Benutzer
Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 164 Bewertungen
Bewertung vom 14.09.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


sehr gut

Im Dickicht Berlins
Das kleine Bändchen mit den knapp 150 Seiten liest sich rasant und ist äußerst unterhaltsam. Gleich am Anfang steht die witzige, abstruse Idee des botswanischen Präsidenten, Deutschland zu überraschen und es gibt ein Geschenk, das keines ist – 20.000 Elefanten tauchen über Nacht in Berlin auf, es beginnt am frühen Morgen an der Spree und nach und nach werden überall die Tiere gesichtet. Jetzt muss die Regierung überlegen, was sie mit diesem „Geschenk“ anstellt, wie sie mit den Tieren umgeht, wie sie die Elefanten wieder loswird. Der Kanzler muss handeln, er stellt Gremien zusammen, beruft eine Elefantenministerin, lässt sich von der Ex-Kanzlerin beraten, muss reagieren und will auf alle Fälle eins: seine eigene Haut durch diese Krise retten. Und das entpuppt sich als schwieriger, als ursprünglich gedacht. Die Regierung muss ihre eigenen moralischen Standpunkte anwenden, die sie immer wieder an andere Länder stellt... Tja, eine schwierige Situation, die wilde Auswüchse beschert, lustige, aber auch bitterböse Szenen, die von Ironie und Sarkasmus nur so triefen – kann der amtierende Kanzler Winkler letztendlich das Problem lösen? Was ist mit den anderen Ministern und Ministerien? Der Biologin? Der Elefantenspezialistin? Das Militär? Wie kommen die Elefanten zurück? Welchen neuen Blick bekommt Deutschland auf das eigene Verhalten, die moralische Keule, die immer wieder über die anderen – andere Staaten, den politischen Gegner - geschwungen wird?
Ein Schwerpunkt Schroeters liegt in der Frage nach dem globalen Zusammenleben, dem Umgang mit Ressourcen und Gerechtigkeit, dass die westlichen Staaten häufig moralische Maßstäbe anwenden und Positionen vertreten, die andere Länder / Staaten (z.T. in anderen Kontinenten) ebenso umsetzen sollen, was überhaupt nicht realistisch oder angemessen ist. Die westliche Überheblichkeit wird angeprangert, aber auch der deutsche Umgang mit Problemen, Krisensituationen, der Presse, der Öffentlichkeit, Bauernopfern, Grabenkämpfen, politischen Querelen, Rechthaberei, Gesichtswahrung, Gewinnmaximierung, Profitgier, politische Dilemmata etc.
Die Fabulierfreude Schroeters wird immer wieder sichtbar und aus der wahren Begebenheit, dem realen Angebot aus Botswana aufgrund eines Abkommens bezüglich Tiertrophäen und deren Einfuhrbeschränkungen nach D., hat sie im Stil des magischen Realismus das unerklärliche Auftauchen der Elefanten beschrieben. Trotzdem ist der Roman kein modernes Märchen, sondern eher eine Polit-Satire, die die Irrungen und Wirrungen innerhalb des inner circles grandios, treffend und sehr realistisch beschreibt. Ein Roman, der bestens unterhält und außerdem zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 10.09.2025
Rupflin, Alexander

