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Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 157 Bewertungen
Bewertung vom 08.06.2025
Der Kaiser der Freude
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

Thanksgiving für jeden Tag
„Damit die Traurigkeit was hat, wo sie sich unterstellen kann... wie ein kleines Bushäuschen.“

Das Ende des amerikanischen Traums / Der Kaiser der Freude als der Kaiser einer Illusion
Ocean Vuongs neuer Roman ist eine Liebeserklärung für die Geschundenen, Verlierer, die trotz allem zueinander halten, einander helfen und das Glück suchen.
Der junge, queere Hai lebt unglücklich in seiner Lüge, er ist gescheitert, konnte die eigenen Hoffnungen und die seiner Mutter nicht erfüllen und will sich von einer Brücke stürzen, wird aber im letzten Moment von der alten Grazina aus Litauen gerettet. So beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft und Beziehung, bei der sich die beiden gegenseitig stützen, Halt und Hilfe geben und sich langsam eine fast familiäre Bindung ergibt. Die beiden kommen aus unterschiedlichen Welten und sie trennen Jahrzehnte und Kontinente, aber sie finden zueinander.
Es gut um Freundschaft, Menschlichkeit, Zuversicht, das Festhalten an Träumen, die Suche nach dem kleinen Glück und dem würdevollen Bestehen im harten Alltag. Die Hilfe für andere gilt als Ausweg, als Ablenkung von dem egozentrischen Kreisen um sich selbst. Fürsorge gilt für Vuong als Nachspiel von Wut, verwandelte Wut, die in positive Bahnen gelenkt wird.
Als Leser suchen wir das Happy End, aber darum geht es nicht – es geht eher darum, das Leben zu bestehen, in Schönheit, in Gnade, in Freundlichkeit, in Fürsorge, auch wenn es keine Hoffnung auf Beständigkeit oder Erlösung gibt.
Wie schon in seinem Romandebut betört Vuong mit seinen poetischen und ungewöhnlichen Bildern und zeigt erneut, dass er Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen und ein großes Herz für seine fein und liebevoll gezeichneten Charaktere besitzt.
Sony: „Aber wir sind trotzdem Looser, wir alle, wir haben immer nur verloren.“

