält die Autorin noch in der Hinterhand? Bücher konnten es kaum sein, derer gab es schon reichlich.

Und dann begann das Buch mich tatsächlich zu fesseln, das Rätsel um die junge Françoise und ihre Mutter wurde aufgelöst, Pauline würde vielleicht doch glücklich werden, Perdu ist und bleibt der Mann fürs „Psychologische“… Ich will nichts verraten, nur so viel, dass es mir am Ende doch Freude gemacht hat, dieses Buch.

Lässt Nina George auf Seite 303 so etwas Selbstkritik durchscheinen? Zitat: „Na ja, sie musste halt dreihundert Seiten vollkriegen, der Druck ist sonst im Verhältnis so teuer.“ Aber man kann es bekanntlich nicht jedem recht machen, so sind es halt über 330 Seiten geworden. Mir hätten vielleicht 250 gereicht.

Einige Details haben mich sehr beschäftigt, z. B. die Sorge der zwölfjährigen Françoise um ihre Mutter. Das Geschilderte ist kein Hirngespinst, ich habe während meiner Berufstätigkeit den Verein Young Carers kennen gelernt, der sich explizit um pflegende Kinder kümmerte, ihnen Beistand und Hilfe gab, Freizeiten und Ferienlager organisierte. Das funktioniert aber nur, wenn die Umgebung überhaupt etwas mitbekommt von der familiären Katastrophe. Diesen Teil des Romans empfand ich als sehr gelungen, den Zwiespalt, die Angst, die Scham des Kindes zum Thema zu machen. Die Literarische Apotheke von Perdu passt jedenfalls hervorragend dazu.

Auch Pauline ist als „Azubine“ von Perdu mit verschiedenen Problemen konfrontiert. Insbesondere ihr Äußeres macht ihr zu schaffen, denn jeder, der sie ansieht, sieht ihre arabischen Wurzeln. In Frankreich sind Vorurteile gegen die Eingewanderten offensichtlich nicht selten, was vielleicht auch aus der relativ hohen Prozentzahl der dort lebenden Einwohner mit Migrationshintergrund und der französischen Geschichte resultiert. Dass und wie sich das nicht nur im Alltag, sondern auch in der Liebe widerspiegelt, kann man bei Paulines Geschichte gut nachvollziehen.

Dieses Zitat von S. 320 muss ich noch hinzufügen: „Wie konnte das denn sein, dachte Françoise, so lange nicht miteinander zu reden. In Geschichten war das so, aber auch im Leben?“ — Und ich beantworte die Frage gleich selbst: ja, das Leben schreibt noch viel schrägere Romane. 46 Jahre Schweigen waren bei mir echt, ich kenne keinen Roman, der das übertroffen hat. Deshalb finde ich dieses Buch mit seinen vielen ausgedachten Unwahrscheinlichkeiten auch gar nicht so besonders unwahrscheinlich.

Alle Protagonisten waren recht intensiv, einfach starke Charaktere, haben sich aber aus meiner Sicht gegenseitig ein bisschen ausgebootet. Perdu ist für mich der mit den tollsten Ideen, aber sein leises Charisma reicht nicht für meine Nummer Eins. Zuerst war es Françoise, die ich am meisten liebte, nun, zum Schluss ist es eher Pauline.

Das zukunftsfrohe Ende und „Die Wälder der Zeit“ sind emotionale Höhepunkte dieses Romans. Schön!

Fazit: Ehrliche Leseempfehlung, ein bisschen Geduld und viel Freude an sprachlicher Akrobatik und „Metapherstreubomben“ setze ich voraus.