Protokoll eines Verschwindens


sehr gut

Ein spannender True-Crime-Thriller: Alexander Rupflin erzählt in seinem „Protokoll eines Verschwindens“ die Geschichte Gabriels, eines jungen, unbeschwerten Mannes aus Rio de Janeiro, der in Hamburg verschwindet, und von seiner Familie, seiner Schwester Isabella, Mutter, einem Onkel und der Polizei vorerst ergebnislos gesucht wird.
Und Rupflin begibt sich auf die Suche nach Gabriel, lotet die Person aus, seine Vorlieben, seine Freunde, seine Geliebte. Wir nähern uns diesem jungen Mann, der immer wieder in unterschiedlichem Licht geschildert wird. Besonders eindrucksvoll berichtet die Schwester, mit der sich Rupflin häufiger trifft, die als Ärztin nach Deutschland gekommen ist und dort arbeitet und ihren Sohn großzieht und sich für ihren Bruder verantwortlich fühlt.
Parallel dazu wird die Geschichte von Fabio aufgerollt, einer Zufallsbekanntschaft Gabriels, einer der letzten Personen, die ihn gesehen haben, die mit ihm den Abend verbrachten, ein freundlicher Krankenpfleger, allseits beliebt, italienischer Abstammung und immer zum Feiern aufgelegt.
Nach und nach wird die Geschichte aufgerollt, die Zeugen werden vernommen, die Perspektive erweitert sich und der Leser möchte erfahren, was tatsächlich passiert ist.
Die unterschiedlichen Perspektiven sind sehr wirkungsvoll in Szene gesetzt und kurzweilig, protokollartig wird die Ermittlungsarbeit der Polizei beschrieben. Aber noch interessanter sind die Interviews und Treffen des Autors mit den Familienangehörigen und dem Täter, der Leser erfährt aus erster Hand, welche Erkenntnisse gewonnen werden, die Gefühle und Gedanken der Beteiligten werden eindrücklich beschrieben.
Erschütternde, aufwühlende Einblicke in unbekannte Welten, Abgründe werden sichtbar und immer wieder fragt man sich, wie es zu dem tragischen Unglück kommen konnte.
Eine spannende, traurige Geschichte, besonders unter dem Aspekt, dass sie „wahr“ ist und als Fazit bleibt bestehen, dass man in die Menschen nicht hineinblicken kann, dass wir als Betrachter und Außenstehende die Wahrheit nicht immer greifen können und dass auch ein rechtskräftiges Urteil nicht unbedingt Gewissheit über die Vorgänge bringt.
Für Liebhaber des Genres eine klare Empfehlung!

Bewertung vom 24.08.2025
Rylance, Ulrike

Die fieseste Lehrerin der Welt


ausgezeichnet

Was für ein gelungener Einstieg! Die nette, liebevolle Frau Goldmann verabschiedet sich, geht in Rente und die Osterferien beginnen. Und dann kommt das böse Erwachen: Frau Fröhlich übernimmt die Klasse und alle sind geschockt, was für neue Regeln eingeführt werden. Handys, Südfrüchte und Pokémon Karten werden eingesammelt und der Schulleiter bezirzt, die Klasse ist entsetzt.
Wie können die Schüler sich gegen einen solchen Drachen wehren? Können sie ihn verstehen oder sogar verändern? Welche Möglichkeiten des Widerstands bieten sich?
Auf alle Fälle lernen Paul und seine Klassenkameraden, wie man gemeinsam stark ist, denn das Problem lässt sich nur mit vereinten Kräften lösen. Verrückte Ideen wie eine besondere Tasche oder auch Monsterpflanzen machen die Geschichte zu einem skurrilen und spannenden Abenteuer.
Die originellen Bilder und kleinen „Kritzeleien“ wie Briefchen, Noten oder Fliegen untermalen das Geschehen, lockern auf und unterhalten Kinder bestens. Eine klare Empfehlung für ein witzig-spritziges Kinderbuch ab 8 Jahren.