Bewertung vom 08.06.2025
Butcher
Oates, Joyce Carol

Butcher


ausgezeichnet

Sinfonie des Schmerzes
Joyce Carol Oates bestätigt mit ihrem neuen Roman „Der Schlächter“ ihren Ruf als Kennerin des Schreckens, des Unglaublichen, des Makabren. Außergewöhnlich ist sowohl Inhalt als auch Sprache und Form und man taucht tief in eine Welt des Unfassbaren ein.
Im Zentrum steht der diabolische Arzt Silas Aloysius Weir, sein Aufstieg und Fall. Zu Beginn seiner Karriere wird er schüchtern, zurückhaltend als Landarzt in das Metier der Medizin eingeführt, kann kaum Blut sehen, hat Angst vor Berührungen und Kontakt zu den Patienten. Im Laufe der Zeit entwickelt er sich aber, von Ehrgeiz getrieben, zu einem Arzt, der mit neuen Forschungs- und Operationsmethoden die Geschichte der Medizin, der Gynäkopsychiatrie, revolutionieren möchte. Nicht die Heilung der Kranken, sondern die Erprobung neuer, wissenschaftlicher Erkenntnisse stehen nun im Vordergrund und werden auf dem Rücken der Patientinnen vorangetrieben. Die perfekte Umgebung für seine Experimente findet er in der Anstalt für psychisch kranke Frauen, als Geisteskranke von ihren Familien abgeschoben und verbannt, an denen er seine unmenschlichen Untersuchungen und Operationen ohne Rechtfertigungsdruck durchführen kann. Erschütternde, plastische Darstellungen, Momente der Not, der Folter, der Qual, Unglaubliches wird erzählt, die Frauen sind wehrlose, anonyme Opfer. Allein zwei Frauen nehmen eine Sonderfunktion ein, eine Krankenschwester und eine Patientin, die es schaffen, sich in Ansätzen zu behaupten und Einfluss auf die Geschichte zu nehmen.
Die Sprache ist grandios, auf ganz hohem Niveau und wirklich dem 19. Jahrhundert angepasst, Schreiben kann Oates! Äußerst gelungen fängt sie diesen zeitlichen Duktus ein und es klingt wie ein Traktat aus der Romantik - der dämonische Arzt auf der Suche nach Perfektion, die schöne, stumme Albina, das Feuer, die Qualen, Gottesfürchtigkeit und der Bund mit dem Teufel, Maschinen und technische Geräte, Experimente, Wissenschaftsgläubigkeit und Furcht, Liebe und Hass, Strafe und Belohnung. Unterschiedliche Blickwinkel und Perspektiven tragen zur Abwechslung bei, gekonnt wechseln sich Einträge aus einem Tagebuch, Berichte von Überlebenden, einer Chronik, Schilderungen des Sohnes ab und vermitteln ein umfangreiches, aber immer auch subjektives und unzuverlässiges Bild. Der Leser weiß nicht, auf wen er sich verlassen kann und muss selbst die losen Enden zusammenknüpfen. Die gestelzte Sprache versetzt uns in die Zeit Edgar Allan Poes oder auch E. T. A. Hoffmanns und die gleiche Weitschweifigkeit ist zu beobachten. Weitere Elemente eines Schauerromans aus dem 19. Jahrhundert sind erkennbar - einzelne Momente werde nicht erklärt, man kann an das Übernatürlich glauben, Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht wissenschaftlich erklärbar sind – ein Equilibrium zwischen den Fakten und dem Fantastischen, Unerklärlichem lassen Leerstellen zu, die individuell gefüllt werden können.
Dieser Roman ist ein besonderes Highlight, allerdings nichts für schwache Nerven und viktorianische Fräuleins. Mich hat „The Butcher“ sehr bewegt und zum Nachdenken gebracht - keine leichte Kost, aber eine Lektüre, die mich sicherlich lange begleitet wird. Ich freue mich auf mehr von der spektakulären Joyce Carol Oates!

Bewertung vom 08.06.2025
Überreste
Delgado, Daryll

Überreste


ausgezeichnet

„Wir bewegten uns, die Gerade-noch-Lebenden vorbei an den Toten, die im Straßenrand aufgereiht lagen.“

Ein bewegender Roman, „Überreste“ von Daryll Delgado, aus dem Philippinischen übersetzt, der sich mit dem Unglück und den Folgen einer Naturkatastrophe beschäftigt.

2013 traf der Taifun Haiyan auf die Philippinen, einer der schlimmsten Wirbelstürme, die je registiert wurden. Tacloban, Stadt der Insel Leyte, die selbst stark zerstört wurde, steht im Zentrum des Geschehens. Reale Zeugenberichte wechseln sich mit der Erzählung ab, bei der Ann, Journalistin. Ich-Erzählerin und Hauptfigur zwischen der Gegenwart, der Zeit nach der Katastrophe, und der Vergangenheit, in der sie als glückliches, privilegiertes Kind einer einflussreichen und angesehenen Familie in Tacloban in einer großen Villa mit Schwester Alice, Eltern, Dienstboten und jeglichem Komfort gelebt hat, hin- und herwechselt.

Ann ist eine komplexe Figur, der es immer schwerer fällt, ihrer Rolle als objektive Beobachterin, als Reporterin gerecht zu werden. Durch eine private Mission ist sie nicht mehr neutral und sie verfängt sich immer stärker in ihre komplizierte Familiengeschichte. Für eine Doku sammelt sie Informationen, recherchiert, zeichnet Interviews mit Überlebenden auf, andererseits ist sie privat involviert und beschäftigt sich mit den Wurzeln ihrer Herkunft. Ein Interessenskonflikt entsteht: Journalismus versus persönlichem Interesse, die Grenzen von objektiver Recherche werden aufgezeigt und Ann schafft es kaum, ein Gleichgewicht zu finden. Die Schatten ihrer Vergangenheit bedrohen und verunsichern sie. Die Zerrissenheit der Stadt entspricht der Zerrissenheit der Figur Anns: die Privilegien der eigenen Klasse, Familientraumata, Klassenunterschiede, alte Seilschaften, Mythen und ungeklärte Geheimnisse.

