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Elisabeth
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Stuttgart

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Bewertung vom 16.08.2017
Zeithain
Roes, Michael

Zeithain


ausgezeichnet

Über die Katte-Tragödie schreibt Theodor Fontane, dass ihr eigentlicher Mittelpunkt nicht der Kronprinz Friedrich, sondern Katte sei: „Er ist der Held, er bezahlt die Schuld“
Im Roman „Zeithain“ von Michael Roes ist er der Held. Aus Sorgfältigste hat der Autor die geschichtlichen Fakten zum Leben Hans Hermann Kattes recherchiert. Dennoch ist es nicht sein Anliegen, eine historisch fundierte Biographie über ihn zu schreiben. „Und doch wage ich eine Art Annäherung an seine mir fremde Welt, eher eine Preußenphantasie als eine Recherche, und vertraue dabei ganz der ureigenen menschlichen Fähigkeit der Empathie.“ (S.242) Damit beschreibt Michael Roes den Weg, zu dem er aufbricht, als Autor, als Schöpfer eines neuen Kosmos, als Dichter, der erzählend seinem Helden Wirklichkeit verleiht.
So führt auch ein Erzähler, Philip Stanhope, ein entfernter Verwandter Kattes in den Roman ein. Er entwirft das historische Panorama, vor dem sich die Ereignisse entfalten. Sein Interesse für den geheimnisvollen Vorfahren, seine Phantasien, angeregt durch Briefe und Portraits, bringen die Geschichte in Gang. Auf seiner Entdeckungsreise zu Orten, die für Kattes Leben prägend waren, wird dieser selbst lebendig, erzählt seine Geschichte. Es entfaltet sich ein Zwiegespräch zwischen ihm und seinem Erzähler, in dem sich das Damals mit dem Heute verbinden.
Da ist zunächst Wust, das Gutshaus derer von Katte. Hier und im Hause des Großvaters mütterlicherseits verbringt Katte seine Kindheit und Jugend bis zum 13 Lebensjahr. Er ist 13 Jahre alt, als die Mutter stirbt. Überschattet ist diese Lebensphase von der unerbittlichen, grausamen Strenge des Vaters, der sich in seiner Vaterrolle als Vollstrecker des Willens des göttlichen Vaters sieht. Weitere prägende Lebensphasen sind die Schulzeit im Collegium Regium in Glaucha, Studium, Kavaliersreise und die Zeit bei den Gens d’Armes, wo er den Kronprinzen Friedrich kennenlernt. Eine grosse Seelenverwandschaft verbindet sie: „Wir haben verschiedene Körper, aber unsere Seele ist eins.“ (S.595) Bachs Passion wird zum Symbol ihrer Passion, in der doppelten Bedeutung des Wortes, Leid und Leindenschaft. Für ihre Freundschaft leidet Katte den Tod: „Ich verlasse die Welt reicher, als ich sie betreten habe, ganz ohne eigenes Verdienst.“ (S.704)
Michael Roes‘ Roman ist eine große poetische Reflexion. Hans Hermann von Katte, sein Leben, die Komplexität seines Wesens sind der Gegenstand dieser Reflexion. Vielfältig sind die brechenden Schichten, die Michael Roes übereinander legt: Gegenwart und Geschichte, Mythos, Philosophie, Literatur und Imaginationen der Phantasie. Diese Vielschichtigkeit ermöglicht es, daß aus dem ursprünglichen Thema ein vielstimmiger Choral wird, der ergreifft, mit allen Sinnen, ungeteilte Geistesgegenwart herausfordernd. Der Rhythmus des Textes, die poetische, ja bisweilen lyrische Sprache verleiht dem Inhalt die korrespondierende sprachliche Form. Reflexion meint aber auch Rückwendung nach innen, hier ein Ergründen des Helden, Hans Hermann Katte, aus einem Standpunkt der Innständigkeit. „Wie kann ich eintreten in eine Seele, die es möglicherweise garnicht gibt? Nennen wir sie einfach das Innensein…Es gibt Unterschiede im Innensein…Das Selbst ist der Ort.“ (S.690) Kattes Erzähler begibt sich auf den Weg in das Innensein seines Helden. Aus vielfältigen Perspektiven, immer wieder aufs Neue aufbrechend, ergründet er seinen Protagonisten. Die Fiktion leitet diese Suche, der Erzähler folgt, fühlend, nachdenkend, in seinen Phantasien, immer seinem Gegenstand verfügbar bleibend. So wird der Dichter wirklich zum Schöpfer eines vollkommen neuen Kosmos, so ist er wirklich Autor.