Bewertung vom 15.05.2025
Wir Ostpreußen
Buchsteiner, Jochen

Wir Ostpreußen


ausgezeichnet

Nicht nur 80 Jahre zurück
Jochen Buchsteiner, mir bekannt als Journalist, der viele interessante Themen bei der FAZ aufgreift, ist zurück in die Vergangenheit gereist mit seinen Gedanken. Die Aufzeichnungen seiner Großmutter bilden den privaten Rahmen für ein Buch, das weitaus umfangreicher über Ostpreußen berichtet als über die Familiengeschichte.
So erfährt der Leser vieles über Ostpreußens Geschichte, Land und Leute, Dichter und Denker. Wer das Glück hat, überhaupt keine Vorfahren, die aus ihrer Heimat flüchten mussten oder vertrieben wurden, zu haben, der kann sich wohl glücklich schätzen. Denn die Traumata von Flucht, Vertreibung und Neuanfang belasten nicht nur diejenigen, die es direkt erlebt haben, die Traumata sind in den nachkommenden Generationen immer noch tief verwurzelt. Meine Vorfahren mussten Meseritz, das jetzt in Polen liegt verlassen, ich weiß, wovon Buchsteiner schreibt. In der DDR durften sie nur als Umsiedler bezeichnet werden. Eine sehr prosaische Umschreibung der Tatsachen. Dass Buchsteiners Großmutter Else eine so pragmatische und tapfere Frau war, hat nicht nur ihr und ihren Kindern, sondern auch vielen anderen das Leben gerettet. Wie schwer später der Neuanfang auch fiel, sie hatte überlebt und konnte noch im hohen Alter ihre Erinnerungen genau wiedergeben. Ein Glücksfall, nicht nur für den Autor, auch für die Leser dieses Buches.
Buchsteiner hat sich mit der Materie sehr intensiv auseinandergesetzt, das merkt man mit jedem Kapitel mehr. Seine negativen Eindrücke vom „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ kann ich nur bestätigen, ich empfand die Ausstellung als beschämend – gefördert von der Bundesregierung! –, beschämend ist vor allem die vorherrschende Distanz und Emotionslosigkeit im Bezug auf die Verluste und Opfer der deutschen Zivilbevölkerung.
Sehr interessant sind die Erlebnisse des Autors in Polen, es ist vor Ort dann doch anders, als man es aus Büchern liest. Und die Kontakte zu jungen Polen, die zeitweise auch zu Missverständnissen führen und viele Vorbehalte zeigen sind etwas , dass ich aus der Familienforschung meines Mannes im Heimatkreis Schlochau kenne: Die Vorbehalte gegen Deutsche sind weitergegeben und „vererbt“, es geht schnell, dass die polnische Seite sich zurückzieht und sehr reserviert ist gegenüber den neugierigen Deutschen. Offenbar ist da auch immer noch die Angst, man könnte ihnen Vorhaltungen machen, weil sie jetzt im ehemaligen deutschen Gebiet leben. Sehr dünnes Eis, das merkte auch der Autor.
Ganz am Ende in der Danksagung schreibt Buchsteiner, dass er bereits seit 1999 die Gedanken über dieses Buch mit sich trägt. Mich wundert das nicht, über die eigene Familie zu schreiben, bedeutet auch immer die Gefahr, sehr private Empfindungen, auch die eigenen, zu verletzen. Auch das kenne ich aus eigener Erfahrung. Das breite Repertoire an Quellen musste vom Autor für seine historischen Texte auch erst einmal studiert werden, Recherchen ziehen Recherchen nach sich, da dauert die Fertigstellung eines druckreifen Manuskriptes eben Jahre. Ich kann zum Ergebnis nur gratulieren. Dass mir trotz allen Lobs der Schreibstil nicht immer gut gefallen hat, ist eher subjektiv.
Obwohl ich keine Vorfahren in Ostpreußen hatte, hat mich dieses Buch doch sehr gefesselt. Und ich habe meine Geschichtskenntnisse gut aufgefrischt. Insbesondere die Entwicklung der Stadt Königsberg, heute russisch Kaliningrad, der der totale Garaus gemacht wurde, wird umfassend betrachtet. Die Bezüge zur aktuellen Situation beiderseits der Grenze lassen nichts Gutes ahnen, man kann nur hoffen, dass die Nato russischen Attacken gewachsen ist.
Insgesamt sage ich als Fazit: Leseempfehlung! Das Thema passt zum Tag der Befreiung, den wir gerade zum 80. Mal begangen haben. Ich freue mich, dass auch heute noch darüber so beherzt geschrieben wird und wünsche dem Buch viele Leser. Fünf von fünf Sternen sind ehrlich verdient.

Bewertung vom 11.05.2025
Pflegefall (eBook, ePUB)
Bretzinger, Otto N.