Eine sehr gekonnte Verknüpfung von realen Schrecken und einer psychologisch dichten Verarbeitung von Traumata – Fiktion und Realität treffen aufeinander und lassen den Roman zu etwas Besonderem werden.

Eine weitere Auffälligkeit ist die sprachliche Verwendung der Muttersprache Delgados, Warai. Immer wieder tauchen Sequenzen oder einzelne Wörter in Warai auf, die am Ende des Romans übersetzt werden. Man muss aber nicht notwendigerweise die Übersetzung simultan nachlesen, der Flow, der Sound reichen aus, die Leser sollen die fremde Sprache erleben, Ausdrucksform der Figuren, Teil der Charaktere, so Delgado im Interview. Die Figuren sollen sprechen und denken wie Warai-Sprecher. Aber wer hat eine Stimme? Wer hat das Recht, seine Geschichte zu erzählen? Wer hat überlebt? Und welche Geschichte und welche Bilder werden in das Bewusstsein der Überlebenden dringen?

Ein eindrücklicher Roman, bei dem sich die große, existenzielle Naturkatastrophe mit dem persönlichen, intimen Schicksal mischt und von einer Welt erzählt, die uns auf den ersten Blick fremd und fern erscheint, aber durch die allgemeingültigen Erlebnisse von Verlust, Todesangst und Überlebenswillen doch so sehr berührt. Ein besonderes Lesehighlight!

Bewertung vom 17.05.2025
Nach dem Krieg
Swift, Graham

Nach dem Krieg


ausgezeichnet

Grandioser Schreibstil und berührender Inhalt, der es mit wenigen Worten schafft, Charaktere zum Leben zu erwecken, Situationen zu umreißen, zwischen den Zeilen Welten zu erschaffen und Ungesagtes zu offenbaren.

In allen 12 Geschichten geht es Graham Swift um den richtigen Weg, Reflexion, Schuld, Verantwortung, Kommunikationsprobleme, Suche nach Akzeptanz, Vergebung, Abschied - verbunden mit der Melancholie des unperfekten Lebens, der Schmerzen und Wunden. Mit wenigen Strichen skizziert er Lebenswege, Ereignisse, Umbrüche, Schlüsselszenen einer Biografie – Krankheit, Sterben und Tod, Liebe und Hochzeit, Kindheit, Jugend, Alter.
Vieles bleibt ungesagt, wird aber zwischen den Zeilen erkennbar, der Widerstand, das Zögern, die Angst und die Hoffnung, Figuren kommen zueinander oder entfernen sich, es geht um Austausch oder auch Schweigen, immer aber um die Beziehung vom Ich zum Du. Die Tiefen und Höhen des Lebens, Wesentliches und Alltägliches begegnen sich und prägen den Menschen.
Die 12 Kurzgeschichten sind nicht immer eindeutig zu interpretieren, sie changieren in Grautönen, fordern zum aufmerksamen Lesen heraus und eröffnen neue Perspektiven. Das typisch Menschliche als Gegenstand der Erzählungen, die Emotionen des Lesers werden involviert und fast automatisch überdenkt und reflektiert man eigene Erfahrungen, Krisen und Höhepunkte in der eigenen Biografie.
Voller Empathie und Nachsicht beschreibt Swift die Figuren, ihre Stärken und Schwächen, abstruse Gedanken, verschüttete Ängste, Scham und Traumata der Vergangenheit.
Der Krieg ist das verbindende Glied, die Zeit nach einem Krieg, die Erfahrungen und Auswirkungen des Krieges auf den Menschen, die alte Fliegerjacke eines Veteranen, das Bonfire zu Guy Fawkes (Feuerwerk), das an die Bombennächte erinnert, die Nachforschungen nach Überlebenden nach dem 2. WK, der in Großbritannien stationierte GI aus den USA, der Bergmann, der nicht in den Krieg ziehen und dem Vaterland nicht auf dem Schlachtfeld dienen durfte, die Kuba-Krise, der Golf-Krieg, der 11. September – der Krieg als permanent vorhandene Nebenfigur, die immer eine präsente, aber nicht erdrückende Stellung einnimmt.
Die Geschichten weisen häufig einen melancholischen Unterton auf, denn der Lauf der Zeit kann nicht mehr zurückgedreht und Unrecht nicht zurückgenommen werden. Sie haben nichts Heroisches an sich, der Alltag steht im Mittelpunkt und dann die plötzliche Erinnerung an etwas Besonderes, Großes, Grenzsituationen des Lebens mitsamt den individuellen Erfahrungen.
Graham Swift verzaubert den Leser mit seiner eleganten, eindrücklichen Sprache – ein grandioser Stilist, bei dem jedes Wort sitzt und jede Geschichte lesenswert ist.
Eine Lektüre auf hohem Niveau und eine klare Leseempfehlung. Höchste Punktzahl!

