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lustaufbuch

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Insgesamt 218 Bewertungen
Bewertung vom 27.08.2025
Wahl, Caroline

Die Assistentin


sehr gut

»Der Kerl wird dich kaputtmachen, wie er die anderen vor dir kaputtgemacht hat.«

Als Charlotte nach München zieht, um die Assistentin des Verlegers eines renommierten Verlages zu werden, zweifelt sie bereits, ob es wirklich das Richtige für sie ist. Gleich am ersten Tag merkt sie, dass sie den willkürlichen Launen des Verlegers ausgesetzt ist, der dabei nicht nur berufliche Grenzen überschreitet.
Weder andere Mitarbeitende noch ihre Eltern, die sie mehrmals hilfesuchend kontaktiert, nehmen ihr Anliegen ernst, sondern suchen die Schuld bei ihr. Einzig Bo, in den sie sich verliebt, spricht ihr zu, dort zu kündigen, bevor sie daran zerbricht. Doch auch auf ihn kann sie nicht lange zählen…
Immerhin ein Lichtblick nach Arbeitstagen, die sie regelrecht an ihre Grenzen bringen, bleibt – ihre Musik.

Caroline Wahls neuer Roman ist ein Spiel mit der Sprache, der Handlung und den Leser*innen an sich.
Durch Effekte des Vorwegnehmens, scheint die Handlung gespoilert zu werden, was aber nicht der Fall ist, da zumindest die grobe Story und deren Ausgang bereits vor dem Lesen hinlänglich bekannt sein dürfte, falls nicht spätestens nach wenigen Seiten.
Ihr durchaus rotziger und frecher Ton bleibt erhalten und gibt ungeschönt ihre Gefühlslage wieder. Dabei merkt man, wie dieser autofiktionale Roman und das Wiedererleben mancher Ereignisse die Autorin mitnimmt und immer noch nicht loslässt.

Jedoch verlor diese außergewöhnliche Art des Erzählens durch häufige Wiederholungen von Phrasen, wie „dazu später mehr“ oder mehrmaliger Erwähnungen von gleichen Geschehnissen, die noch in der Zukunft liegen, ihre Besonderheit und sorgte bei mir für ein eher distanzierteres Leseerlebnis. Da eigentlich kaum Handlung vorhanden war, erschienen mir zudem nicht wenige Stellen etwas langatmig.
Manchmal ist weniger vielleicht doch mehr.

Aber es ist kein schlechter Roman, nur einer der vielleicht zu viel möchte. Dennoch habe ich ihn, eben weil er so ganz anders als ihre bisherigen war, gerne gelesen und hoffe, dass er ein weiterer Stein ist, der die Mauer des Patriarchats zu Fall bringen wird.

Bewertung vom 27.08.2025
Navarro, Mariette

Am Grund des Himmels


sehr gut

»Und so tun wir das, was wir immer tun: Wir begegnen der Brutalität der Welt, indem wir sie ignorieren.«

Claire hat eigentlich alles, was sie sich je gewünscht hat. Sie arbeitet bei einem großen, angesehenen Unternehmen und das, obwohl sie aus eher ärmlicheren Verhältnissen kommt. Ihre Gedanken beschäftigen sich mit ihrem neuen Leben und lassen ihre Herkunft gewissermaßen hinter sich. Eines Tages jedoch öffnet sie die Luke über dem Bürotrakt und steigt aufs Dach. Dort genießt sie den Blick, der ihr jedoch schnell bewusst macht, welches Leben sie aktuell lebt. Claire bleibt auf dem Dach. Auch als ein Sturm aufzieht, entschließt sie sich dort oben zu übernachten. Der Wind, der um sie fliegt, lässt sie über alles Nachdenken. Ist das noch ihr Leben, das sie leben möchte? Und was hat eigentlich ihr Job aus ihr gemacht? Ganz sicher eine Frau, die sie nie sein wollte.
Als sie am nächsten Morgen durch die Luke steigen möchte, sieht sie, dass sie zugefallen ist…

