bei der Moral nicht um eine Art Gesslerhut handelt, den man um seiner selbst willen zu grüßen hat, ist eine Selbstverständlichkeit.
Erlinger selbst interpretiert seinen Satz als eine Art Beweislastregel. "Man muss sich nicht für das, was man tut, rechtfertigen, sondern die Moral muss begründen, warum man sich in einer bestimmten Art und Weise verhalten soll." Auch das ist so richtig wie banal. Um die von Erlinger angemahnten Begründungen streitet die Ethik seit zweieinhalb Jahrtausenden.
Erlingers Ausführungen als Beitrag zu dieser Diskussion zu bezeichnen hieße, ihnen zu viel Ehre anzutun. Seine Auseinandersetzung mit der theologischen Ethik beschränkt sich auf die flapsige Bemerkung, dass die moralische Richtigkeit eines Verhaltens nicht davon abhänge, ob es einem höheren Wesen gefalle. Entgegen der vollmundigen Ankündigung Erlingers, es gehe ihm darum, "die großen Gedanken aus diesen Jahrtausenden, die unser Leben nach wie vor prägen und auch weiter prägen sollen, klarer herauszustellen und für die heutigen Menschen verständlich zu formulieren", beschränkt die Rolle der großen Ethiktheorien der Vergangenheit sich bei ihm auf die Funktion von Geschmacksverstärkern: hier ein Schuss Tugendethik, dort eine Prise Kant und zum Schluss noch ein Quentchen Regelutilitarismus, einige Tropfen Mitleidsethik und ein Teelöffel Rawls. Um die Frage nach der Vereinbarkeit dieser unterschiedlichen Ansätze kümmert Erlinger sich nicht im mindesten. Wozu auch, da man, wie er ein ums andere Mal versichert, moralische Prinzipien ohnehin "nie über die Menschen stellen sollte"? Der wahre Moralist ist eben derjenige, der sich seine Moral passgenau auf den Leib schneidert.
Erlingers eigene Moral: Von der Polemik gegen das Erziehungsgeld über die Forderung nach moralisch korrektem Einkaufen und Geldanlegen bis zu einer Philippika gegen den Verzehr von Fleisch ist in seinem Buch alles enthalten, was das Herz moderner Großstadtakademiker höher schlagen lässt. Die größte und nur nach allerlei Beteuerungen der eigenen politischen Wohlanständigkeit vorgebrachte Kühnheit, zu der er sich hinreißen lässt, besteht darin, dass auch Rechtsextremisten das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zustehe. Außerdem ist Erlinger saturiert genug, um anzuerkennen - "auch wenn es ein wenig komisch klingt" -, dass die wichtigsten sozialen Grundpflichten darin bestehen, seine Steuern und Abgaben zu zahlen und keine unnötigen Leistungen der Gesellschaft in Anspruch zu nehmen.
So recht wohl ist ihm bei der Feststellung dieser Selbstverständlichkeiten allerdings nicht. "Ein wenig mag das nach Sozialromantik klingen, und irgendwie scheinen auch das große Wir-Gefühl, Patriotismus und womöglich Nationalismus um die Ecke zu lugen. Das Erstere, die Sozialromantik, räume ich ein, das Letztere, Patriotismus oder gar Nationalismus, weise ich zurück." Ein Moraltheoretiker, der sich patriotische Gefühle erlaubt, das wäre ja noch schöner. "Es muss stets jeder Einzelne gleichberechtigt mit allen Anderen im Mittelpunkt der Interessen stehen." Das hätte Philipp Rösler nicht schöner sagen können.
Erlinger kennt die Menschen freilich gut genug, um zu wissen, dass moralische Bekenntnisse zwar leicht ausgesprochen, oft aber nur sehr ungern in die Tat umgesetzt werden. "Überzogene Moralforderungen, die am Leben vorbeigehen", seien, wie er betont, "der schlimmste Bärendienst, den man der Moral erweisen kann". Deshalb hält er für seine Leser den klassischen Beichtvater-Trost bereit: "Jeder Schritt in die richtige Richtung stellt einen Fortschritt dar. Man muss nicht auf einen Schlag alles richtig machen, um richtig zu handeln." Die Quintessenz von Erlingers Erörterungen bildet eine allgemeine Nettigkeitsforderung: "Ich glaube ganz einfach, dass der tägliche Umgang miteinander besser wird, wenn man sich achtet, Verständnis füreinander hat und Rücksicht walten lässt." Dem wird niemand widersprechen. Aber muss man wirklich dreihundert Seiten füllen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen?
MICHAEL PAWLIK
Rainer Erlinger: "Moral". Wie man richtig gut lebt.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 364 S., geb, 19,95 [Euro].
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