Bewertung vom 10.05.2025
Die Summe unserer Teile
Lopez, Paola

Die Summe unserer Teile


gut

Dysfunktionale, verdammte Nabelschnur
Empörung, Verbitterung, Ärger, Wut, Distanz, Kommunikationsstörungen – drei Generationen von Frauen können nicht zueinander finden, obwohl sie sich eigentlich nichts sehnlicher wünschen; Scheitern, Verlust und Lebenslügen auf allen Ebenen.
Drei Frauen, drei Orte, drei Zeitebenen – kluge, gebildete und relativ emanzipierte Wissenschaftlerinnen auf der Suche nach dem Glück, nach beruflichem und privatem Erfolg. Sie fangen von null an, sind auf der Flucht aus Polen, studieren im Ausland, behaupten sich gegenüber männlichen Kollegen, verlieben sich, werden schwanger und versuchen, ihren Weg zu gehen, aber immer wieder scheitern sie aus den verschiedensten Ursachen heraus. Die drei wirken sehr anstrengend und selbstbezogen - sie versuchen nicht, sich auf die jeweils andere einzulassen, sind sich selbst am nächsten.
Allen voran lernen wir Lucy kennen, die jüngste der drei Frauen, die in Berlin im hier und jetzt lebt und auf der Suche nach ihrer Herkunft und ihren Wurzeln in Polen ist.
Andererseits will sie sich von ihrer Mutter Daria befreien, die übergriffig und besitzergreifend ist und z.B. einen Flügel ohne Absprache an ihre Tochter schicken lässt. Was ist das für ein Umgang? Kann dadurch Liebe und Austausch möglich werden? Sicherlich nicht, wenn weder Empathie noch Achtsamkeit oder der Wunsch nach Verständigung und Versöhnung vorhanden sind.
Dem Leser bleibt nur eine große Distanz zu allen Figuren im Roman, was bedauerlich ist. Die Menschen stehen sich selbst im Weg und lassen Nähe nicht zu, obwohl eigentlich genug Liebe vorhanden wäre.
Lucy ist uns vermutlich am nächsten, da ihre Umwelt die unsere ist. Bei den beiden Müttern trennen uns einfach zu viele Probleme und politische Krisenherde, die uns heutzutage glücklicherweise als Frau gerade nicht mehr bzw. viel eingeschränkter begegnen.
Die Männer des Romans sind alle ganz sympathisch, etwas grau und unscheinbar, können sich allerdings nicht durchsetzen bzw. machen mit, hinterfragen die Situationen nur eingeschränkt und sind in ihrer Welt beheimatet. Ich finde sie aber durchaus offen und beziehungsfähig, soweit man das aus dem Roman heraus beurteilen kann. Ein anderes, besseres Leben wäre durchaus möglich.
Interessant sind die zeitlichen Sprünge im Roman, nach und nach entfaltet sich die Geschichte und der Zusammenhang zwischen den drei Biografien wird deutlich. Paolo Lopez‘ Sprache ist eingängig und sie beschreibt die unterschiedlichen Charaktere differenziert und lebendig. Sprachlich verwendet sie originelle und passende Metaphern, allerdings häufen sich die Bilder nach meinem Geschmack zu sehr.
Insgesamt ein spannendes Thema über Mütter – Töchter – Beziehungen, das allerdings seine Wirkung aufgrund der unsympathischen Heldinnen nicht entfalten kann und leider keinen emotionalen Sog entwickelt.