Wie bereits in Navarros erstem Roman findet sich eine Protagonistin an einem entlegenen Ort wieder, diesmal auf dem Dach während eines Unwetters.
Mit gewohnter sprachlicher Wucht und zugleich auf poetische Art und Weise kommt der Text daher. Er zieht die Leser*innen in den Bann, irritiert und verwirrt sie und reflektiert das Leben der Protagonistin, als Einladung zum Abwägen des eigenen Lebens und dessen Umstände. Man spürt nicht nur ihren Schmerz und die zurückgehaltene Wut, sondern meint den Sturm auf der eigenen Haut zu erahnen und ist schockiert über die Gleichgültigkeit ihrer Kolleg*innen.
Auch wenn ihr Debütroman schon komplex war, ist ihr zweiter Roman es nochmal in gesteigerter Form. Man muss sich auf den Text einlassen, ihn genau und sogar stellenweise mehrmals lesen, doch man wird belohnt. Tut man das, erlebt man einen Roman, der einen fordert und zum Nachdenken animiert, wie man ihn nur selten liest, wenn auch ihr neues Buch für mich nicht ganz an „Über die See“ heranreicht, das mich wirklich dermaßen begeistert hat!

Bewertung vom 27.08.2025
Engler, Leon

Botanik des Wahnsinns


sehr gut

»Zu lange habe er in den Büchern gelebt, ein Fehler, er sei dem Leben so aus dem Weg gegangen.«

Alles beginnt damit, dass bei der Zwangsräumung der Wohnung seiner Mutter die Sachen von Wert mit den nutzlosen verwechselt wurden und alles, was ihm nun bleibt, Nichtigkeiten aus dem gemeinsamen Leben sind. Nichtigkeiten, aus bewegten Leben, die alle ihre eigenen Kämpfe zu bestreiten hatten. Seien es seine Eltern oder gar Großeltern – sich selbst nicht ausgenommen. Der Vergangenheit zugewandt erzählt der Protagonist Leon von seiner Familie, von Suizid, Abhängigkeiten und der stetigen Hoffnung auf ein besseres Leben. In seinen Erinnerungen begegnet er sich selbst und seiner größten Angst, auch so zu enden, sodass am Ende von ihm nichts bleibt – mit Ausnahme eines Haufens von Nichtigkeiten.

Voller Schmerz, Sorge und aufkeimender Hoffnung hinsichtlich der Familie, die doch immer mehr in Hoffnungslosigkeit umschlägt, erzählt der Protagonist seine eigene Geschichte und zugleich die seiner gesamten Familie. Selten habe ich ein derartiges Buch gelesen, mit so vielen klugen Sätzen, in denen man sich selbst wiederzufinden scheint und die einen auf unverhoffte Weise mehr berühren, als sie es vielleicht sollten.
Jedoch fiel es mir schwer, allen einzelnen Schicksalen zu folgen, einfach weil bei jedem Einzelnen so viel bei passiert und man schnell den Überblick hinsichtlich der Handlung und den erwähnten Figuren verliert. Der Hauptstrang – das Leben des Protagonisten selbst – führte die ausschweifenden Handlungen wieder zusammen und machte deutlich, dass man wahrscheinlich gar nicht alles verstanden haben muss, sondern diese Überforderung an Schicksalen, mit welcher der Protagonist konfrontiert wird, auf die Leser*innen übergehen soll.
Besonders gelungen fand ich die essayistischen Einflechtungen über Literatur, Philosophie und Psychologie.
Der Autor wollte mit seinem Buch viel – vielleicht zu viel? – und hat es auch damit erreicht, denn ganz sicher wird man so ein Buch selten nochmal zu lesen bekommen.