Pflegefall (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es kann jeden (be-)treffen

Der Autor Otto N. Bretzinger ist mir schon von anderen Ratgebern (Erben, Vererben, Testament, Vermietung etc.) gut bekannt. Er bietet dem interessierten und Hilfe suchenden Leser hier mit "Pflegefall" ein übersichtliches Kompendium zu unzähligen Fragen, die damit im Zusammenhang stehen. Gerade im Alter sollte sich jeder mit der Thematik auseinandersetzen und zumindest einige Grundkenntnisse haben, was es bedeutet, ein Pflegefall zu werden oder plötzlich einen in der Familie zu haben. Ich bin 70 und musste feststellen, dass schon ein simpler Knöchelbruch das Leben von einem Tag auf den anderen auf den Kopf stellt. Wie mag es erst Menschen gehen, die auf Dauer in eine dauerhafte Pflegebedürftigkeit kommen. Wenn dann auch noch die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sind, wie Lesen, Sprechen oder Hören, ist es problematisch, sich noch selbst zu informieren. So wendet sich ja das Buch auch an Pflegende und Pflegebedürftige.
Mich haben besonders die Kapitel angesprochen, in denen erklärt wird, wo und wie Anträge auf Leistungen zu stellen sind und wie man sich auf die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst vorbereitet. Das ausführliche Kapitel zu den Leistungen der Pflegeversicherung hat mir gezeigt, dass es wesentlich mehr Möglichkeiten gibt, als man gemeinhin denkt. Und dass bei weitem nicht alles, was man sich wünschen würde, von der gesetzlichen Pflegeversicherung abgedeckt wird.
Fazit: ein gut lesbarer Ratgeber, den man unbedingt im Hause haben sollte. 5 Sterne (besonders für die gute Lesbarkeit und die ausführliche Betrachtungsweise).

Bewertung vom 11.05.2025
Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt null Prozent (eBook, ePUB)
Ebert, Michael

Die Regenwahrscheinlichkeit beträgt null Prozent (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

I’m giving it all oder wie man Krieger wird
Die Geschichte des Hannes Hennes ist ungewöhnlich, nicht frei von Komik und Tragik, und wird ganz wunderbar erzählt von der perfekten Sprecherin Irina Scholz (mir z. B. bekannt durch „Café Engel“ oder die Müttertrilogie).
Wie es kommt, dass dieser eher durchschnittliche Mathelehrer Hannes bei einem Männerseminar „Mannsein und Krieger werden“ landet, der tatsächlich einen Bruder hat, welcher einen Nobelpreis errang, der auf dessen Nobelpreisfeier sein darf, der sich immer noch über seinen Vater ärgert, der mit ihm nicht so viel Geduld hatte, dass er vielleicht auch einen Preis hätte erringen können. So viele Konjunktive, so viele verpasste Möglichkeiten. Aber genauso viele Dramen, die der eigentlich furchtbar schüchterne Hannes erlebt, der die Schuld am Tod eines Gymnasiasten nicht verkraftet, der die Beinaheschuld am nicht eingetretenen Tod seiner Ehefrau nicht wagt zu erklären. Doch er wird auch eine unwahrscheinliche Rettungsaktion durchführen. Und er weiß erstaunlich viel über Neutrinos.
„Große Zahlen bringen mich dazu, mich weniger wichtig zu nehmen.“, das erfährt Hannes by the way, nachdem er auf etwas gewaltsame Weise sein Seminar beendet hatte. Er findet einen neuen Freund und alles sollte nun doch noch gut werden.
Es ist ein Roman, der nur auf den ersten Blick eine Satire ist, der Käufer, Hörer bzw. Leser, hat aus meiner Sicht eine psychologisch tief gehende und philosophische Erzählung erworben. Was ist normal? Wer ist normal? Diese Fragen wird sich am Schluss jeder Rezipient selbst beantworten müssen. Der Autor Michael Ebert bleibt im vagen, dass er seinen Antihelden sehr mag, merkt man aber auf jeder Seite. Auch wenn Hannes Mathematiker ist, muss man Mathematik nicht lieben oder verstehen, dieser verrückte Hannes wächst einem trotzdem sehr ans Herz. Mir jedenfalls.
Michael Ebert benutzt eine angenehm eindringliche Sprache, Wortwahl, Stil und Rhythmus der Sätze sind authentisch und selbst beim Stammeln noch verständlich. Irina Scholz hat sich mit Eberts Sprache symbiotisch vereinigt, auch wenn von Zeit zu Zeit ihre Betonung nicht ganz den richtigen Ton trifft.
Fazit: Auf dem Buchcover findet sich ein Satz von Juli Zeh: »Ein mitreißendes Buch! Michael Ebert erzählt mit großer erzählerischer Kraft, der man sich gern überlässt.« Besser kann ich das auch nicht schreiben. Beim Hörbuch muss ich dann nur noch hinzufügen, dass es mitreißend gelesen wird von Irina Scholz.
Tatsächlich fünf Sterne.

