Das Jahr 1382 nach dem canthanischen Kalender (das entspricht dem Jahr 872 NE aus dem Originalspiel) wird wohl für immer im Gedächtnis der hiesigen Bevölkerung bleiben. Es war der letzte Tag des Erntedankfestes und der große Kaiser Angsiyan begab sich traditionsgemäß zum Erntetempel, um den Göttern seinen Dank auszusprechen. Doch dieses Ereignis sollte zur dunkelsten Stunde werden, die das Canthanische Reich je erlebt hat. Sein treuester Leibwächter, Shiro Tagachi, wandte sich aus immer noch unerfindlichen Gründen gegen seinen Herrn und ermordete ihn kaltblütig. Allerdings konnte er seinen Triumph nicht lange auskosten, denn kurz darauf schnappten ihn die Wachen und schickten ihn kurzerhand ebenfalls über den Jordan. Mit seinem letzten
Atemzug setzte der von dunklen Mächten zerfressene Shiro einen verheerenden Schrei frei, den man seitdem nur noch als Jadewind bezeichnet. Diese mächtige Energiewelle zog wie ein Orkan über das Land und verwandelte alle Lebwesen, Pflanzen und sogar Gewässer auf ewig in Stein und Kristall. Dies war auch der Zeitpunkt, als sich die beiden Völker der Luxon und Kurzick, die beide tausende Opfer zu beklagen hatten und ihrer natürlichen Lebensräume beraubt wurden, immer mehr anfeindeten und alsbald begannen, sich um die verbliebenen Region von Canthas zu streiten.
Heute schreiben wir das Jahr 1582 CK (= 1072 NE), die beiden Fraktionen wurden zu erbitterten Feinden und eine mysteriöse Seuche sucht das ganze Land heim und verwandelt unschuldige Bürger in blutrünstige Mutanten - einige Stimmen behaupten sogar, dass Shiro selbst aus dem Jenseits zurückgekehrt ist, um Cantha ein für alle mal ins Chaos zu stürzen.
Der Ritualist ist König unter den BlindenIn dieser von Krieg und Zerstörung geplagten Welt findet man sich als Spieler von
Guild Wars Factions wieder und wird sogleich ausgeschickt, um der geheimnisvollen Seuche auf die Schliche zu kommen.
Guild Wars Prophecies-Spieler dürfen nach der Erledigung einer kurzen Quest in Löwenstein nach Cantha segeln und sich sofort ins Abenteuer stürzen. Wer dagegen noch keinen Charakter hat oder einfach neu anfangen möchte, beginnt sein Dasein im Kloster der Insel Shing Jea wo man in einem ausführlichen Tutorial sämtliche Grundfunktionen des Spiels erlernt.
Aber natürlich steht zuvor erst einmal die Charaktererschaffung an, wobei man die Klasse, den Namen und natürlich das Aussehen seines zukünftigen Avatars einstellt. Für letzteres stehen übrigens weitaus mehr Optionen zur Verfügung als es noch in Prophecies der Fall war. Ebenfalls getan hat sich etwas bei der Klassenwahl, denn zu der bisherigen Riege bestehend aus Krieger, Mönch, Waldläufer, Mesmer, Nekromant und Elementarmagier gesellten sich nun noch Assassinen und Ritualisten. Wie der Name schon erahnen lässt, spezialisieren sich die Assassinen auf das schnelle Ausschalten ihrer Widersacher durch tödliche Schlagkombinationen in Verbindung mit vielen kritischen Treffern (die doppelten Schaden verursachen). Es ist auch die erste Klasse, die zwei Waffen auf einmal benutzen kann, wobei sich die Auswahl allerdings auf Dolche in allen möglichen Formen beschränkt. Die Ritualisten, welche zur besseren Kommunikation mit der Geisterwelt ihre Augen verbinden, halten sich dagegen eher weit entfernt vom Kampfgeschehen auf und konzentrieren sich lieber auf das beschwören von stationären Geistern, die den Gegner schädigen oder Verbündete beschützen. Abseits davon verstärken sie die Waffen der Verbündeten oder entfesseln mächtige Zauber mit Hilfe von magischen Urnen.