Bewertung vom 17.04.2025
Die erste halbe Stunde im Paradies
Adomeit, Janine

Die erste halbe Stunde im Paradies


ausgezeichnet

Drei sind eine Party
Eine interessante Konstellation, die beiden unzertrennlichen Geschwister Anne und Kai und die alleinerziehende Mutter, die Multiples Sklerose bekommt und sich von der fröhlichen, musikalischen und temperamentvollen Frau zum Pflegefall entwickelt.
Die Kinder werden im Laufe der Zeit überfordert, als es der Mutter immer schlechter geht, denn sie müssen sich kümmern und die Kranke pflegen. Die Krankheit übernimmt die Regie, die Mutter wird immer abhängiger und die Geschwister können weder die Bedürfnisse der Kranken stillen noch werden ihre eigenen Bedürfnisse erfüllt. Es ist schmerzhaft zu sehen, wie die anfangs enge und positive Dreierbeziehung nach und nach auseinanderbricht, da die Aufgabe zu groß wird und die Situation zu sehr belastet. Aus der Fürsorge für die geliebte Mutter entsteht eine totale Überforderung, die emotionale Reife ist (noch) nicht vorhanden und die Jugendlichen können die Ansprüche nicht erfüllen. Und dann entsteht auf einmal die große Entfremdung, der Verlust der Nähe und der Liebe. Der Leser möchte wissen, warum? Was hat den Bruch ausgelöst? Der Umgang mit der Scham, mit der Krankheit? Eifersucht? Verlorenes Vertrauen? Hoffnungslosigkeit? Aus dem Wir entsteht ein Ich, das jeweils unglücklich ist und nicht ausreichend gesehen wird.
Die Loyalität wird auf die Probe gestellt, Schuldgefühle entstehen und Kommunikation bzw. die Suche nach Lösungen findet nicht statt, ein umfassendes Dilemma für alle drei Protagonisten.

Der Stil ist passend, unprätentiös, fast lakonisch erzählt erfahren wir den Handlungsstrang aus der Perspektive der Schwester / Tochter. Nach Annes Kindheit gibt es einen großen Sprung in die Zeit ihrer Berufswelt, der Bruch mit Kai hat stattgefunden und wir erleben eine junge Erwachsene, die mit dem jungen Mädchen kaum etwas gemein hat.
Sie hat in der Zwischenzeit aufgrund der gestörten Beziehungen eine totale Unabhängigkeit von sozialen Bindungen entwickelt, sie will sich vor Nähe und damit einhergehend vor möglichen Schmerzen und Enttäuschungen schützen. Dadurch ist sie immer bedürfnis- und kontaktloser geworden, ehrgeizig und erfolgreich im Beruf wirkt sie unabhängig und unnahbar. Aber Kai, der abwesende Bruder, taucht nach jahrelanger Stille plötzlich in ihrem Leben wieder auf, hilfesuchend und bedürftig bedroht er ihren Perfektionismus, ihre Abgeklärtheit und selbstgewählte Einsamkeit. Wird Anne dieses Eindringen in ihre Privatsphäre zulassen? Kann es eine Wiederannäherung und eine Versöhnung geben? Oder ist zu viel passiert, was nicht vergessen werden kann?
Ein wichtiges Thema, das sozialkritisch anspricht, was die Gesellschaft gerade auch in der Zukunft verstärkt leisten muss: Die Pflege alter oder kranker Menschen, entweder in Heimen oder privat zuhause durch Angehörige. Es geht um die Würde des Alters und der Krankheit, schwierige, schmerzhafte Prozesse, Themen, die aktuell und von allgemeinem Interesse sind, aber kaum im Rampenlicht stehen, sondern häufig kaschiert werden. Ein spannendes, emotional mitreißendes Buch, das Augen öffnet und Probleme sichtbar macht.