Bewertung vom 24.08.2025

LONELY PLANET Queer Travel Guide


ausgezeichnet

Der Queer Travel Guide / Lonely Planet von Alicia Valenski ist ein wunderbarer Reiseführer, der das Leben und die Vielfalt feiert. 50 LGBTQ+ Reisen werden mit vielen Tipps, Interviews aus der Community und hervorragenden Photos vorgestellt und man möchte am liebsten gleich seinen Rucksack packen und sich auf die Reise begeben. Das Buch ist aufwändig gestaltet, hochwertig verarbeitet, wunderschön und für jeden sind mögliche Ziele dabei – Neben Metropolen in aller Welt wie Bangkok, Stockholm, Kapstadt oder Sao Paulo werden auch Wanderwege, Strände, Inselparadiese oder Aktivurlaubsziele vorgestellt. Kunst, Sport, Partys, Festivals, Entspannung oder Action – ganz unterschiedliche Bedürfnisse werden angesprochen. Außerdem gibt es Tipps für alle Lebenslagen, hippe Restaurants und Bars werden vorgestellt, Spiel- und Sportevents, Ausflugsmöglichkeiten und Shopping-Tours beschrieben. Es gibt einen Pride-Kalender und wichtige Infos zu Land und Leuten unterstützen die Vorbereitung und helfen bei der Planung. Besonders liebevoll und cool sind die Beschreibungen und Kommentare einzelner Personen aus der Community, die ihre Stadt und ihr Land ganz persönliche vorstellen.
Ein umwerfender Reiseführer mit Liebe zum Detail, den man gar nicht mehr aus der Hand legen möchte!

Bewertung vom 24.08.2025
Laabs, Laura

Adlergestell


ausgezeichnet

Der Geschmack des Lebens
In Laura Laabs Wenderoman „Adlergestell“ kommt die Wende nur am Rand aus Kinderperspektive zum Tragen. Und das ist originell, sehr unterhaltsam und auch einfühlsam. Im Zentrum steht eine dreiköpfige Mädchengruppe, es geht um Vertrauen, Gemeinschaft, Reifungsprozesse, Spaß, aber auch Verrat und Lüge. Die großen und kleinen Dinge, die im Wandel begriffen sind, werden en passant beschrieben – das neue, klebrige Flutscheis, die neuen Lieder der Lehrerin von Rolf Zuckowski in der Schule, die neuen Texte im Lesebuch – Mutti geht nicht mehr zur Arbeit, sondern Mama bleibt zuhause. Eine Aufbruchsstimmung hat die Erwachsenen erfasst, die sich natürlich auch auf die Kinder überträgt, bei ihnen aber als Faszination, Abenteuer und Neugier, ohne die Existenz- und verlustängste der Großen. „Über Nacht war der alte Konsum in den neuen Krieg des Konsums eingetreten, und wir waren seine Söldner. (...) Kassierten ab, als ob es kein Gestern gäbe.“

Lenka, Chaline und die Ich-Erzählerin bilden eine Dreiergruppe, die immer wieder durch Streit auseinanderbricht, drei Mädchen, die ihre unterschiedliche Herkunft mit sich tragen und mit ihren Problemen zu kämpfen haben. Alle suchen aber den Nervenkitzel, das große Abenteuer, aber auch Anerkennung und Liebe. Als Trio Infernale gehen sie den schmalen Weg zwischen dem Fauxpax oder der Jugendsünde und schon kriminellen Delikten, die nicht mehr akzeptabel sind. Sie befruchten sich gegenseitig nicht nur positiv und geraten in die Position der Außenseiter und Schwererziehbaren, da die Eltern und Lehrer das Augenmerk nicht auf das Wesentliche, sondern bloß ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Unsicherheiten richten.

Unterbrochen werden die einzelnen Kapitel des Romans durch Werbung wie die Episoden im neuen Westfernsehen, kurze, pointierte Intervalle, die letztendlich das neue Glück bissig und ironisch infrage stellen. Können die drei es schaffen, in dieser neuen Welt aufzuwachsen, heil an Körper und Geist, und sich selbst finden? Wird ihre Freundschaft den Umständen trotzen und überdauern?

