ihre Nebenrolle in Claude Lelouchs "Les Misérables" wieder ins Rampenlicht trat.
"Diese Leute haben sie fallengelassen", zürnte Brigitte Bardot, die mit Annie Girardot 1970 in der Komödie "Die Novizinnen" vor der Kamera gestanden hatte, in "Le Parisien", und der Journalist Henry-Jean Servat erinnerte daran, dass kein Regisseur der Nouvelle Vague je mit Girardot gedreht habe, seit sie von François Truffaut 1958 als Protagonistin des verhassten "cinéma de qualité" geschmäht worden war. Zwölf Jahre später schrieb Truffaut einen offenen Brief, in dem er Girardot ihren Auftritt als Lehrerin in André Cayattes Melodrama "Mourir d'aimer" (Aus Liebe sterben) um die Ohren schlug. Die in Frankreich gern beschworene "Kinofamilie" ist eben dasselbe Schlangennest wie in anderen Filmländern auch, und Annie Girardot hat ihren Teil an Gift und Galle abbekommen.
Im Jahr 1985, am Beginn ihres Karrieretiefs, als sie sich mit einer Musicalproduktion übernommen und fast ihr gesamtes Vermögen verloren hatte, spielte Annie Girardot eine der Hauptrollen in Claude Lelouchs "Weggehen und wiederkommen", der zu den wenigen Filmen mit ihr gehört, die man in einer deutschen DVD-Version bekommen kann. Es ist, wie Lelouch selbst eingesteht, weniger eine filmische Erzählung als eine musikalische Phantasie - unterlegt mit Rachmaninows zweitem Klavierkonzert -, in der sich die Schicksale zweier Familien unter der deutschen Besatzung kreuzen. Girardot und Jean-Louis Trintignant sind Schlossbesitzer in der Provinz, Françoise Fabian und Michel Piccoli ihre jüdischen Freunde aus Paris, die sich auf der Flucht vor der SS mit ihren Kindern im Schloss verstecken. Die Flüchtlinge werden verraten, nur Salomé (Evelyne Bouix), die Tochter, kehrt aus den Lagern zurück, und nun beginnt die Suche nach dem Denunzianten.
Im Grunde hat Annie Girardot in "Partir, revenir" nur eine einzige große Szene - als sie mit der Tochter im Zug sitzt und ihr die Wahrheit erzählt. Aber in diesem Auftritt liegt die ganze Bitterkeit einer Frau, die sich um ihr Leben und ihre Liebe betrogen fühlt, so dass man nicht anders kann, als die Rolle auch im Licht von Girardots Biographie zu sehen. Lelouch jedenfalls, der mit ihr seit 1967 insgesamt sechs Filme drehte, hat ihr zu allen Zeiten die Treue gehalten - so wie sie ihm.
Auch im Kino-Werk des Italieners Marco Ferreri ist Annie Girardot eine feste Größe. In "La donna scimmia" spielt sie die von ihrem Ehemann zur Schau gestellte "Affenfrau", in "Il seme dell'uomo" ist sie die Fremde, die das Robinsonglück von Anne Wiazemsky und Marco Margine auf die Probe stellt. Ihr schönster Auftritt bei Ferreri aber ist der als Hausmädchen Sabina in "Dillinger ist tot" (auf Deutsch bei Arthaus). Der Film dreht sich um einen Industriedesigner (Michel Piccoli), der von seiner blonden Ehefrau (Anita Pallenberg) die Nase voll hat und beim Anschauen alter Super-8-Filme den Furor seiner Jugend wiederzufinden versucht. Als er sich in Sabinas Zimmer schleicht, ertappt er sie dabei, wie sie das Poster eines italienischen Schlagersängers küsst. Später telefoniert sie mit ihrem Freund, und je länger das Gespräch dauert, desto deutlicher merkt man, dass es nur für Piccolis Ohren inszeniert ist. Schließlich gewährt sie ihm ihre Gunst, aber mit einer Ironie, die bei Bettszenen im Kino ebenso selten wie kostbar ist. Er träufelt Honig auf ihren Rücken, und sie dreht sich zu ihm hin, damit er ihn ablecken kann. Aber nur ein wenig, als wäre sie die Herrin im Hause, die ihren Diener empfängt. Danach geht er hinaus und erschießt seine Frau.
ANDREAS KILB
Claude Lelouch: "Weggehen und wiederkommen"
Koch Media, 113 Minuten. Sprachen: Deutsch, Französisch, Extras: Biographien.
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