Bewertung vom 27.08.2025
Lühmann, Hannah

Heimat


ausgezeichnet

»Männer, die dir im Haushalt helfen wollen, sind das Schlimmste.«

Als Jana mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern von der Großstadt weg aufs Land zieht, ist erstmal alles anders. Sie kündigt ihren Job, ohne es ihrem Mann zu sagen und ist erneut schwanger. Dabei ist sie schon mit ihren zwei jetzigen Kindern total überfordert und froh, wenn diese den ganzen Tag in der KiTa betreut werden können. Schon bald begegnet sie Karolin, welche sogar die Erziehung ihrer fünf Kinder mit Leichtigkeit zu meistern scheint. Karolins scheinbar unbeschwerte Art durchs Leben zu gehen, immer da zu sein und mit guten Tipps behilflich zur Seite zu stehen, wirkt sympathisch. Auch Jana ist angetan und freundet sich schnell mit ihr an. Als Jana ihr jedoch auf Instagram folgt, entdeckt sie eine nicht geahnte Seite, schließlich inszeniert diese sich als „Tradwife“. Jana merkt, welchen Sog Karolin auf sie ausübt und dass sich ihre Welt und ihre eigene Sicht darauf zu verändern scheinen. Sie beginnt Vieles zu hinterfragen und bemerkt, dass auch bei Karolin nicht alles so perfekt ist, wie es scheint.

Dieser Einblick in Janas Familienleben, ihr Zurechtfinden in ihrer neuen Heimat sowie ihre Konfrontation mit traditionellen Rollenbildern durch Karolins Auftreten wird eindrücklich geschildert. Dabei neigt die Autorin nicht zu Übertreibungen, sondern beschreibt eine realistische Situation, wie es sie mittlerweile wahrscheinlich gar nicht mehr allzu selten gibt. Höchstens verharmlost sie noch teils etwas.

Das Buch begeistert durch dessen nüchterne und bedrückende Klarheit, welche die Leser*innen zu genauem Beobachten auffordert und anregt, sich eine eigene Meinung davon zu bilden.
Aktueller und eindrücklicher geht es kaum!

Das abrupte Ende des Romans hat mich hingegen mit einigen Fragen zurückgelassen, da sich die bisherige Handlung eher wie eine ausführliche Hinführung zur eigentlichen Thematik angefühlt hat. Ich hätte gerne weitergelesen, um tiefer in die Geschichte einzutauchen und zu erfahren, wie es weitergeht.
Dennoch – was für ein toller und eindrücklicher Roman!

Bewertung vom 18.08.2025
Klink, Sophia

Kurilensee


sehr gut

»Wir beuten aus, was geht. Ist nur die Frage, um welchen Preis.«

Schon seit mehreren Jahren ist die dreißigjährige Anna von Mai bis September teil eines Forschungsteams am Kurilensee, um den Lachsbestand zu bestimmen und die dortigen Wasserverhältnisse sowie Lebensbedingungen für die Fische zu überprüfen. Aufgrund des Klimawandels und kommerzieller Überfischung ist die Lachspopulation schwindend.
Das Team der Forschungsstation besteht aus ganz verschiedenen Persönlichkeiten, was ein Zusammenleben über den Zeitraum und solch einer Abgeschiedenheit nicht eben leichter, aber für uns Leser*innen ansprechender macht. Noch dazu die wilde Natur Kamtschatkas um sie herum. Glücklicherweise ist auch ihr Partner Vova dabei.
In diesem Jahr soll zudem abgewägt werden, ob eine Düngung des Sees ratsam sei oder ob dies die vorherrschenden Begebenheiten nur noch verschlimmern würde…

Die Autorin Sophia Klink verwebt in dieser Geschichte viel biologisches, geografisches und anatomisches Wissen, was den Roman meiner Meinung zwar ein bisschen trockener macht, aber die erzählende Perspektive um eine wissenschaftliche ergänzt, aus der man viel mitnehmen kann. Dementsprechend empfand ich, je mehr ich von dem Buch las, den Stil stellenweise sehr distanziert und manchmal fast journalistisch.
Andererseits wird in vielen knappen, sanft dahinplätschernden und oft poetisch anmutenden Sätzen viel geschildert. Sei es betreffend gelungener Landschaftsbeschreibungen, der meist nicht sichtbaren Magie der Natur und der Wildnis Kamtschatkas oder hinsichtlich des Alltags der Forschungsstation.
Besonders viele innere Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin Anna werden präzise herausgearbeitet.