„Wir ließen die Beine baumeln und zutschten am Calippo. Der Geschmack darin war flüchtig, man hatte ihn schnell, mitsamt der Farbstoffe, aus dem Eis gezogen, das blank und fad zurückblieb. Im Mund aber vermischte sich die Süße mit dem Sand zwischen unseren Zähnen zum Vorgeschmack auf ein Leben, das noch kommen sollte.“

Ein kluger, lustiger, ungemein unterhaltsamer Roman, der die Zeit leichtfüßig beleuchtet, aber auch zum Nachdenken anregt, sprachlich pointiert und gekonnt, eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.08.2025
Martin, Peer;Michaelis, Antonia

Tomorrow Land


sehr gut

In der Regel beschäftigen sich Dystopien mit übersteigerten negativen Aspekten unserer Welt – was wäre wenn... Ein schlechter Ort wird beschrieben, das Gegenteil einer Utopie, die auf eine gute, schöne friedfertige Zukunft verweist. Der neue Roman „Tomorrowland“ der beiden renommierten Autoren Antonia Michaelis und Peer Martins beschreibt eine Horrorversion Deutschlands in gut 60 Jahren und es geht unter anderem um Freiheit, Liebe und Freundschaft, Menschenrechte, Ausbeutung, Krieg, Ressourcen, Umweltverschmutzung, Artensterben, Naturkatastrophen und Klimawandel. Viele Themen, die in das 320-Seiten-starke Jugendbuch passen, und es geht gleich rasant zur Sache mit einem eindrucksvollen Anfang: das Unwetter, die Flucht aus dem Gefängnis, die Rettung aus größter Not. Moa rettet Hannes und dann sind sie gemeinsam auf der Flucht, landen bei der Prinzessin Greta-Anna, die ihnen wie eine Märchenfigur aus einer anderen Welt erscheint und erstaunlicherweise hilft. Zwei sehr unterschiedliche Lebenswelten treffen aufeinander, 3-D-Wälder, gechippte Gefangene, Hunger, Ghettos, Armut und dann diese luxuriöse Welt der Prinzessin. Sie hilft den beiden aller Vernunft zum Trotz, obwohl ihr Vater ein hohes Tier bei der Sicherheit ist und sie sich in Gefahr begibt - und damit beginnt ihre Involvierung im wahren Leben, die Spirale, die alles zu sprengen droht. Ihr Freund Wilhelm scheint eine ganz andere Einstellung zu haben und kann ihr Verhalten nicht nachvollziehen. Ein alter, unheimlicher Mann hat außerdem seine Finger im Spiel und es ist nicht klar, auf welcher Seite er steht, der Chronist der Zeit, Mahner und Intellektueller, Schuldiger?
Das rasante Tempo des Anfangs wird eingehalten und die Ereignisse überschlagen sich, für mich passiert etwas zu viel aufeinander und der Leser kann kaum Atem holen. Dieses Nebeneinander und die Flucht- und Gefahrensituationen ufern sehr aus, ein lebensbedrohliches Abenteuer jagt das nächste, die Orte wechseln, die Gefahr vergrößert sich, die KI übernimmt die Regie und Horrorszenarien werden Wirklichkeit.
Dabei bleiben die Figuren z.T. eindimensional und ich hätte mir etwas mehr Tiefe und Hintergrundinformationen gewünscht, vor allem bei Moa, der gute Freund, aber was hat er auf seiner langjährigen Flucht alles erlebt? Welche Eigenschaften charakterisieren ihn neben seiner Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und seinem Mut? Und auch Shirin und Jahle bleiben eine Tochter und eine Mutter auf der Flucht, hilfsbereit, sympathisch, unschuldig, aber keine Menschen aus Fleisch und Blut. Vielleicht eher Stellvertreter für die Unterdrückten? Möglicherweise ist das bei diesem spannenden Jugendroman auch zu viel verlangt, atemberaubend zu lesen ist er auf alle Fälle und eine Lektüre, die breiten Raum für Informationen, Diskussionen und weiterführende Recherche bietet allemal. Vielleicht sogar als Schullektüre geeignet - als mitreißende Verfilmung allemal denkbar und die Hoffnung auf eine bessere Welt wird am Schluss greifbar, die Möglichkeit zur Veränderung und zu aktivem, verantwortungsvollen Handeln als Auftrag.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.06.2025
Prammer, Theresa