Bewertung vom 16.04.2025
Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)
Kui, Alexandra

Was hast du nur getan? (eBook, ePUB)


sehr gut

Tod auf dem Schulhof
Rasanter Jugendthriller mit schillernden Charakteren und sprachlich salopper, schlagfertiger Schnodderigkeit.

„Arthur, du Idiot, was hast du nur getan?“ Tränen werden weggeblinzelt. Niemand sollte vorm Schulabschluss sterben müssen.

Alexandra Kuis Jugendthriller kommt sehr cool und frisch daher, spannend von der ersten Seite an, gleich mit einem Toten auf dem Schulhof, dann die spritzige und wortgewandte Queen, die ihre Clique, die Kobras, unter Kontrolle hat, sehr kratzbürstig, klug und gewitzt in die Welt hinausblickt und ihre Chancen nutzt. In diesem Roman ist Cassidy König, genannt Queen, die Protagonistin und unumstrittene Heldin des Romans, ein Teenagerin, der im Leben bisher nichts geschenkt worden ist, die von ihrer tablettenabhängigen Mutter erzogen wird, allerdings eher auf sich selbst gestellt ist und für ihre kleine Schwester mitverantwortlich ist. Die geliebte Großmutter fehlt, seitdem sie an Krebs gestorben ist, und der einzige Halt neben ihren Freunden ist aus ihrem Leben verschwunden.

Mit ihrer Freundesclique recherchiert sie zu dem Mord an dem begabten und beliebten Mitschüler und es stellt sich heraus, dass durchaus mehrere Personen einen Vorteil vom Verschwinden Arthurs haben, andererseits aber auch gebrochene Herzen zurückbleiben. Kann die eingeschworene Gang es schaffen, trotz der vielen Zerwürfnisse, Gefahren, Anschuldigungen und Drohungen ihre Freundschaft zu retten und gemeinsam den Mord aufzuklären? Lohnt es sich überhaupt, die Wahrheit ans Licht zu bringen?

Ein spannender Jugendthriller, der neben den Actionszenen auch immer gesellschaftskritische Fragen und typische Jugendthemen Themen aufwirft – Abhängigkeiten, Drogenkonsum, Jugendkriminalität, Gewalt auf dem Schulhof und innerhalb der Familie, Noten- und Erfolgsdruck, Polizeigewalt, Mobbing und Erpressung. Themen, die besonders auch Jugendliche beschäftigen, die sinnvoll behandelt werden und zum Nachdenken anregen können.

Sprachlich unheimlich schnell, witzig und schlagfertig, ein Genuss, der sicherlich bei Jugendlichen gut ankommt!

Als Schullektüre sicherlich ein Gewinn und durch die vielfältigen Charaktere und Problemfelder für Diskussionen und weiterführende Aufgaben bestens geeignet, außerdem aufgrund des Plots ein Pageturner, der Jugendliche zum Lesen motivieren kann.

Bewertung vom 15.04.2025
Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen
van de Wijdeven, Herman

Die schlechteste Idee in der Geschichte der schlechten Ideen


ausgezeichnet

Eine leise Geschichte der ganz großen Gefühle, emotional, sprachgewaltig, ein kleines Meisterwerk.

Selten hat mich ein Jugendbuch derart gepackt. Die Geschichte ist einfach erzählt, aber atmosphärisch dicht, von sprachlich außergewöhnlicher Schönheit, die Charaktere werden mit wenigen Strichen gezeichnet und sind doch so überzeugend und nahbar.

Bent, der eher zurückhaltende und ruhige Ich-Erzähler, treuer Freund Juris, der das Pendant bildet: ungestüm, mutig, sportlich und zu jedem Abenteuer bereit. Immer hat er eine verrückte und ansteckende Idee im Kopf und die beiden Freunde setzen sie gemeinsam in die Tat um. Diese fast ideale Freundschaft wird nach den Sommerferien durch einen Neuankömmling gestört, bis ins Mark erschüttert und infrage gestellt.