Auf leise Art überzeugt dieser idyllische Roman durch viele Zwischentöne, das Sichtbarmachen von sonst Unsichtbarem und einem – manchmal zu – ruhigen aber dennoch überzeugten Weckruf für ein aktives Handeln, nicht nur den Kurilensee betreffend.

Bewertung vom 18.08.2025
Katheder, Doris;Betz, Astrid;Prölß-Kammerer, Anja

Erinnern nicht vergessen


ausgezeichnet

»Woran sich eine Gesellschaft erinnert, prägt ihre Identität, denn: Die Vergangenheit ist der Resonanzraum für unsere Gegenwart.«

Nürnberg ist nicht nur Kaiserstadt und ein in vielerlei Hinsicht geschichtsträchtiger Ort, sondern auch eine Stadt, die sich bewusst mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und diese in das heutige Stadtleben integriert.
Besonders zur Zeit des Nationalsozialismus fiel Nürnberg eine bedeutende Rolle zu. Dort fanden auf dem eigens dafür angelegten Reichsparteitagsgelände riesige Reichsparteitage statt, die Nürnberger Gesetze wurden am 15. September 1935 verabschiedet und ab Ende 1945 begannen die Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher.
Auch zahlreiche Razzien und Deportationen nicht nur von jüdischen Menschen, sondern auch von Homosexuellen, sog. „Asozialen“, Zeugen Jehovas, etc. ereigneten sich.
Darüberhinaus streckte sich der Greifarm des Gedankenguts in die jüngere Vergangenheit – allein in Nürnberg wurden drei türkische Männer vom NSU ermordet.

Dieses Buch widmet sich vielen Schicksalen, die sich in Nürnberg ereigneten und denen mit diesem Buch, aber auch durch Gedenkorte, gedacht wird.
Die jeweiligen Kapitel widmen sich verschiedenen Gedenkorten hinsichtlich ihrer Geschichte hin zu der Bedeutung als Mahnmal und Reflexion für unsere Zeit und unser eigenes Handeln.
Ergänzt werden sie teilweise durch Kurzinterviews und einigen Schilderungen von persönlichen Schicksalen von Opfern oder Widerstandskämpfer*innen, was das Buch bereichert, da sie eindrücklich auf die Leser*innen wirken und die unzähligen grausamen Morde unschuldiger Menschen schonungslos vor Augen führen.
Ich wusste weder etwas von dem Goldenen Saal unter der Zeppelintribüne auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, eines KZ-Außenlagers oder dem ehemaligen „Lagerfriedhof“.

In Zeiten, in denen Erinnerungskulturen von nicht wenigen in Frage gestellt werden, ist die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit umso wichtiger.

Bewertung vom 18.08.2025
Heer, Carina

Das Bierkomplott


ausgezeichnet

»Nicht alles, was man mit eigenen Augen zu sehen glaubt, ist auch wirklich wahr.«

Nachdem sich Evi Pflaum von ihrem Ex-Freund getrennt hat, ist sie wieder in ihr Heimatdorf Schweinsbrunn und tritt ihren neuen Job als Staatsanwältin an. Gleich am ersten Tag läuft alles anders wie erwartet. Erst weiß sie nicht, wie sie dorthin kommen soll, dann nimmt sie Peter mit, der sich ständig misogyn und sexistisch äußert und zuletzt gibt es auch schon bald eine Leiche. Und es bleibt nicht nur bei einer. Außerdem machen es ihr einige neuen Kolleg*innen nicht gerade leicht. Doch sie bleibt sich selbst und ihrem Sinn für Gerechtigkeit treu. Ein einziger Lichtblick in diesem familiären und beruflichen Schlamassel scheint der grünäugige Gerichtsmediziner Dr. Rosenbeet.

Obwohl ich selbst gebürtig aus Franken bin, fühle ich mich der dort nicht wirklich daheim und meide Vieles, was damit zu tun hat, u.a. auch Franken-Krimis. Als mich Carina Herr angefragt hat, ihren Debütroman zu lesen, war ich dementsprechend skeptisch, aber auch neugierig, mir mal ein eigenes Bild davon zu machen und so las ich – ganz untypisch für mich – meinen ersten Franken-Krimi.

