sterben, meint aber auch: nicht vergehen. Mit einer Spur Rührung, vor allem mit Staunen liest man, was Strittmatter, den man doch eher zum Atheismus und zur "wissenschaftlichen Weltanschauung" seiner politischen Lehrmeister sortieren möchte, seiner Frau sagte: "Ich werde sein, in welcher Form auch immer." Die nachgelassenen Aufzeichnungen sind ein Versuch, die Formen durchzumustern, deren sich diese Unsterblichkeit bedienen könnte. Des nahenden Endes gewiß, spielt der alte Mann noch einmal mit den Puzzleteilchen seines Daseins, hätschelt liebevoll die Spur seiner Erdentage, auf daß sie nicht in Äonen untergehe.
Manche Einzelheiten dieser letzten Selbstverständigung kennen wir längst aus Strittmatters OEuvre, andere sind neu. Das Alte wie das Neue kommt ungeordnet daher, in freier Assoziation zutage gefördert, der Autor fährt sozusagen mit der Hungerharke über seine Lebensfelder, die Hälmchen seiner Nachlese purzeln uns vor die Füße. Ausflüge in die Lausitzer Ladenkindheit wechseln mit Naturbeobachtungen rund um den Schulzenhofer Alterssitz in der nördlichen Mark Brandenburg.
Was pflanzliche und tierische Existenzen angeht, so zeigt Strittmatter sich als hochmütiger Kenner, er verachtet "moderne" Menschen, die nur Blümchen oder Vögelchen wahrnehmen und keine Ahnung mehr haben von Arten und Sorten. Wenn er die eigene Person ins Spiel bringt, tut er das nicht ohne Schriftstellereitelkeit, er weiß es selbst, betont es sogar und erlaubt sich dabei einige Koketterie. Nur scheinbar kokett jedoch ist sein Spüren nach den Urgründen seiner Schriftstellerei. Man darf es schon ernst nehmen, wenn er dafür die lamaistischen Mythen Tibets bemüht: "Ich habe noch nicht die Zeit gefunden, nachzuforschen, welcher Erzähler an dem Tag und zu der Stunde starb, als ich geboren wurde. Einen wird's seit der Zeit, da der Mensch mit dem Schreiben anfing, gegeben haben, dessen Drang mir eingeboren wurde."
Der Politik enthält der plaudernde Strittmatter sich weitgehend. Er mault ein bißchen über die Enttäuschungen, die sein sozialistischer Staat ihm bereitete, fertigt die deutsche Einheit mürrisch-ironisch als "Geschenk des Kanzlers" ab und äußert, was die russischen "Freunde" angeht, ein paar Sympathien und eine Portion Mißtrauen. Einen bedeutenden Platz räumt der Bilanzmacher einer Frau namens Wilhelminele ein, Nachbarin der Strittmatters im Krähwinkel Schulzenhof. Das Wilhelminele, gebürtige Schwäbin, ist ein engagiertes Muttertier, im Interesse der Ihren bereit zu jeglichem Kompromiß mit der jeweiligen Macht. Ihren Mann hat sie vergebens in Hitlers Partei zu drängen versucht, ihren Sohn aber lancierte sie in die SED, das leicht debile Sorgenkind las sogar Stalins Werke.
Die Schilderung ist nicht ohne Spott, aber ebenso nicht ohne Sympathie, die zu teilen dem Leser schwerfällt. Denn wenn irgend jemand, so ist es dieser Prototyp des deutschen Kleinstbürgertums mit engem Horizont, auf den erst Hitler, dann Ulbricht und Honecker bauen konnten. Aber vielleicht erfahren wir ja nicht alles vom Wilhelminele, hat uns Strittmatter mit seinen impressionistischen Tupfern hier, Tupfern da nur Teile eines Menschenbildes geliefert. Es ist ja auch alles schon so lange her. In der Zeitenferne verdämmert vieles, was uns einst aufregte, Alarmrot wandelt sich zu Erinnerungsgrau.
So auch beim Lesen von Strittmatters Anmerkungen zu seinem letzten Roman "Der Laden", dritter Teil. Er schreibt da: "Du siehst schon, ich habe ein bißchen Technik bei Ernest Hemingway gemaust, Technik aus seinem Buch Tod am Nachmittag. Der literarische Trick hat mir gefallen. Ich benutzte ihn, sprechs auch gleich aus, damit den Buchbesprechern die Gelegenheit genommen wird, hämisch zu schreiben: Seht, seht, jetzt ist er achtzig und fängt an zu klauen."
Das wollen wir ihm beileibe nicht vorwerfen, im Gegenteil, wir sind herzlich froh, daß er dies konnte, ohne noch die Buchbesprecher fürchten zu müssen, wie sie einst in der alten DDR zugange waren. Zum Beispiel vor siebenunddreißig Jahren im Falle des Schriftstellers Karl Mundstock, der sich gleichfalls formal an Hemingway orientiert hatte und sich fürchten mußte, als ihm die Rezensentin Eva Strittmatter die Instrumente der Inquisition zeigte: "Er wollte sich einen ,Stil' aneignen (bewußt oder halbbewußt). Er hat vergessen, daß die Form mit dem Inhalt zu tun hat. Der Stil wird nicht verkauft ohne Zugabe der Ideologie." Der Ideologie des amerikanischen Klassenfeindes, wohlverstanden.
Zum Glück hat die Klassenfeindschaft sich erledigt und mit ihr die Hysterie gegenüber literarischen Abweichlern. Derlei Wandlungsprozesse sind das Positive an der verstreichenden Zeit, die wir sonst so gerne festhalten möchten, weil mit ihr auch unser Leben verrinnt. SABINE BRANDT Erwin Strittmatter: "Vor der Verwandlung". Aufzeichnungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Eva Strittmatter. Aufbau-Verlag, Berlin 1995. 173 S., geb., 29,90 DM.
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