Bewertung vom 11.05.2025
Die unsichtbare Hand (eBook, ePUB)
Clark, Julie

Die unsichtbare Hand (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Perfekt inszeniertes Familiendrama
Die Leseprobe des neuen Thrillers von Julie Clark gefiel mir bereits so gut, dass ich auch das restliche Buch unbedingt lesen wollte. Ich habe es nicht bereut, von der ersten bis zur letzten Seite nicht nur ein gewöhnlicher Thriller, sondern ein genial konstruierter Roman, der mich tatsächlich gefesselt hat.
Clark arbeitet mit unterschiedlichen Mitteln und Ebenen, Zeitebenen und verschiedenen Details, die im Laufe der Zeit ans Licht kommen.
Olivia Dumont ist eine anerkannte Ghostwriterin, die sich in ziemliche finanzielle und berufliche Schwierigkeiten gebracht hat und nun mit einem Blockbuster der speziellen Art hofft, all ihre Probleme zu lösen. Sie ist seit ihrem fünften Lebensjahr beim Vater Vincent Taylor aufgewachsen, die Mutter entfloh der Familie bzw. Familientragödie und ließ beide allein. Der überforderte Vater, dem der Makel des ungeklärten Geschwistermordes anhängt, gibt Olivia später ins Internat und sie findet nicht wieder zu ihm zurück. Es scheint eine Trennung auf Lebenszeit zu werden. Ihrem Lebenspartner Tom erzählt sie nichts davon, er glaubt, ihre Eltern seien tot.
Als Olivia den Auftrag für ein neues Buch erhält, hofft sie, ihre Finanzen sanieren zu können. Aber der Auftrag ist heikel, sie soll die Memoiren ihres Vaters schreiben, der auf Grund einer alzheimerähnlichen Erkrankung dazu nicht mehr in der Lage ist. Sehr schnell stellt sich heraus, dass ihr vertragliches Schweigegelübde ebenso hinderlich ist wie der unaufgeklärte Mord an Poppy, der Schwester, und Danny, dem Bruder ihres Vaters. Zwischenzeitlich rastet ihr Vater bei der Zusammenarbeit total aus, verwechselt sie mit ihrer Mutter oder lügt, dass sich die Balken biegen.
Aus der heutigen Zeit wechseln die Kapitel ins Jahr 1975 und man sieht die Vorgänge aus der Sicht der drei Geschwister, aus Tagebüchern, Filmen, Manuskripten und kurzen Interviews mit Zeitzeugen. Der Leser rätselt von Beginn an mit, was der Anlass war und wie der Mord geschah! Und er rätselt bis zum Schluss. Langsam dringt Olivia in die tiefsten Abgründe vor. Gut so, Spannung pur.
Mir haben die Protagonisten gefallen, kein Einziger hatte sofort meine volle Sympathie, jeder hat Ecken und Kanten und doch fieberte ich mit. Der Schreibstil ist gut und flüssig, kein verkopfter Satz stört den Ablauf der Geschichte. Also auch eine gute Übersetzung, ich sah mich nicht genötigt, mir den englischen Originaltext anzuschauen, mir hat es einfach so gefallen, wie es geschrieben ist.
Das Cover basiert auf einem alten Filmausschnitt und gibt die Atmosphäre, in der das Verbrechen geschah, gut wieder. Was mir nicht gefällt ist das zusätzlich aufgedruckte Cover des letzten Buchs von Clarke, es lenkt ab und passt nicht zur Gesamtgestaltung. Das gleiche Stilmittel wurde bei ihrem Roman „Der Plan“ verwendet, auch dort wirkt die schöne Gestaltung mit der großen Welle etwas zerrissen.
Von mir die vollen 5 Sterne, auch dafür, dass Olivias fragile Beziehung zu Tom nicht zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde. Der Titel „Die unsichtbare Hand“ hätte auch „Dunkle Stunden“ oder „Verborgene Wahrheiten“ heißen können. Der Originaltitel „The Ghostwriter“ trifft es aus meiner Sicht gar nicht so gut, ich sehe eher die unausgesprochenen Familiengeheimnisse im Fokus. Von mir eine Leseempfehlung!