Und wirklich, der Krimi ist nicht nur nicht schlecht, sondern hat mich wirklich gut unterhalten! Besonders überzeugt er durch die schöne, gemäß dem Genre erwartend, gar nicht zu simple Sprache, etlichen humorvollen Szenen und dem Plot!
Dabei wird die oft derbe fränkische Lebensart gut abgebildet und aktuelle gesellschaftliche Themen finden Erwähnung.
Wer zudem in Bamberg wohnt oder sich dort etwas auskennt, wird in diesem Krimi, obwohl die Autorin sowohl die Stadt als auch geschilderte Örtlichkeiten nicht beim Namen nennt, sondern fiktionalisiert, auf einiges Bekanntes stoßen.

Es hat sich also gezeigt, dass es sich lohnt, den eigenen Horizont mal zu öffnen und sich an neue Genres zu wagen, die außerhalb des persönlichen Gewohnten liegen.

Bewertung vom 18.08.2025
Everett, Percival

Dr. No


ausgezeichnet

»Würden wir uns an alles erinnern, hätten wir keine Sprache für das Erinnern und Vergessen.«

Professor Wala Kitus Forschungsgebiet ist das Nichts. Klingt absurd, aber genau das ist gewissermaßen auch das Buch. Als der Milliardär John Sill auf ihn aufmerksam wird, bietet er ihm drei Millionen Dollar, damit er ihn unterstützt und über nichts berät. Schließlich möchte Sill ein richtiger Schurke sein und sein Plan ist kein anderes als das Fort Knox ausrauben, denn er ist davon überzeugt, dass sich dort nichts befindet. Und wer das nichts besitzt, von dem kann die Weltherrschaft nicht mehr weit entfernt sein.
So beginnt eine atemberaubende, urkomische und gesellschaftskritische Verfolgungsjagd par excellence.
Mehr will ich gar nicht verraten, weil ich sonst bereits zu viel vorwegnehmen würde.

Nicht nur nebenbei, sondern sehr ausdrücklich, kritisiert Percival Everetts neuer Roman u.a. Geldgier und Machtausnutzung von Milliardären sowie strukturellen Rassismus und auch gewissermaßen die gesamte amerikanische Gesellschaft als Persiflage.
Auch wenn die Story zu Beginn manchmal etwas ausschweifend gerät und mich aufgrund der Absurdität teils ratlos zurückließ, konnte mich der Roman vollends überzeugen, was insbesondere an Everetts faszinierender Sprache – wie brilliant ist diese wieder?! – lag, die mich komplett in die Geschichte eintauchen ließ und mich von der ersten bis zur letzten Seite begeistere. Auch die Kuriosität der Handlung sowie teils humoristische Schilderungen machten diesen Roman des Autors zu einer ganz besonderen Lektüre mit Sogwirkung, den man sich, sofern man sich auf eine verrückte Handlung einlassen kann und will, nicht entgehen lassen sollte.
Obwohl ich bisher erst zwei Bücher von ihm gelesen habe zählt er meiner Meinung nach, zu den bedeutendsten und besten und originellsten Schriftstellern unserer Zeit.

Bewertung vom 11.08.2025
Wood, Benjamin

Der Krabbenfischer


ausgezeichnet

»Es ist dem Meer egal, wer es besucht, so wie es den Krabben egal ist, wer sie aus dem Sand kratzt.«

Thomas Flett lebt mit seiner Mutter in Longferry an der Küste Englands. Jeden Tag, morgens und manchmal auch abends, reitet er mit seinem Pferd hinaus in die See um als einziger in seinen Gewerbe noch auf altbewährte Art dem Krabbenfischen nachzugehen. Dabei trotzen sie jedem Wetter, nur um über die Runden zu kommen. Thomas ist genügsam und findet sich damit ab. Doch möchte er mit seinen zwanzig Jahren eigentlich mehr erleben, insbesondere mehr Zeit seiner Leidenschaft – seiner Gitarre und generell der Musik – widmen und Joan endlich sagen, was er für sie fühlt.
Als er eines Tages nach getaner Arbeit nach Hause kommt, erwartet ihn, bei seiner Mutter sitzend, der amerikanischer Regisseur Edgar Acheson, um ihn ein Angebot zu machen. Alles scheint sich für ihn zu ändern…