Schwer versiebtSobald der Held die Welt Cantha betritt und das Tutorial erfolgreich gemeistert hat (man kann es aber auch einfach überspringen), beginnt das, was Prophecies damals so positiv von der Konkurrenz abhob und selbst nach einem Jahr noch einmalig im MMORPG-Genre ist: Der Storymodus. Hier treibt man die Geschichte Canthas in insgesamt 13 Hauptmissionen und unzähligen Quests voran und rüstet seinen Charakter nebenbei für den anschließenden Kampf in den zahlreichen PvP Arenen und Turnieren. Sämtliche Kampfareale im Story-Modus sind abermals ausschließlich für den Spieler und dessen Gruppe instanziert. Die Gruppenbildung findet dabei in den großzügig verteilten Städten bzw. Außenposten statt, wo man auch meist neue Kurzaufträge abseits der Hauptkampagne erhält.
Besagte Instanzen sind allerdings nicht immer nur für eine Gruppe reserviert, denn in bestimmten Missionen muss man mit einer zweiten Gruppe menschlicher Spieler zusammenarbeiten, um ans Ziel zu kommen. Das geschieht sogar schon recht früh innerhalb der Kampagne und mag sicherlich eine gute Idee sein, aber es macht die ohnehin schon bockschwere dritte Hauptmission nur unnötig schwerer. Als ob die Tatsache, dass man sich hunderten von Gegnern gegenüber sieht nicht schon genug wäre, muss man sich auch noch auf eine völlig zufällig ausgewählte zweite Gruppe verlassen. Generell ist Factions nicht unbedingt so einsteigerfreundlich, wie die vielen Einführungen und Spielhilfen erahnen lassen, denn der Schwierigkeitsgrad der Kampagne liegt deutlich über dem des Originalspiels. Hier können sich Anfänger und teilweise sogar fortgeschrittene Spieler schon mal die Zähne ausbeißen, was bei einigen sogar dazu geführt hat, dass sie die Factions-Kampagne nun komplett ignorieren. Das ist allerdings sehr schade, denn die wahre Stärke des Addons liegt in den Fraktionskämpfen, an denen man jedoch erst im späteren Spielverlauf teilnehmen kann.
Hierbei muss man sich einer der beiden Fraktionen (Luxor oder Kurzick) anschließen und ist fortan ein Teil der nie endenden Kämpfe dieser zwei Parteien. Vor allem für Gilden bieten sich so neue Möglichkeiten, denn mit genügend Fraktionspunkten erhält eine Gilde bzw. eher deren Bündnis (= ein Zusammenschluss aus mehreren Gilden) die Kontrolle über eine Stadt oder einen Außenposten. Diese Fraktionspunkte erhält man wiederum durch besondere Missionen, von denen es zwei Arten gibt. Zum einen wären da die
Herausforderungs-Missionen, in denen man sich gegen schier unzählige Gegner behaupten muss und zum anderen die
kompetitiven Missionen in denen mehrere Teams gegeneinander antreten und z.B. um die Kontrolle von Ressourcenpunkten kämpfen.
Sofern ein Bündnis eine der großen Städte besitzt, erhält sie Zugang zu besonderen
Elite-Missionen, in denen die Abenteurer seltene Gegenstände und unsagbarer Reichtum erwarten. Der einzige Haken an der Sache ist allerdings, dass sich die großen Gilden bereits zu Bündnissen zusammen geschlossen haben und mittlerweile über dermaßen viele Fraktionspunkte verfügen, dass kleinere Bündnisse hier kein Land mehr sehen - leider zählen für die Verteilung der Städte nicht die zuletzt gesammelten Punkte, sondern das gesamte Punktekonto. Als Einsteiger kann man sich diesen interessanten Spielpart also ebenfalls erstmal abschminken, bis NCSoft eine brauchbare Lösung dafür gefunden hat.
Big Brother is watching you!Damit sich der aufgebrachte Fanmob erst einmal beruhigen kann und die Steine beiseite legt, versuche ich meine Kritik mal an dieser Stelle zu unterbrechen und spare meine Worte für das Fazit auf. Das ist allerdings auch nicht sonderlich schwer, denn auf der technischen Seite zeigt sich Factions von seiner besten Seite. Dank des DirectX 9 Faceliftings sieht die Grafik auch nach über einem Jahr noch spektakulär aus und stellt den Großteil der Konkurrenz in den Schatten. Das asiatisch angehauchte Szenario weiß ebenfalls zu überzeugen und den Spieler sofort in seinen Bann zu ziehen. Allerdings krankt dieses besonders zu Spielbeginn ein wenig an der mangelnden Abwechslung und der teilweise lieblos gestalteten Umgebung, aber spätestens beim Besuch des Jademeers oder des Steinwaldes ändert sich das komplett. Die von Jeremy Soule komponierten Musikstücke wissen ebenfalls zu überzeugen und präsentieren sich je nach Situation in einem anderen Gewand.