Der Neue heißt Finn, ist auf den ersten Blick wenig anziehend und wird aus Bents Perspektive negativ beschrieben: dürr, still, mit dünner Stimme. Aber er scheint sich mit Juri bestens zu verstehen und Bent fühlt sich schnell ausgegrenzt und als drittes Rad am Wagen. Die Gefühle rangieren zwischen Eifersucht, Wut, Verlustängsten und Erstaunen darüber, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Und diese vertrackte Dreiecksbeziehung entwickelt sich in kürzester Zeit zu einer explosiven Mischung, die den Jungen den Boden unter den Füßen wegzieht. Es geht um die große Frage nach Loyalität, Freundschaft, Vertrauen, Eifersucht, es geht auch um Schuld und persönliches Wachstum.

Herman van de Wijdeven schafft es, diesem kurzen Roman, die richtigen Worte zu verleihen, poetisch, intensiv, voller wahrhaftiger Beobachtungen und Gedanken, die ein Elfjähriger genau wie ein Erwachsener empfinden kann. Die zeitlich gestückelten Episoden, Vor- und Rückblenden lassen einen Sog entstehen, so dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen möchte. Sprachlich voller Schönheit, ein ungewöhnliches und besonderes Jugendbuch, das sich sensibel und ehrlich mit den Themen der Eifersucht und Verlustängsten auseinandersetzt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.04.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


gut

Nach mehr als 30 Jahren gibt die erfolgreiche Anwältin Eva Herbergen ihre Anwaltszulassung vorzeitig zurück, was ist vorgefallen? Warum zögert sie erst und überlässt diese wichtige und lebensverändernde Entscheidung dem Zufall? Ein spannender Einstieg, Rahmenhandlung für den Roman „Dunkle Momente“ von Elisa Hoven.
Nun folgen neun ihrer spektakulärsten Fälle, nach und nach werden sie aufgerollt,, die Vorgeschichte, die Verhandlung, das Verhalten der Strafverteidigerin, der Ausgang des Gerichtsprozesses und als besonderes Bonbon noch wie die Geschichte für den Täter oder das Opfer weitergeht.

Die Autorin selbst ist Professorin für Strafrecht an der Uni Leipzig, Richterin am Sächsischen Verfassungsgerichtshof und Verfasserin mehrerer Bücher, also Kennerin des Systems.
Aber ganz ehrlich: Ich kann diesen Roman von Elisa Hoven kaum lesen - das ist ein Sammelsurium an Gräueltaten, die Elite der skurrilen und in der Öffentlichkeit häufig bekannten Fälle, die es auf die Titelseite der Zeitungen geschafft haben. Teilweise muss ich die Schilderung der Taten überfliegen, da die Bilder nicht im Kopf bleiben sollen. Es ist schon äußerst sensationell und auch Effekthascherei dabei, eine Sammlung der schrecklichsten und unvorstellbarsten Fälle der deutschen Justizgeschichte. Nichts für schwache Nerven, gerade weil wir auch wissen, dass die Schilderungen im Gegensatz zu grausamen Psychothrillern auf der Realität basieren.

Mein Fazit:
Der Roman ist auf alle Fälle interessant zu lesen, er ist sehr kurzweilig, unterhaltsam, häufig atemberaubend und sprachlich ansprechend. Allerdings habe ich mich immer wieder über das Verhalten der Anwältin gewundert bzw. teilweise auch geärgert. Wer handelt so unklug? Ist das für eine angesehene und erfolgreiche Juristin noch glaubhaft? Welchen Eindruck bekommen Laien von der Justiz? Recht und Gerechtigkeit scheinen nicht im Gleichgewicht zu sein.

Außerdem waren für mich die Fälle zu sensationell, eine Gräueltat folgt der nächsten, ein Fall ist schockierender als der letzte, es wird gemordet, vergewaltigt, getötet, geraubt, hintergangen, betrogen – für True-Crime-Fans aber sicherlich ein intensiver Leckerbissen.

