Mann in einer Telephonzelle steht, gerade aufgelegt hat und instinktiv abhebt, als es wieder klingelt - und dann spricht ihn eine fremde Stimme mit seinem Namen an, jemand, der ihn zu kennen scheint, jemand, der alles über ihn weiß, jemand, der ihn offenbar auch sehen und beobachten kann: Dann regt sich ein gewisser Transzendenzverdacht - was da spricht, scheint eine Stimme aus dem Jenseits zu sein.
Gerade eben hat sich Stu Shepard (Colin Farrell) noch sehr angespannt durchs Hier und Jetzt von New York bewegt. Er war, was er am Ende dieses Films nicht mehr sein wird: ein kleiner Angeber und Wichtigtuer, ein Schleimer, der sich "publicist" nennt und sein Geld damit verdient, daß er, auf zwei Mobiltelephonen gleichzeitig, so vielen Leuten so ausdauernd auf den Wecker geht, bis einer seiner Klienten auf einer Titelseite, ein anderer in der Klatschspalte und ein dritter auf einer Gästeliste erscheint. Ein Mann also, den die Kinokenner als späten Nachfahren von Sidney Falco alias Tony Curtis aus dem bösen schwarzen Film "Sweet Smell of Success" identifizieren; und uns normalen Bewohnern der Gegenwart sind Typen wie Stu aus dem sogenannten Leben bekannt: Die waren schon "New Economy", als es das Wort noch gar nicht gab; die handelten schon immer mit Images und Stories, deren Realitäts- und Wahrheitsgehalt völlig egal ist, solange nur möglichst viele Menschen an diese Stories glauben.
Stu Shepard also hat, an der Ecke 8th Avenue und 53rd Street, eine Münze in das letzte öffentliche Telephon geworfen, hat von hier aus (weil seine Frau die Mobilrechnungen kontrolliert) das Mädchen angerufen, das er gern verführen würde, und als, nach dem erfolglosen Ausgang dieses Gesprächs, das Telephon klingelte, konnte Stu nicht widerstehen.
Stu werde sterben, falls er auflege, sagt die Stimme am Telephon, Stu solle dranbleiben, weil es einiges zu besprechen gebe: Die fremde Stimme will Stu dazu zwingen, daß er bereut, bekennt und beichtet; daß er all die Lügen, von denen er gelebt hat, zurückzieht, dementiert und es den Belogenen gesteht.
Das könnte, so wie es anfängt, ein Theaterstück für die Studiobühne sein, ein Dialog für einen Schauspieler und eine Stimme, von Sartre vielleicht oder eher noch von Patrick Marber.
Es ist aber ein kommerzieller Kinofilm, und seine beiden Urheber stehen nicht gerade im Ruf, besonders feinsinnig zu sein: Das Drehbuch hat Larry Cohen geschrieben, ein Mann, der seit mehr als vierzig Jahren seine Stoffe eher auf der Straße als in den Büchern sucht. Und inszeniert hat Joel Schumacher, ein Mann, der mit zwei Batman-Filmen, zwei Grisham-Verfilmungen und dem fiesen Spießerdrama "Falling Down" vor allem bewiesen hat, daß seine populistischen Instinkte sehr gut funktionieren. Für einen Thrillerregisseur wie ihn ist die Moral normalerweise etwas ähnliches, wie es für den Westernregisseur die Pferde sind: etwas, das den Film in Bewegung bringen soll.
Du stirbst, wenn du auflegst: Das ist die Drohung, deren Ernsthaftigkeit zunächst nicht weiter unterstrichen werden muß. So undurchschaubar ist die Lage, so gefährlich das Wissen dessen, der da am anderen Ende der Leitung ist, daß Stu, der Schwätzer, erst mal die Klappe hält und zuhört und nur dann etwas sagt, wenn er gefragt worden ist: Mit einer Stimme, die von nirgendwo und überall zu kommen scheint, diskutiert man so wenig, wie man mit einem brennenden Dornbusch einen Streit anfängt.
Aber dann klopft eine Hure an die Tür, dann noch eine und noch eine; dann steht da der Zuhälter und droht, falls Stu nicht endlich auflegt, mit dem Baseballschläger, und dann fällt ein Schuß, und der Zuhälter ist tot. Wo aber die Schußwaffen sprechen, verstummt alle Transzendenz - die Stimme am anderen Ende der Leitung ist ein höheres Wesen nur noch insofern, als sie offenbar hinter einem Fenster in den oberen Stockwerken der umliegenden Häuser sitzt.
Ein sogenannter Sniper also, der mit Stu Shepard sein böses Spiel spielt - und natürlich tat die Verleihfirma das Richtige, als sie den Film zurückzog vor knapp einem Jahr: Eigentlich sollte der Film schon damals starten, als in der Gegend von Washington tatsächlich ein Heckenschütze auf unschuldige Menschen schoß.
Der Sniper im Film wird als Person nur am Ende kurz sichtbar, und ob der Film mit seinen Taten sympathisiere, läßt sich, wie alle solche Fragen, nur anhand der eigenen Reaktionen beim Betrachten beantworten. Wichtiger ist, daß der Film die Perspektive des Snipers einnimmt. Ob man mit oder ohne Fadenkreuz auf ihn guckt - Stu Shepard ist jedenfalls ein schönes Ziel: nicht bloß für den Sniper, nicht bloß für uns Zuschauer, sondern auch für mindestens hundert Gewehre und Pistolen der Polizei, die kurz nach dem Tod des Zuhälters am Tatort erscheint und naturgemäß Stu Shepard für den Mörder hält.
"Nehmen Sie die Hände über den Kopf, kommen Sie langsam aus der Zelle heraus, und ergeben Sie sich!" ruft der Oberpolizist. "Das geht jetzt nicht. Sie sehen doch, daß ich ein wirklich wichtiges Gespräch in der Leitung habe", antwortet Stu. Und genau darum geht es in dem Film: Nicht nur um Stu, der eine ziemlich kleine Nummer ist. Sondern um all jene, die immer gerade ein extrem wichtiges Gespräch in der Leitung haben. Um die Typen also, die auch in Hollywood die Macht haben, die Klappe aufreißen und dann doch nicht viel mehr zu bieten haben als die Idee zum vierten Sequel eines zehn Jahre alten Blockbusters.
Das Spannende daran ist, daß es nicht die üblichen Verdächtigen sind, die sich wehren, nicht die Künstler und Intellektuellen unter den Regisseuren, sondern zwei Könige aus dem Reich von Pop, Pulp und Trash: Dieser Angriff kommt aus dem Innersten Hollywoods. Und er zielt aufs Herz des Systems.
Wenn der Film zu Ende geht, ist der Sniper entkommen. Der Kampf geht weiter. Für uns Zuschauer ist das eine richtig gute Nachricht.
CLAUDIUS SEIDL
"Nicht auflegen": ab Donnerstag im Kino.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main