Zusätzlich zu den bereits erwähnten Neuerungen gibt es natürlich noch einige kleinere Zusätze in Form von 300 neuen Skills (davon ist die Hälfte für die zwei neuen Klassen reserviert), über 100 neue Monster, neue Gildenhallen- / embleme und natürlich hunderte neue Waffen, Rüstungen und Gegenstände. Wer bereits
Guild Wars Prophecies besitzt, bekommt übrigens zwei neue Slots um Charaktere zu erstellen und hat somit ganze sechs zur Verfügung - wer nur Factions kauft, hat lediglich vier.
Wegen des Städteeroberungs-Szenarios gab es ebenfalls eine Änderung im PvP-Modus. Sämtliche Arenen wurden nämlich auf eine kleine Inselgruppe namens
Kampfarchipel verlegt, wo man nun auch ausgiebig mit NPCs trainieren kann, bevor man sich in die Schlacht wagt. So kann man sich z.B. ausgiebig über die Auswirkung der verschiedenen Zustände wie Blutung, Verzauberung oder Verhexung, die Reichweite von Flächenzaubern und den Schutz der unterschiedlichen Rüstungsarten gegen Schaden informieren. Außerdem hat man die Möglichkeit ein Match gegen eine Gruppe NPCs zu starten, die eine häufig in PvP-Gefechten angewandte Taktik verfolgen, welche man zuvor aus mehreren Möglichkeiten auswählt. Die Anzahl der verschiedenen Arenen wurde auch noch einmal kräftig nach oben geschraubt, um für mehr Abwechslung zu sorgen, jedoch kommen die meisten neuen Features hauptsächlich Gilden und Bündnissen zu Gute. Sehr praktisch ist dabei die Funktion des
Beobachter-Modus, wo man ohne weiteres in ein gerade laufendes Match springen kann. So hat man zumindest die Möglichkeit auch ohne mächtiges Bündnis oder starke Gilde den Schlachten beizuwohnen, auch wenn man nicht aktiv eingreifen kann. Während der Schlacht kann man dabei beliebig zwischen den Spielern hin und her schalten oder man schnappt sich etwas Popcorn, schaltet die automatische Kamera ein und genießt einfach das Spektakel.
Fazit: Dieses Stand-Alone Addon erweitert das bewährte
Guild Wars Prinzip um viele interessante Features. Allerdings ist es trotz der vielen Einsteigerhilfen nicht unbedingt für diese geeignet, da sie der Storymodus schon recht früh gnadenlos überfordert. Der schön inszenierte Kampf um die zwei Fraktionen verliert für Einsteiger und Gelegenheitsspieler ebenfalls schnell an Reiz, da sie einfach keine Chance haben einmal in den Genuss einer Elitemission zu kommen, wodurch die ohnehin schon starken Bündnisse nur noch stärker werden, was sich ebenfalls auf die PvP-Kämpfe auswirken wird.
Jedoch werden die beiden vernachlässigten Spielergruppen nicht ganz im Regen stehen gelassen, denn die Arenen aus dem Originalspiel sorgen immer noch für spaßige Gefechte mit Gleichgesinnten und in den Turnierkämpfen hat man auch als kleinere Gilde Chancen. Die beiden neuen Klassen fügen sich gut in das bisherige Konzept ein und werfen auch nicht die Balance der Kämpfe über den Haufen. Mir persönlich hat der Beobachter-Modus am meisten Spaß gemacht, da man hier auch mal die Spielweise von anderen studieren und sich vielleicht einige Taktiken abschauen kann.
Ich werde dem Spiel, trotz der paar Macken, auch weiterhin den Vorzug vor der Konkurrenz geben, denn man darf nie vergessen, dass es immer noch keine monatlichen Gebühren gibt und ich bin mir sicher, dass NCSoft die Probleme mit dem Fraktionssystem in den Griff bekommen wird.
Wertung: 88 von 100 Punkten
(Marcel Benz/GameCaptain.de)