Textverständlichkeit und einer deklamatorischen Disziplin, die hören läßt, wie meisterhaft deutlich die Vorgaben des Chorleiters Roderich Kreile gewesen sein müssen. Am wichtigsten ist aber jene Transparenz und Leichtigkeit, über die ein gemischter Chor aus erwachsenen Stimmen längst hinausgeraten ist und die er nicht nur nicht, sondern nie mehr erreichen wird.
Nie mehr: Denn das Wissen um die Vergänglichkeit der kindlichen Stimmfarbe gehört ebenso zum Mythos des Gesangs wie die Annahme, im Volkslied treffe man auf Relikte einer Urform von Dichtung und Gesang. Auch im Falle dieser Neuaufnahme mag solche Verkettung von menschlich-musikalischen Kindheitsaltern ein Kaufanreiz sein. Ins Leere trifft sie dennoch. Höchstens befremdet reagieren Volksliedforscher auf die Frage, welche denn nun die echte, die ursprüngliche Form eines Volksliedes sei. Sie kennen bloß Varianten. Auch bei der Klage, daß man dem unmittelbar vom Absterben bedrohten Volkslied dringend aufhelfen müsse, winken sie müde ab: Seit Goethe und Herder versammle man sich bekümmert um das Krankenbett des Volksliedes, schreibt der Freiburger Volksliedforscher Otto Holzapfel: "Es war ein erstaunlich zäher Patient, der jetzt seit über 225 Jahren zwar immer wieder ,Wundverband' und ,Bett' bis zur Unkenntlichkeit gewechselt hat, aber zuweilen auch ganze ,Krankenhäuser' überlebt hat."
Fünfundzwanzig mehrstrophige Lieder singen die Knaben und jungen Männer aus Dresden - schmeichelnd, geradezu labend für die Ohren. Interessant ist nicht nur, wie sie das tun, sondern auch, welche verschiedenartigen Sätze sie dabei vorstellen - die Arten und Weisen, kompositorisch mit den Melodien der Volksdichtung oder dem, was bewußt in deren Nachfolge gestellt wurde, umzugehen. Stets zierlich intonieren die Kruzianer all jene sprachlichen und melodischen Formeln, die "hallihallos" und "jajas", "lalalas" und "jucheis", die seit je zum Volkslied gehören.
Das Repertoire, das sie präsentieren, reicht vom im Gesangverein-Idiom des hohen neunzehnten Jahrhunderts gehaltenen "Die Blümelein, sie schlafen" oder "Lieb Heimatland, ade" über alte, mitunter polyphon ausholende Sätze bei "Ach Elslein, liebes Elslein" und "Entlaubet ist der Wald", von den fahlen Girlanden in Hugo Distlers "Es geht ein' dunkle Wolk' herein" über das zart-gepflegte Rütteln von Ernst Meyers "Feinsliebchen"-Satz bis hin zu den kunstreich-dichten Kompositionen eines Mendelssohn-Bartholdy ("Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht"), Robert Franz ("Im Mai"), Robert Schumann ("Frühlingsgruß") und dem auf engstem Raum verschrobenen Satz von Max Regers "Bald gras' ich am Neckar". Bildschön klingt die Ballade der zwei Königskinder im Satz von Max Fiedler, weil sie - wenn auch das Ufer des Überkontrollierten, Fein-Säuberlichen stets nah bleibt - in diesem Vortrag und mit diesen Stimmen eine fast schmerzliche Unschuld hat.
CHRISTIANE TEWINKEL
Volkslieder. Dresdner Kreuzchor, Roderich Kreile. Berlin Classics 0017772 BC
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