Den Roman werde ich an einen jungen Studenten verschenken, er studiert Jura im 4. Semester und erzählt immer ganz begeistert von diversen Fällen, die er wieder an der Uni diskutiert hat – in seinem jugendlichen Eifer sind die Gedankenspiele und Reflexionen zu dem Verhalten der Juristin und den Entscheidungen des Gerichts sicherlich noch sehr anregend und faszinierend. Diesen Punkt möchte ich auch positiv herausstellen: Die Frage nach Recht und Gerechtigkeit steht im Zentrum und immer wieder kann man sich fragen, wie hätte man selbst in bestimmten Momenten reagiert, wie beurteilt man die Situation, welche Entscheidungen wären denkbar. Wie wird ein Mensch zum Täter? Wer ist Täter? Wer ist Opfer? Es geht um den dunklen Moment im Leben eines Menschen, und dieser ist immer einen genauen Blick und auch eine Geschichte wert.

Bewertung vom 15.04.2025
Ámbar
Ferraro, Nicolás

Ámbar


ausgezeichnet

Die blutige Emanzipations- und Coming-of-Age-Story einer ungewöhnlichen Heldin
In Nicolas Ferraros Thriller „Ambar” gibt es eine außergewöhnliche, starke junge Heldin, Ambar, Tochter des argentinischen Gangsters Víctor Mondragóns, mit dem sie ein Leben voller Gefahren, roher Gewalt, Problemen, Entbehrungen und Kriminalität teilt. Im Laufe des Coming-of-Age-Romans emanzipiert sie sich allerdings, wird erwachsen, erlebt ihre erste große Liebe und beginnt, den Ehrenkodex und die Moralvorstellungen ihres Vaters zu hinterfragen und als Zukunftsvision eventuell sogar zu überwinden.

Der Roman spielt in Argentinien, findet an diversen namenlosen Orten statt und Vater und Tochter sind immer unterwegs, ein Road Movie, das sicherlich auch das Tempo, den Hintergrund und genügend Actionszenen für eine coole, spannende Verfilmung a la Tarantino böte. Der beste Freund ihres Vaters wird erschossen und verantwortlich ist ein maskierter Mann mit Schlangentattoo. Und mit diesem fulminanten Auftakt beginnt der Rachefeldzug des Vaters, dessen Handlungen und Motive nicht hinterfragt werden. Stattdessen kümmert sich die 16-jährige Ambar um seine Schussverletzungen, holt die Kugel aus der Wunde und verarztet ihn professionell mit Stichen. Und weiter geht es zum nächsten Schauplatz, zum ehemaligen Weggefährten, zu Kleinkriminellen, zu Prostituierten, zu Drogendealern und Glücksspielern. Ambar ist immer an seiner Seite, steht Schmiere, befolgt Befehle, kann mit dem Gewehr umgehen und ist die perfekt instruierte Begleiterin. Doch dieses Leben auf der Flucht und in Anspannung macht sie mürbe und müde, sie wünscht sich Normalität, Freundschaft, Liebe und all das wird ihr besonders dann deutlich, als sie sich in einen jungen Mann verliebt. Aber kann sie es schaffen, ihren Vater zu enttäuschen, seinen Plänen zuwiderzuhandeln, sich einen eigenen Weg zu suchen?

Der Roman erzählt spannend und emotional, nimmt einen auf diesen fesselnden Roadtrip mit und die kernige, mit allen Wassern gewaschene, unprätentiöse Ambar, deren selbstgewähltes Wappentier ein Jaguar ist, zieht den Leser gleich in ihren Bann. Die vom Machismus geprägte und äußerst gewalttätige Männerwelt wird detailliert beschrieben, bei den Inszenierungen von Gräueltaten fällt die Abgestumpftheit der Protagonisten auf, für die solche Szenen im kriminellen Bandenmilieu zur Tagesordnung gehören. Das ist keine Wohlfühlwelt, kein Ponyhof, keine Schulbildung oder Aufstiegschancen in Sicht. Da kann man sich nur wundern, wie eine mutige Frau sich dem entgegenstellt und ihr Schicksal in die eigene Hand nimmt – wünschen wir ihr das Beste auf ihrem weiteren Weg.