nun "Virgin Ubiquity II" - Eine Reise in die Vergangenheit der Zukunft.
Was Polydor damals keiner Veröffentlichung wert schien, fügt sich nicht nur nahtlos in die Reihe klassischer Ayers-Alben von "Ubiquity" bis "Life Line" ein. Songs wie "I Am Your Mind" oder "Liquid Love" führen die Fusion-Phantasien des Komponisten und Arrangeurs zu kühler Perfektion: komplexe, aber doch lässig treibende Funkrhythmen, Jazzbläser, Streicher, weibliche Soulstimmen. Darüber gießt Roy Ayers seine perkussiven Vibraphon-Riffs. Ästhetisch ausgefuchst. Psychedelisch rauschend. Cool. Wenn Disko damals seinen stumpfsinnigen Tribut forderte, der Soul der Sechziger zugunsten eines urbaneren Crossover-Klangs von der Bildfläche verschwand, dann trotzte Ayers beiden Entwicklungen das Beste ab. Brachte der Mann, dessen ursprüngliche Leidenschaft dem Bebop gehörte, Jazz-Tugenden wie Intuition und Improvisation in den Mix. "Ich ging grundsätzlich mit einem leeren Blatt ins Studio." Hinter der Fassade des kommerziellen Erfolgs bastelte Ayers an einer Zukunft, die ihn einmal als Paten solcher Bastardstile wie Garage, House und Breakbeat anerkennen sollte.
Gleichzeitig hatte sein Fusion-Funk immer eine Botschaft. So fordert die Sängerin Terri Wells im souligen Auftakt "Love Holiday" einen Feiertag für Martin Luther King, stehen Songtitel wie "Kwajilori" für die Verschmelzung von Science-fiction und afrikanischer Griot-Tradition, und zu seinem größten Hit "Everybody Loves The Sunshine" - hier in einer unbekannten Demoversion vertreten - merkt Ayers an, daß er ihn als Protesthymne gegen den Smog seiner Heimatstadt Los Angeles konzipiert habe. Der Weg des Vibraphonisten von der Jazz-Orthodoxie zum Disko-Freistil allerdings hat heute nur noch bedingt Vorbildcharakter. Im Zeitalter von Laptop-Studios und beliebig verfügbaren Samples sieht die Emanzipation oft genau umgekehrt aus: Rückkehr zu eher traditionellen Sound- und Songstrukturen.
So entdeckt der Elektroniker Jamie Lidell auf seinem neuen Album "Multiply" die rohe Kraft der menschlichen Stimme wieder, rückt von den Filtereffekten und gehäckselten Technobeats seines ehemaligen Duos "Super Collider" ab und widmet sich - dem klassischen Soulsong. Ein Großteil der Kompositionen des englischen Wahlberliners erinnern inzwischen eher an Al Green und Sly Stone als an den organisierten Krach, mit dem er vor wenigen Jahren noch als elektronische Avantgarde firmierte. Ist das Innovationspotential digitaler Ästhetik erschöpft? Oder hat sich der Song schlichtweg als das bessere Trägermedium für existentielle Botschaften erwiesen? Um diese nämlich geht es Jamie Lidell auf "Multiply". Der Sänger zitiert etwa auf "What Is This Time?" das melodiöse Erbe eines Sam Cooke, huldigt mit "When I Come Back Around" dem Synthie-Funk von "Parliament" und rekurriert im Titeltrack rauh dem Soul eines Otis Redding. Karge Instrumentierung, warme Klangfarben und gebrochener Gesang erinnern an den erdigen Sound von Südstaaten-Labels wie Stax und Volt. Kein Zweifel: Die emotionale Intensität von Jamie Lidells Musik profitiert von klaren, einfachen Formen. Stolpert der Hörer dennoch über nervtötende Lärm-Cluster, kann es sich nur um mutwillig liegengelassene Reste aus der Sprengung des alten Klanguniversums handeln.
Zweifellos würde sich Jamie Lidell in Roy Ayers' unterkühlter Perfektion nicht wohl fühlen. Doch wenn es um die Erschütterung überkommener Gewißheiten geht, dann könnte "Multiply" für die Elektronik leisten, was "Ubiquity" einst für den Jazz bedeutete: den Aufbruch in den Dschungel namens Soul.
JONATHAN FISCHER
Roy Ayers, Ubiquity II. BBE/Rapster RR0042
Jamie Lidell, Multiply. Warp131 (Rough Trade)
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