Der Ton des Romans ist ruhig, sanft und manchmal rau – wie das Meer. Dabei sind die Sätze so bewusst gewählt, wie man es nur selten liest. Die Sprache erinnert eher an Klassiker, wie z.B. die Bücher von Siegfried Lenz und weniger an einen zeitgenössischen Roman. Atmosphärisch beschwört der Autor eine Welt herauf, die es nicht mehr gibt und erzeugt dadurch ein gleichermaßen präzises und stimmungsvolles Bild der Landschaft. Die Wahrnehmungen und Gefühle des Protagonisten, hinsichtlich seiner Arbeit oder den Wunsch, mehr über seinen Vater zu erfahren, kommen dabei nicht zu kurz und verführen die Leser*innen dazu, sich in dem Buch zu verlieren.
„Der Krabbenfischer“ zeigt den tristen und doch anstrengenden Alltag Thomas‘, dem Fügen in den gewohnten Rhythmus des Alltags und das Herausbrechen aus diesem, hin zu neuen, unbekannten und doch so sehnlich herbeigesehnten Ufern.

Ich habe diesen Roman geliebt und hoffe sehr, dass seine bisherigen vier Romane – besonders aufgrund der Nominierung der Longlist für den Booker Prize – nun auch nach und nach ins Deutsche übersetzt werden.
Eine ganz große und unbedingte Leseempfehlung!

Bewertung vom 03.08.2025
Kleiner, Marcus S.

Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland


ausgezeichnet

»Politische Popsongs sind Geschichten gegen das Schweigen.«

„Keine Macht für Niemand“, auf den Song von Ton Steine Scherben zurückgehend, ist eine Reise durch die spannungsreiche musikalische Zeitgeschichte ab dem Ende des Ersten Weltkriegs bis in die Jetzt-Zeit. Dass die Geschehnisse dabei von Popmusik verschiedenster Ausprägungen begleitet und in dieser verarbeitet wurden, legt der Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft deutlich dar. Anhand 80 Jahren Pop- und Zeitgeschichte und knapp 260 Songs, die er für dieses Buch mal vertiefter mal oberflächlicher analysiert hat, erschließt er die Zusammenhänge zwischen Pop, Protest und Politik sowie ergänzend aus den Perspektiven von Solidarität und Widerstand.

Nach einführenden Grundlagen, beginnt es mit dem konservativen, rassistischen und sexistischen Schlager der Nachkriegszeit, führt über politische Liedermacher:innen, dem Beginn und der Etablierung von Punk, über den großteils misogyn und männlich dominierten Rap, bis hin zu zeitgenössischen Künstler:innen, die sich – nicht nur gegen das Erstarken rechter Ansichten – klar positionieren. Währenddessen nimmt es nie ein Blatt vor den Mund, sondern benennt die Dinge beim Namen.
Marcus S. Kleiner führt viele kluge und differenzierte Gedanken über politische Zeitgeschichte an, auch indem er sich seiner eigenen Privilegen bewusst wird und diese reflektiert, wie man sie nur selten liest und regt damit zum Nachdenken an.
Dabei merkt man stets die Musikleidenschaft des Autors und seine persönliche politische Haltung.

Ergänzt und vertieft wird die Lektüre durch eine vorangestellte Spotify-Playlist der erwähnten Songs.

Es bleibt nur noch eins zu sagen:
Lest unbedingt dieses Buch, es ist ganz großes Kino, fordert, ist vereinzelt vielleicht etwas zu theoretisch und man muss manche Abschnitte zweimal lesen, aber es regt definitiv zum Nachdenken an.
In erster Linie ist es ein lauter Weckruf gegen das anhaltende Schweigen der Gesellschaft, mit dem wir uns viel zu gerne umhüllen.