Ausgespielt


sehr gut

Amor - Weg in den Abgrund
Theresa Prammers neuer Thriller „Ausgespielt“ ist eine rasante Achterbahnfahrt voller Liebe, Leidenschaft und Mord mitten in die Fänge der Partnerschaftsvermittlungen.
Im Zentrum steht die toughe Ermittlerin Liv, die einen grauenhaften Frauenmord aufklären soll. Die Ereignisse überschlagen sich, ominöse Bekanntschaften aus den Rängen der Vermittlung wollen ihre Identität nicht preisgeben, der Kreis der Verdächtigen ist unüberschaubar und Liv weiß schon bald nicht mehr, wem sie wirklich trauen kann.
Besonders interessant ist der Wechsel der Zeitebenen und geschickt spielt Prammer mit diesen fließenden Übergängen – was passiert heute und was ist vor knapp 30 Jahren geschehen. Denn es zeigt sich, dass auch in den 80-er Jahren schon ähnliche Frauenmorde auftraten und die Fragen vervielfachen sich. Ist der Mörder noch auf freiem Fuß? Oder gibt es einen Nachahmer? Welche Spuren konnten verwischt werden? Und wurde eventuell der Falsche gefasst? Die Parallelen sind nicht zu übersehen und diese kurzweiligen Rückblenden lassen den Leser mitfiebern.
Die kurzen Kapitel und ständigen Szenenwechsel verhelfen dem Thriller zu einem atemberaubenden Lesevergnügen, allerdings geht es z.T. auf Kosten der Übersichtlichkeit. Es wird unter Umständen schwierig, den Überblick über die Liebeswütigen und Gesetzeshüter, die Figuren der Gegenwart und der Vergangenheit zu behalten. Geschickt vermischen sich Privates und Berufliches und besonders die beiden weiblichen Hauptfiguren gewinnen an Tiefe, Charakterstärke und Sympathie.
Ein spannender, ungewöhnlicher Thriller, der mit den Erwartungen der Leser / Leserinnen spielt und die Vertrauensfrage stellt – hoffentlich bleibt es nicht der einzige Fall von Liv!

Bewertung vom 08.06.2025
Vuong, Ocean

Der Kaiser der Freude


ausgezeichnet

Thanksgiving für jeden Tag
„Damit die Traurigkeit was hat, wo sie sich unterstellen kann... wie ein kleines Bushäuschen.“

Das Ende des amerikanischen Traums / Der Kaiser der Freude als der Kaiser einer Illusion
Ocean Vuongs neuer Roman ist eine Liebeserklärung für die Geschundenen, Verlierer, die trotz allem zueinander halten, einander helfen und das Glück suchen.
Der junge, queere Hai lebt unglücklich in seiner Lüge, er ist gescheitert, konnte die eigenen Hoffnungen und die seiner Mutter nicht erfüllen und will sich von einer Brücke stürzen, wird aber im letzten Moment von der alten Grazina aus Litauen gerettet. So beginnt eine ungewöhnliche Freundschaft und Beziehung, bei der sich die beiden gegenseitig stützen, Halt und Hilfe geben und sich langsam eine fast familiäre Bindung ergibt. Die beiden kommen aus unterschiedlichen Welten und sie trennen Jahrzehnte und Kontinente, aber sie finden zueinander.
Es gut um Freundschaft, Menschlichkeit, Zuversicht, das Festhalten an Träumen, die Suche nach dem kleinen Glück und dem würdevollen Bestehen im harten Alltag. Die Hilfe für andere gilt als Ausweg, als Ablenkung von dem egozentrischen Kreisen um sich selbst. Fürsorge gilt für Vuong als Nachspiel von Wut, verwandelte Wut, die in positive Bahnen gelenkt wird.
Als Leser suchen wir das Happy End, aber darum geht es nicht – es geht eher darum, das Leben zu bestehen, in Schönheit, in Gnade, in Freundlichkeit, in Fürsorge, auch wenn es keine Hoffnung auf Beständigkeit oder Erlösung gibt.
Wie schon in seinem Romandebut betört Vuong mit seinen poetischen und ungewöhnlichen Bildern und zeigt erneut, dass er Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen und ein großes Herz für seine fein und liebevoll gezeichneten Charaktere besitzt.
Sony: „Aber wir sind trotzdem Looser, wir alle, wir haben immer nur verloren.“

