durch seine literarischen genauso wie durch seine rechtswissenschaftlichen Arbeiten ziehen. Der Holocaust war es in "Der Vorleser", die RAF-Verstrickungen der Bundesrepublik und ihr Ausstrahlen in die Mentalität der Gegenwart in seinem 2008 erschienenen Roman "Das Wochenende".
Auch in seinem neuen Band mit Erzählungen ist es das Kreiseln um das Vergangene und der Versuch, das Zurückliegende in ein Verhältnis zu sich zu setzen, was Bernhard Schlinks Figuren umtreibt. Indes, das lässt schon der Titel "Sommerlügen" vermuten, der Balkon- respektive Strandatmosphäre evoziert, sind es in diesem Fall weniger schwere politische als amouröse und familiäre Altlasten, die Schlinks Personal zu händeln hat. In "Die Reise nach Süden", der letzten der sieben Erzählungen, muss eine alte Dame sich von ihrer Enkeltochter damit konfrontieren lassen, dass ihre Lebensgeschichte, die auf dem Verlust ihrer großen Liebe basierte, mit dem sie alle folgenden Unbill ihrer Biographie erklärte, ihre private Form der Geschichtsklitterung ist. Ganz ähnlich aufgebaut ist "Johann Sebastian Bach auf Rügen". Hier ist es der erwachsene Sohn, der mit seinem achtzigjährigen Vater eine Reise unternimmt, um die Leerstellen in dessen Leben zu ergründen.
Nachgerade psychotisch geht es an anderer Stelle zu. Da versucht ein mäßig erfolgreicher Autor, seine Frau, selbst eine gefeierte Schriftstellerin, auf Gedeih und Verderb von ihrem glamourösen Leben im New Yorker Kulturbetrieb abzukapseln. Er kappt Telefonleitungen, verbarrikadiert die Zufahrt zum gemeinsamen Landhaus, all das in der Hoffnung, ein idyllisches und nur auf sich selbst zurückgeworfenes Familienleben mit der gemeinsamen Tochter führen zu können. Aber natürlich wird er auch auf diese Weise die Vergangenheit nicht aus der Gegenwart heraushalten können.
Ebenso wenig wie "Der Fremde in der Nacht", der dem Erzähler während eines gemeinsamen Nachtflugs eine äußerst abseitige Geschichte anvertraut, die immer mehr doppelte Böden, Finten und Haken offenbart. Am Ende besteht kaum mehr ein Zweifel daran, dass der Fremde, der sich als Opfer von Justiz und Medien darstellt, perfiderweise seine Freundin für eine beträchtliche Summe Geldes an den Attaché der kuweitschen Botschaft verkauft hat.
Wenn Bernhard Schlink mithin auf erzählerischer Ebene keine Zweifel lässt, vielmehr seine Intentionen derart transparent macht, dass dem in seiner Überdeutlichkeit bisweilen etwas Täppisches anhaftet, dann bleibt die Psychologie seiner Figuren umso zweifelhafter. Obwohl oder gerade weil sie sich penetrant selbst befragen, bleibt jede von ihnen auf fatale Weise unmotiviert und unkonturiert.
Mehr noch: Ein ums andere Mal denunziert Bernhard Schlink seine Figuren gar. "Sie weckte sein Interesse. Sein Begehren?" lautet eine der unzähligen Fragen, die sich ein Urlauber angesichts einer nicht mehr ganz jungen Strandbekanntschaft stellt. Nicht nur durch ihre bloße Menge sind diese Fragen mit fortschreitender Lektüre zunehmend enervierend, sondern angesichts ihrer Schlichtheit möchte man immer wieder beschämt die Augen niederschlagen. Denn was allenfalls noch wie das Zitat eines Klischees klingt, ist leider tiefsinnig gemeint.
Eins dieser Klischees folgt dem anderen. Womöglich ahnt Schlink das selbst ein wenig und versucht deshalb, durch dramatische Exklamationen, die neben den Fragesätzen sein bevorzugtes Stilmittel sind, das Stereotypengeklapper zu durchbrechen: "Nein, unter ihrem Leben schwelte kein Konflikt." Dergleichen freilich macht die Sache mehr schlimmer denn besser. Der Sand "prickelt" bei Schlink, die Frauen "kuscheln" sich beständig an ihre männlichen Begleiter. Das mag als Balkonlektüre durchgehen. Jenseits dessen tut es das nicht. Das vielleicht Schlimmste, was ein Buch ereilen kann, ist, dass es sich als sein ungewollt komischer und tragischerweise unbemerkter Selbstkommentar liest.
In Schlinks Erzählungsband passiert das spätestens, wenn ein Theaterautor feststellen muss, dass sein durchweg ernst gemeintes Stück als Groteske gelesen wird. Hätte man es bei Bernahrd Schlink nicht mit einem Autor zu tun, der vor fünfzehn Jahren zu internationalem Renommee gelangte, man würde diesen sprachlich hilflosen, inhaltlich weitgehend belanglosen Band ohne viel Federlesens zur Seite legen. Oder, um mal den Schlinkschen Gestus aufzunehmen: Sollte man das nicht trotz oder gerade wegen dieser vergangenen Erfolge tun?
WIEBKE POROMBKA
Bernhard Schlink: "Sommerlügen". Geschichten. Diogenes Verlag, Zürich 2010. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
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