Grund zur Panik.
Eine seltsame Familie ist das, die Axel Ranisch in seinem Film "Dicke Mädchen" präsentiert. Sven, ein älterer Junggeselle, schläft mit seiner Mutter in einem Bett. Abends tanzt er, wenn der Augenblick günstig ist, nackt zu Ravels "Bolero". Und Daniel, der eine eigene Familie hat, fügt sich ganz hervorragend in die spontanen Darbietungen, zu denen Sven und seine Mutter sich manchmal hinreißen lassen. Das Leben hat etwas Theatralisches, es wird getanzt, gespielt, gesungen, am Rande der Altersdemenz wird die Mutti noch einmal ganz jung, eine Performerin, von der manchmal nicht ganz klar ist, ob sie nicht vielleicht einfach der Schalk reitet, wenn sie sich in sich verliert.
Das Ernste heiter zu nehmen, das ist eine der höchsten Künste. Und man könnte sagen, dass Axel Ranisch sich dieser Kunst auf mehrfache Weise verschrieben hat. Denn in seinem Film geht es nicht nur um eine schräge Beziehungskiste mit einer Dame und zwei Herren, die sich auf eine komplizierte Konstellation einlassen. Es geht auch um eine Weise, dem richtigen Kino mit seinen plot points und production values einen Streich zu spielen. "Dicke Mädchen" wurde mit einer Mini-DV-Kamera gedreht und sieht aus wie bei Nachbars in der Wohnung mal schnell so hininszeniert. Der Soundtrack mit seinen wehmütigen Walzerklängen, aber auch einem nassforschen Reggae-Track, ist da fast noch das aufwendigste Ausstattunsgsdetail. Der Rest ist Berliner Plattenbaugemütlichkeit, und ein bisschen Seeufer, an dem sich prächtig von Australien träumen lässt.
Das Geheimnis dieses ganz offensichtlich unabhängigen Films liegt im Zusammenspiel dieser drei Menschen, die eine große Zärtlichkeit ausstrahlen gerade dort, wo sie eigentlich unbeholfen wirken. Für "Dicke Mädchen" wurde viel improvisiert, so steht zu lesen, und so meint man es den Bildern auch deutlich anzusehen. Mit den Rollenspielen mit Mutti, die etwa zur Hälfte des Films einen veritablen bunten Abend ergeben, werden die Grundlagen für eine Annäherung zwischen Sven und Daniel gelegt, in der aus dem Spiel dann ein gewisser Ernst werden kann. Denn wenn da plötzlich Gefühle bewusst werden, die davor im Alltag offensichtlich gut unter Kontrolle gehalten waren, dann kann einen das ganz schön in Schwierigkeiten bringen - es sei denn, man hat mögliche neue Identitäten schon mal geübt.
Nun kann ein Mann, der davor mit Frau und Kind gelebt hat, die Homosexualität nicht einfach anlegen wie einen Fummel. Doch Axel Ranisch will auch nicht sofort das große queere Schmerbauch-Melodram ausrufen. Er hält "Dicke Mädchen" sehr schön in einer Schwebe, in der zumindest für Sven zwischen Weinkrämpfen und Aufbruchsstimmung alles drin ist, während von Daniel eine Grundsatzentscheidung nicht verlangt werden kann. Das wäre einfach zu früh am Ende eines knapp fünf Viertelstunden langen Low-Budget-Films, den man sich gut als Serie (im Netz?) fortgesetzt vorstellen kann. Ob "Mutti" dann noch mitzumachen in der Lage ist? Das hängt sehr von der Phantasie der Beteiligten ab, und wenn man "Dicke Mädchen" als Anhaltspunkt nimmt, dann haben sie davon auf jeden Fall genug.
BERT REBHANDL
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