Bewertung vom 08.06.2025
Oates, Joyce Carol

Butcher


ausgezeichnet

Sinfonie des Schmerzes
Joyce Carol Oates bestätigt mit ihrem neuen Roman „Der Schlächter“ ihren Ruf als Kennerin des Schreckens, des Unglaublichen, des Makabren. Außergewöhnlich ist sowohl Inhalt als auch Sprache und Form und man taucht tief in eine Welt des Unfassbaren ein.
Im Zentrum steht der diabolische Arzt Silas Aloysius Weir, sein Aufstieg und Fall. Zu Beginn seiner Karriere wird er schüchtern, zurückhaltend als Landarzt in das Metier der Medizin eingeführt, kann kaum Blut sehen, hat Angst vor Berührungen und Kontakt zu den Patienten. Im Laufe der Zeit entwickelt er sich aber, von Ehrgeiz getrieben, zu einem Arzt, der mit neuen Forschungs- und Operationsmethoden die Geschichte der Medizin, der Gynäkopsychiatrie, revolutionieren möchte. Nicht die Heilung der Kranken, sondern die Erprobung neuer, wissenschaftlicher Erkenntnisse stehen nun im Vordergrund und werden auf dem Rücken der Patientinnen vorangetrieben. Die perfekte Umgebung für seine Experimente findet er in der Anstalt für psychisch kranke Frauen, als Geisteskranke von ihren Familien abgeschoben und verbannt, an denen er seine unmenschlichen Untersuchungen und Operationen ohne Rechtfertigungsdruck durchführen kann. Erschütternde, plastische Darstellungen, Momente der Not, der Folter, der Qual, Unglaubliches wird erzählt, die Frauen sind wehrlose, anonyme Opfer. Allein zwei Frauen nehmen eine Sonderfunktion ein, eine Krankenschwester und eine Patientin, die es schaffen, sich in Ansätzen zu behaupten und Einfluss auf die Geschichte zu nehmen.
Die Sprache ist grandios, auf ganz hohem Niveau und wirklich dem 19. Jahrhundert angepasst, Schreiben kann Oates! Äußerst gelungen fängt sie diesen zeitlichen Duktus ein und es klingt wie ein Traktat aus der Romantik - der dämonische Arzt auf der Suche nach Perfektion, die schöne, stumme Albina, das Feuer, die Qualen, Gottesfürchtigkeit und der Bund mit dem Teufel, Maschinen und technische Geräte, Experimente, Wissenschaftsgläubigkeit und Furcht, Liebe und Hass, Strafe und Belohnung. Unterschiedliche Blickwinkel und Perspektiven tragen zur Abwechslung bei, gekonnt wechseln sich Einträge aus einem Tagebuch, Berichte von Überlebenden, einer Chronik, Schilderungen des Sohnes ab und vermitteln ein umfangreiches, aber immer auch subjektives und unzuverlässiges Bild. Der Leser weiß nicht, auf wen er sich verlassen kann und muss selbst die losen Enden zusammenknüpfen. Die gestelzte Sprache versetzt uns in die Zeit Edgar Allan Poes oder auch E. T. A. Hoffmanns und die gleiche Weitschweifigkeit ist zu beobachten. Weitere Elemente eines Schauerromans aus dem 19. Jahrhundert sind erkennbar - einzelne Momente werde nicht erklärt, man kann an das Übernatürlich glauben, Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht wissenschaftlich erklärbar sind – ein Equilibrium zwischen den Fakten und dem Fantastischen, Unerklärlichem lassen Leerstellen zu, die individuell gefüllt werden können.
Dieser Roman ist ein besonderes Highlight, allerdings nichts für schwache Nerven und viktorianische Fräuleins. Mich hat „The Butcher“ sehr bewegt und zum Nachdenken gebracht - keine leichte Kost, aber eine Lektüre, die mich sicherlich lange begleitet wird. Ich freue mich auf mehr von der spektakulären Joyce Carol Oates!

