"Islandfalken", der vor kurzem bei uns lief, fährt in sein Land zurück, um dort in Ruhe zu sterben. Tatsächlich haben die bemoosten rundlichen Felsenberge, die Gletscherzungen, die Hügel aus Lavageröll etwas Einladendes, etwas von einem Mutterschoß, in den man heimkehrt, wenn einem die Zivilisation über den Kopf wächst.
Nur nicht für Nói. Er will hier raus, koste es, was es wolle, und als es am Ende das Leben aller kostet, die ihm lieb sind, ist ihm auch das recht. Nói ist - als Albino, notorischer Schulschwänzer und mutterloses Kind - gleich mehrfach zum Außenseiter gestempelt, und wenn er in dem kleinen Dorf im äußersten Nordwesten der Insel, in dem er bei seiner Großmutter lebt, nicht täglich Prügel bezieht, liegt das vor allem an dem monströsen Gleichmut der übrigen Bewohner. Die Lehrer, die Mitschüler, der alkoholsüchtige Vater, die Oma, der Pfarrer, der Buchhändler, die Bankangestellten, sie alle haben etwas Irreales und Verlorenes; es ist, als wäre Nói, der "weirdo", der schräge Vogel, zugleich der einzig wirkliche Mensch in diesem Nest. Als er Iris kennenlernt, die in der Tankstelle ihres Vaters aushilft, bekommen seine Fluchtphantasien Flügel, er versucht die örtliche Bank zu überfallen, geht zum Wahrsager, stiehlt ein amerikanisches Auto, aber das Mädchen, vom Stadtleben traumatisiert, will nicht mitkommen, der Wagen bleibt im Schnee stecken. Die einzige, die Nói versteht, ist die blinde Mutter Natur, sie macht seine Träume wahr, indem sie einen Albtraum entfesselt, einen kleinen isländischen Weltuntergang.
"Nói Albinói", von ZDF und Arte mitproduziert und aus mehreren deutschen und europäischen Fördertöpfen finanziert, ist das Kinodebüt des dreißigjährigen Dagur Kári, und das sieht man dem Film an. Er sagt alles zwei- und dreimal, auch wenn man es längst verstanden hat, und damit auch die Gymnasiallehrer im Publikum etwas zu beißen haben, zitiert er Kierkegaard. Aber das alles macht nichts, denn die Gesichter - Tómas Lemarquis als Nói, Elin Hánsdottir als Iris - und der Schauplatz der Geschichte haben eine Kraft, die den Film einfach immer weiterzieht, über alle poetischen Gewolltheiten hinweg. Selbst die penetranten Blau- und Grüntöne, in die Kári seine Einstellungen taucht, um ihnen das Anheimelnde zu nehmen, stören kaum. Um dieser blauen Hölle zu entkommen, träumt Nói in Guckkastenbildern von Hawaii. In Hawaii, soviel ist sicher, wird er von Island träumen.
ANDREAS KILB
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