haben ein wenig von all diesen Vorgängerinnen, und doch entwickeln sie sich freier und finden selbständiger ihre eigenen Wege. Immerhin sind Erika, Laura und Molly auch nur Halbschwestern, und das ist, wie die altkluge Erika erklärt, "ein bißchen wie Pseudokrupp", also nichts Echtes und deshalb wohl mit weniger existentieller Schwere behaftet.
Die drei Mädchen, Töchter verschiedener Mütter, verbringen jedes Jahr die Sommerferien bei ihrem gemeinsamen Vater, dem Arzt Isak, der auf einer kleinen Insel vor der schwedischen Küste lebt. Wie ein biblischer Patriarch versammelt dieser dort seine Nachkommen, von denen es möglicherweise noch mehr gibt als die drei Schwestern; so vermuten es jedenfalls die Dorfbewohner, die den vitalen Mann ebenso bewundern wie fürchten. Für seine Töchter hat ihr Vater die Kraft einer unberechenbaren Naturgewalt, und daß er als Erfinder der gynäkologischen Ultraschalluntersuchungen berühmt geworden ist, verleiht ihm eine machtvolle Aura. Schließlich kann Isak in alle Frauen hineinsehen und kennt die Geheimnisse des werdenden Lebens, noch bevor es sich für andere bemerkbar macht.
Linn Ullmann weiß, was es bedeutet, berühmte Eltern zu haben. Seit sie mit ihren ersten Romanen in Norwegen bekannt wurde, weisen die Kritiker gern darauf hin, daß sie als Tochter von Ingmar Bergman und Liv Ullmann einer der bekanntesten skandinavischen Künstlerfamilien entstammt. So interessant solche biographischen Details auch sind - und sie ließen sich noch vermehren, denn Linn Ullmann ist mit dem norwegischen Schriftsteller Niels Fredrik Dahl verheiratet, ihr Schwager ist der Bestseller-Autor Henning Mankell -, Rückschlüsse auf die Handlung oder Personenkonstellation ihrer Bücher lassen sich daraus nicht gewinnen.
Schon in ihrem ersten Roman "Die Lügnerin" (1999) hatte Ullmann mit großem Erfindungsreichtum eine weibliche Biographie entworfen, die mit den Koordinaten ihres eigenen Lebens nur oberflächliche Berührungen hat. Der von der Kritik gelobte Roman "Gnade" (2004) erzählt von einem Ehepaar, das angesichts der unheilbaren Krankheit des Mannes vor der Frage steht, wer ein Recht hat, über die Grenzen des Lebens zu entscheiden.
Es sind Geschichten aus dem Alltag, mit denen Linn Ullmann in Norwegen und in anderen europäischen Ländern seit etlichen Jahren einen großen Kreis vor allem von Leserinnen gewonnen hat. Auch die drei Schwestern ihres jüngsten Romans führen als Erwachsene ein Leben, wie es typisch für viele Frauen unserer Gegenwart ist. Die Ärztin Erika, die Älteste der drei, hat gerade die Trennung von ihrem zweiten Ehemann hinter sich und versucht, ihren heranwachsenden Kindern eine Mutter zu sein, die sich nicht zu stark einmischt. Laura lebt mit ihrer Familie in der beklemmenden nachbarschaftlichen Enge einer modernen schwedischen Wohnsiedlung, die der albtraumhaften Phantasie übereifriger Sozialpädagogen zu entstammen scheint. Molly, die Jüngste, arbeitet in verschiedenen Theaterprojekten, ohne damit bislang zu reüssieren.
Nach langer Zeit finden die drei Schwestern nun wieder zusammen, um mitten im Winter zu ihrem greisen Vater Isak zu reisen, den sie seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen haben. In der Erinnerung der drei Frauen entsteht dabei allmählich ein Bild des letzten gemeinsamen Sommers, den die heranwachsenden Mädchen bei ihrem Vater verbracht haben. Schnell wird jedoch deutlich, daß die Insel-Idylle, die anfangs ein wenig an die heitere Atmosphäre von Astrid Lindgrens "Kinder aus Bullerbü" erinnert, auch dunkle Seiten hat. Der häßliche Ragnar spielt dabei eine wichtige Rolle, ein Junge, der genauso alt ist wie Erika und unaufhörlich in Bewegung zu sein scheint. Rennend begegnet er den Schwestern zum ersten Mal, als er bei Isak Schutz suchen will, und rennend flüchtet er am Ende vor einer aufgebrachten Teenager-Clique ins Meer. Die Erinnerung an Ragnar mit dem abstoßenden Muttermal zwischen den Augenbrauen - ein Kainsmal, das den sich ungeliebt fühlenden Bruder kennzeichnet? - beunruhigt die erwachsenen Schwestern ebenso wie die Frage, was sich in jenem letzten Inselsommer tatsächlich ereignet hat.
Linn Ullmann entwickelt freilich keine Detektivgeschichte, sondern fügt die verschiedenen Erinnerungen zu einer beklemmenden Schilderung über die Nöte des Heranwachsens zusammen. Nüchtern beschreibt sie die Quälereien, denen Erika durch die beneideten Nachbarsmädchen ausgesetzt ist, und ebenso unaufgeregt erzählt sie von der Schuld, die die drei Schwestern halb wissend, halb unwissend in der Vergangenheit auf sich geladen haben. Von der geplanten großen Aussprache mit Isak aber erfahren wir nichts; das Buch endet mit der Ankunft der erwachsenen Schwestern auf der Insel ihrer Kindheit und Jugend. Dieser unerwartete Schluß verrät viel über das Selbstverständnis der Erzählerin Linn Ullmann, die wie eine Choreographin Lebenslinien zusammenführt, ohne ihren Lesern die Befriedigung eines eindeutigen Endes zu verschaffen.
Frauenliteratur habe sie nie schreiben wollen, hat die Autorin oft versichert, und sie hat recht mit dieser Selbsteinschätzung, wenn sie dabei an jene fröhlichen Romane voller Superweiber und Klassefrauen denkt, die ihren Leserinnen die Glücksversprechungen der Märchen in neuer Verpackung präsentieren. Von modernen Frauen aber erzählt auch Linn Ullmann und zitiert dabei verhalten die alten Mythen, von der Bibel bis Shakespeare. Daß sie für ihre Version des Mädchenkriegs keine einfachen Lösungen kennt, macht ihr Buch lesenswert.
SABINE DOERING
Linn Ullmann: "Ein gesegnetes Kind". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Ina Kronenberger. Droemer Verlag, München 2006. 381 S., geb., 18,50 [Euro].
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