Bewertung vom 08.06.2025
Delgado, Daryll

Überreste


ausgezeichnet

„Wir bewegten uns, die Gerade-noch-Lebenden vorbei an den Toten, die im Straßenrand aufgereiht lagen.“

Ein bewegender Roman, „Überreste“ von Daryll Delgado, aus dem Philippinischen übersetzt, der sich mit dem Unglück und den Folgen einer Naturkatastrophe beschäftigt.

2013 traf der Taifun Haiyan auf die Philippinen, einer der schlimmsten Wirbelstürme, die je registiert wurden. Tacloban, Stadt der Insel Leyte, die selbst stark zerstört wurde, steht im Zentrum des Geschehens. Reale Zeugenberichte wechseln sich mit der Erzählung ab, bei der Ann, Journalistin. Ich-Erzählerin und Hauptfigur zwischen der Gegenwart, der Zeit nach der Katastrophe, und der Vergangenheit, in der sie als glückliches, privilegiertes Kind einer einflussreichen und angesehenen Familie in Tacloban in einer großen Villa mit Schwester Alice, Eltern, Dienstboten und jeglichem Komfort gelebt hat, hin- und herwechselt.

Ann ist eine komplexe Figur, der es immer schwerer fällt, ihrer Rolle als objektive Beobachterin, als Reporterin gerecht zu werden. Durch eine private Mission ist sie nicht mehr neutral und sie verfängt sich immer stärker in ihre komplizierte Familiengeschichte. Für eine Doku sammelt sie Informationen, recherchiert, zeichnet Interviews mit Überlebenden auf, andererseits ist sie privat involviert und beschäftigt sich mit den Wurzeln ihrer Herkunft. Ein Interessenskonflikt entsteht: Journalismus versus persönlichem Interesse, die Grenzen von objektiver Recherche werden aufgezeigt und Ann schafft es kaum, ein Gleichgewicht zu finden. Die Schatten ihrer Vergangenheit bedrohen und verunsichern sie. Die Zerrissenheit der Stadt entspricht der Zerrissenheit der Figur Anns: die Privilegien der eigenen Klasse, Familientraumata, Klassenunterschiede, alte Seilschaften, Mythen und ungeklärte Geheimnisse.

Eine sehr gekonnte Verknüpfung von realen Schrecken und einer psychologisch dichten Verarbeitung von Traumata – Fiktion und Realität treffen aufeinander und lassen den Roman zu etwas Besonderem werden.

Eine weitere Auffälligkeit ist die sprachliche Verwendung der Muttersprache Delgados, Warai. Immer wieder tauchen Sequenzen oder einzelne Wörter in Warai auf, die am Ende des Romans übersetzt werden. Man muss aber nicht notwendigerweise die Übersetzung simultan nachlesen, der Flow, der Sound reichen aus, die Leser sollen die fremde Sprache erleben, Ausdrucksform der Figuren, Teil der Charaktere, so Delgado im Interview. Die Figuren sollen sprechen und denken wie Warai-Sprecher. Aber wer hat eine Stimme? Wer hat das Recht, seine Geschichte zu erzählen? Wer hat überlebt? Und welche Geschichte und welche Bilder werden in das Bewusstsein der Überlebenden dringen?

Ein eindrücklicher Roman, bei dem sich die große, existenzielle Naturkatastrophe mit dem persönlichen, intimen Schicksal mischt und von einer Welt erzählt, die uns auf den ersten Blick fremd und fern erscheint, aber durch die allgemeingültigen Erlebnisse von Verlust, Todesangst und Überlebenswillen doch so sehr berührt. Ein besonderes Lesehighlight!